Neue Mauern braucht die Welt

von Werner Rätz

Um Selbstbestimmung also soll es gehen in Jugoslawien.

Es wundert mich nicht, daß niemand eine Äußerung Rosa Luxemburgs zum Thema heranzieht, weil der Sozialismus ja nun völlig aus der Mode gekommen ist. Trotzdem: „...wenn die Londoner Re­solution (des Internationalen Gewerkschaftskongresses von 1896 - W.R.) von einem Selbstbestimmungsrecht aller unterdrückten Nationen spricht, so hatte sie im Auge das Recht der Selbstbestimmung in der sozialistischen Gesellschaft, nicht aber die Schaffung eines neuen Klassenstaates“ (Rede beim SPD-Parteitag 1903).

Lassen wir den Sozialismus beiseite und schauen nur mal so genauer hin: Wer sind die Handelnden in dieser Selbstbestimmung und zu welchem konkreten Zweck soll sie dienen? Daß all diejenigen als prinzipielle VertreterInnen von Selbstbestimmungsrechten ausscheiden, für die Nordirland, Baskenland oder Korsika lediglich Terrorismusprobleme sind, versteht sich von selbst. Auch die kroatischen Nationalisten, die direkt an ihren ehemaligen faschistischen Staat anknüpfen, sind zwielichtige Verbündete.

TrägerInnen der Unabhängigkeitsbestrebungen in Jugoslawien sind die albanischen, slowenischen und kroatischen Volksgruppen. Im Kosovo gibt es offenbar materielle, kulturelle und rassische Unterdrückung der AlbanerInnen durch Serbien, so daß deren Interessen unmittelbar nachvollziehbar sind.

Serbische Kolonisierung in Kroatien oder Slowenien liegt aber nicht an. Von den Lebensbedingungen her handelt es sich auch nicht um benachteiligte, sondern um die relativ wohlhabendsten Regionen des Landes. Hier kämpfen also nicht unterdrückte Nationen um ihre Freiheit, sondern Privilegierte versuchen, lästige Mitesser abzuschütteln. Vom Sozialismus, also der Beseitigung der Klassenherrschaft, wollten wir ja nicht reden. Aber erweiterte politische Rechte und Möglichkeiten für die nicht an der Macht Beteiligten, gerechtere so­ziale Verhältnisse, ökologischere Politik (z.B. durch Stillegung des AKW in Slowenien) oder irgendeinen beliebig anderen fortschrittlichen oder emanzipatorischen Inhalt sucht Mensch vergeblich.

Es kommt nicht von ungefähr, daß es gerade jetzt eine solche Zuspitzung des Konflikts gibt. Seit eindeutig feststeht, daß das sich selbst als sozialistisch verstehendes Modell keine politische und v.a. wirtschaftliche Perspektive mehr hat, gibt es in dessen ehemaligem Gebiet einen Wettlauf um den Anschluß an den kapitalistischen Markt, d.h. konkret die EG. Der geplante Binnenmarkt verstärkt diese Dynamik dramatisch.

Es werden neue Mauern gezogen, die arm und reich trennen.
Nur so ist die Haltung Sloweniens und Kroatiens plausibel: als relativ industriealisierte Regionen rechnen sie sich Chancen aus, auf der reichen Seite dieser Mauern zu landen. Diese Chancen sinken ihrer Meinung nach ins Nichts, wenn die ärmeren Teile Jugoslawiens da noch dranhängen. Sie tun also kollektiv genau das, was diejenigen individuell tun, die hier „Wirtschaftsflüchtlinge“ genannt werden. Der Unterschied ist nur der, daß die Individuen früheren Nachbarn nicht schaden, der Rest Jugoslawiens aber bewußt und gewollt auf die arme Seite der Mauern gestellt werden soll. Daß von dort dagegen Widerstand mit allen Mitteln (die hier nicht verteidigt werden sollen) geleistet wird, kann nicht überraschen.

Zur Problematik „Jugoslawien und das Selbstbestimmungsrecht“ stellen wir zwei Beiträge zur Diskussion, die unabhängig von einander entstanden sind und die sich deshalb nicht direkt auf einander beziehen.

Es kann natürlich auch keine Lösung sein, die Einheit Jugoslawiens gewaltsam zu erhalten. Menschen können nicht zum Frieden gezwungen werden. Aber es ist unredlich, zwar verständliche, aber dennoch rein egoistische Anliegen mit hehren („Selbstbestimmung“) oder leeren („Desintegrationsprozesse“) Worten zu verschleiern. Es sollte Klarheit über Motive und Interessen herrschen. Deren simple Formel ist: Raus aus Jugoslawien und rein in die EG.

Leider ist in großen Teilen der Bewegung der Blick auf die realen Bedingungen längst hinter der scheinbar moralischen Beurteilung der Methoden zurückgetreten. Wie aber der Zweck nicht die Mittel heiligt, so heiligt auch nicht das oberflächlich saubere Mittel den schmutzigen Zweck: Es wird nicht nur übersehen, daß „Selbstbestimmung“ in diesem Fall das Wort für nacktes Elend von Hundertausenden ist. Es steht zu befürchten, daß die „gewaltfreie“ EG (die die eigentliche Ursache des Ganzen ist) und Bundesregierung nunmehr beenden, was der Golfkrieg begonnen hat: die Zu­stimmung der Friedensbewegung zur imperialistischen Politik.

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Hintergrund
Werner Rätz ist aktiv bei der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn und für diese im Koordinierungskreis von Attac Deutschland, ebenfalls im Blockupy-Kokreis. Webseite: www.werner-raetz.de