Nationalismus in der Friedensbewegung?

von Christine Schweitzer

Allein daß solch eine Frage gestellt wird, mag für manche in der Friedensbewegung schon ein Ärgernis darstellen. Nationalismus - ist das nicht eine Ideologie von Rechtsextremen oder etwas, was man bestenfalls noch für Teile der (rechten) SPD gelten läßt?

Zunächst muß geklärt werden, was unter Nationalismus verstanden werden kann. Die Definition von Eugen Lemberg, dessen Werk über den Nationalismus zu einem der Klassiker auf diesem Gebiet zählt, scheint mir da trotz ihrer etwas altertümlichen Formulierung immer noch brauchbar zu sein:

"Der Begriff des Nationalismus ist ( ... ) umstritten. Im volkstümlichen Sprachgebrauch wird als Nationalismus die leidenschaftliche und fanatische Hingabe an eine nationale Gemeinschaft (Nation, Staat, Volk oder ähnlich) bezeichnet, während die Wissenschaft, zumal im angelsächsischen Bereich, den Namen auch für die Normalform dieser Hingabe verwendet." (Eugen Lemberg, Nationalismus Bd.11, Reinbek b Hamburg 1964, S.149).

Im Folgenden soll Nationalismus in dieser breiten Form verstanden und zum Schluß dieses Textes die Frage aufgegriffen werden, was denn an all dem 'eigentlich so schlimm' ist. Zunächst aber zu den drei Erscheinungsbildern in der Friedensbewegung:

Die historische Mission der Deutschen
Dieses Thema reicht bis in die Anfänge der Friedensbewegung zurück. In das Entsetzen über die Möglichkeit eines Atomkrieges und die Politik, die direkt auf ihn zuzusteuern schien (NATO-Doppelbeschluß), mischten sich von Anfang an nationale Töne:

Viele in der Friedenbewegung bezogen ihre Betroffenheit weniger aus dem Grauen eines möglichen Krieges als solchen denn daher, daß dieser auf "deutschem Boden" ausgetragen werden sollte. "Deutschland" (wobei immer die DDR mitgemeint war) sollte zum Schießplatz der Großmächte werden, war da zu lesen. Besonderer Skandal: Daß viele der in der BRD stationierten Raketen in der DDR (statt in Polen oder der Sowjetunion???) explodieren sollen. Angesichts der - allen bekannten - Tatsache, daß ein Atomkrieg alle mitteleuropäischen Staaten gleichermaßen betreffen würde, kann nur gefolgert werden, daß deutsche Leben offensichtlich mehr zählen als die anderer Völker.

Auch die Opferrolle als solche muß hinterfragt werden. Zweimal allein in diesem Jahrhundert waren die Deutschen nicht die Opfer, sondern die Angreifer. Wäre dies in einem dritten Weltkrieg wirklich anders? Die BRD ist nicht eine hilflose Schachfigur in den Händen der USA, wie sie manche gerne sehen. Sie ist (genau wie es die DDR in ihrem Bündnis war) eine der aktivsten Partner in der NATO. Es war und ist die eigene Regierung, nicht die anderer Staaten, die bereit sind, ihr Volk zu opfern. Und dieses Volk in seiner überwiegenden Mehrheit unterstützt sie bis heute in dieser selbstmörderischen Politik.

Ein drittes Sujet der Friedensbewegung ist das Argument, daß die Deutschen aufgrund ihrer Geschichte eine besondere Verantwortung für den Frieden trügen. Nun ist diese Sichtweise nicht automatisch des Nationalismus verdächtig, wie manche Autoren meinen. Aber aus dem Wissen um die Schuld wird nur sehr leicht eine "historische Heilsmission" (Wolfgang Pohrt, Lebensschutz und Nationalpolitik, in: Frieden, Hrsg. ISF, Freiburg 1984). Die Deutschen wieder einmal vorneweg, diesmal für den Frieden? Schon zweimal haben die sozialen Bewegungen in Deutschland kläglich versagt, als es um die Verhinderung von Krieg und Faschismus ging. Mit dieser Geschichte vor Augen sollte man sehr vorsichtig sein, sich selber eine besondere Rolle im Bemühen um Abrüstung und Frieden zuzusprechen.

AusländerInnen rein, AussiedlerInnen raus?

Seltsame Töne waren in linken Kreisen zu hören, als 1989 die Scharen der Aus- und ÜbersiedlerInnen in die BRD kamen. "Das sind ja nur Wirtschaftsflüchtlinge", ''Grenzen zumachen", und "rauswerfen" klang es dort, wo kurz zuvor über die Ausländerfeindlichkeit der Rechten gewettert wurde. Man sah (und sieht) in den ÜbersiedlerInnen allein CDU- und Reps-WählerInnen und sprach ihnen genau das ab, was man bei Menschen anderer Nationen bejahte: Das Recht, in der BRD, einem der reichsten Länder der Erde, zu leben, weil es hier wirtschaftlich besser ist als in der Heimat. Nicht nur haben diese Parolen unheimliche Ähnlichkeiten zu denen der Rechten und drücken die gleichen Gefühle von Fremdenfeindlichkeit aus (nur die Objekte sind andere ), sie werfen auch die Frage auf, wie ernst es jenen StammtischschwätzerInnen mit der multikulturellen Gesellschaft, die vor allem anderen ja wohl ein großes Maß an Toleranz braucht, eigentlich ist.

Die Öffnung der deutschen Frage

Bis vor einem Jahr noch war es selbstverständliches Credo der überwiegenden Mehrheit in der Friedensbewegung, die Unabhängigkeit der DDR und die deutsche Zweistaatlichkeit zu bejahen. Es wurde gefordert, die "längst überholte" Präambel aus dem Grundgesetz zu streichen; Gesamtdeutschland schien immer mehr zur Domäne der Ultrarechten zu werden. Da erreichte die Reformwelle die DDR, die Ereignisse überstürzten und die Grenzen öffneten sich und plötzlich sind die Worte ''Vertragsgemeinschaft'' und "Wiedervereinigung" – Hoffnung für die einen, Albtraum für die anderen, in aller Munde.

Der sowieso schwer an Kräfteschwund leidende Patient Friedensbewegung scheint Ende 1989 zusätzlich noch einen Schock erlitten zu haben. In der Stunde der deutschen Wahrheit sahen die meisten nicht gut aus: Gesamtdeutsche Initiativen und Begegnungstreffen sprießen wie Pilze aus dem Boden. Kaum eine Organisation, die nicht das Thema ''Partnerschaft mit Gruppen aus der DDR" auf ihre Fahne geschrieben hat oder die nicht Gelder zur Unterstützung von Oppositionsgruppen in der DDR sammelt. Zugegeben: Im Unterschied zu den etablierten Parteien gibt kaum jemand aus der Friedensbewegung, der in der BRD solche Initiativen startet, derzeit zu, daß er damit einen Beitrag für die Wiedervereinigung leisten wolle. Ja es hat auch schon (z.B. anläßlich des Kohlbesuchs in der DDR im Dezember '89) Demos und Aktionen gegeben, die sich gegen die Bestrebungen zur Wiedervereinigung richteten. Aber es ist kaum zu verkennen, daß es Gruppen gibt, die gegen ein Deutschland nichts einzuwenden hätten.

Ich möchte den Vorwurf an dieser Stelle aber noch ausdehnen: Es ist immer richtiger, Menschen an dem zu messen, was sie tun, statt an dem, was sie sagen. Alle bilateralen deutschdeutschen Initiativen, sofern sie nicht explizit mit dem Ziel, ein neues (Groß)Deutschland oder die Einmischung der BRD in die DDR zu verhindern, ins Leben gerufen werden, müssen sich die Frage gefallen lassen, ob sie nicht de facto auch ihren Beitrag zur deutschen Einheit leisten. Die deutsch-deutsche Euphorie kann nicht durch Lippenbekenntnisse weggeredet werden. Ob die entsprechenden Initiativen der DDR einen Sonderstatus zumessen, läßt sich ganz einfach überprüfen: Man braucht sich nur überlegen, ob die entsprechende Initiative genauso mit einem anderen Land (man nehme z.B. Belgien) vorstellbar wäre und, falls dies bejaht werden kann, (was es in vielen Fällen nicht kann), warum es nicht schon längst gemacht wurde.

Selbstverständlich führen gemeinsame Initiativen nicht automatisch zur Wiedervereinigung. Aber in einer Zeit, wo alles auf sie zuzulaufen scheint, ist es Blindheit größten Ausmaßes, nicht zu erkennen, daß alle diese Initiativen mit dem Strom "Wiedervereinigung" statt gegen ihn schwimmen.

Was ist denn an all dem eigentlich so schlimm?

Die Frage drängt sich dem vielleicht automatisch auf, der die vorhergehenden Zeilen gelesen hat. Ist an Nationalismus nicht nur seine übersteigerte Form gefährlich, die Abwertung anderer Nationen, Fremdenhaß und Expansionsdrang? Und sind diese Gefahren nicht angesichts der westeuropäischen Einigung längst gebannt, eine Sache der Vergangenheit? Hat nicht der Kapitalismus, der einst dem Nationalismus zum Aufblühen verhalf, inzwischen dafür gesorgt, daß nationale Grenzen und Identitäten irrelevant sind?

Es wurde behauptet, daß es in der Linken versteckten Nationalismus in mehreren Erscheinungsformen gibt:

  • als versteckter nationaler Größenwahn,
  • als versteckte Fremdenfeindlichkeit und
  • als verstecktes Betreiben von Wiedervereinigung.

Nationalismus tendiert immer dazu, mehr zu sein als die Beschreibung von ethnischer Identität, die selbstverständlich jeder Mensch neben anderen Identitäten (Alter, Geschlecht, Religion, politische Orientierung usw.) hat. Er neigt dazu (ob das so sein muß, braucht hier gar nicht gefragt zu werden), aggressive Formen anzunehmen. An den Beispielen der Ausländerfeindlichkeit und der Debatte um die polnische Westgrenze erleben wir es derzeit im eigenen Land. Voraussichtliche Opfer des heutigen Nationalismus werden wohl weniger andere Staaten sein; auch Polen wird seine Grenze wohl noch, vielleicht im internationalen Tauschhandel für die Wiedervereinigung, garantiert bekommen, sofern es deutschen Nationalisten nicht gelingt, deutsche Minderheiten in Polen selbst zum Aufstand zu bewegen. Erstes Opfer von Nationalismus sind die ethnischen und religiösen Minderheiten im eigenen Lande, die als nicht-deutsch diskriminiert oder ganz einfach ausgewiesen werden.

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.