Prozeßbeobachtung

von Hubertus JanssenGisela Wiese

Frau Gisela Wiese und Pfarrer Hubertus Janssen haben in der Zeit vom 24. Mai 1993 (Prozeßeröffnung) bis 18 Oktober 1993 (Urteilsverkündung) den Prozeß gegen Ingrid Jakobsmeier beobachtet.

Vorab sei darauf hingewiesen, daß der am 24. Mai 1993 in Stuttgart-Stammheim eröffnete, erneute Prozeß gegen Frau Jakobsmeier auf einer Kronzeugenaussage basiert. Die zur Zeit noch geltende Kronzeugenregelung wird in Fachkreisen als äußerst fragwürdig bewertet. Im Jahr 1986 wurde Frau Jakobsmeier wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu neun Jahren Haft verurteilt. Am 24. Oktober l993 hätte sie aus der Haft entlassen werden sollen.

Mit einer Stunde Verspätung begann am 24. Mai der erste Verhandlungstag. Grund der Verspätung war die Einlaß- und Durchsuchungsprozedur, die alle Besucher über sich ergehen lassen mußten. An manchen Tagen, wie z.B, am 6. Juli, hat dieses Vorgehen bei uns unweigerlich den Eindruck geweckt, daß möglichst wenige Besucher zugelassen werden sollten. Grund der Verzögerungstaktik an diesem Tag war wohl die Ladung der Zeugen Brigitte Mohnhaupt, Adelheid Schulz, Christian Klar und Helmut Pohl. Außer Christian Klar besaßen alle ein Aussageverweigerungsrecht, wovon sie auch Gebrauch gemacht haben. Wegen seiner Verweigerung sollte Christian Klar mit einem Ordnungsgeld von 1.000;- DM bestraft werden. In einem bereits schriftlich vorgefertigten Urteil bekam er dann die Prozeßkosten sowie ein Ordnungsgeld von 800,- DM auferlegt, wobei der Vors. Richter Kurt Breucker erläuterte, daß "die wirtschaftliche Situation des Verurteilten berücksichtigt wurde". Die Verteidigung monierte das vorabgefertigte Urteil, was den Vors. Richter zu der Bemerkung veranlaßte: "Wie das Gericht seine Beschlüsse faßt, überlassen sie dem Gericht". Als Begründung gab er an: ''Es ist auszurechnen, was die Zeugen sagen werden". Was an diesem Verhandlungstag dargestellt wurde empfanden wir als Prozeßbeobachter als eine "zelebrierte Demütigung", worüber wir uns nur "schämen können". Solche Vorgänge können nur dazu dienen, einer neuen Gewaltbereitschaft Nahrung zu geben. Beim Prozeßbeginn hatte die Verteidigung Einstellungsanträge gestellt, in denen die Eröffnung des Prozesses grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Dabei ging es auch um die Kronzeugenaussagen, die in diesem Prozeß ein Grundpfeiler sein sollten. Die Frage nach deren Wahrheitsgehalt braucht hier nicht diskutiert zu werden, sie liegt auf der Hand. Am 31.8. war der Kronzeuge Henning Beet geladen. Er wurde als "wichtigster Zeuge“ angekündigt. Im Grunde hat er nur bestätigt, daß Frau Jakobsmeier ein Mitglied der RAF war und hinter deren politischen Zielen gestanden hat. Dafür wurde sie allerdings bereits im Jahre 1986 verurteilt und hat neun Jahre Freiheitsstrafe verbüßt. Die Kronzeugenbefragung hat den Nachweis einer direkten Tatbeteiligung nicht erbracht. Nach mehr als 20 Verhandlungstagen wurde am 18. Oktober 1993 Ingrid Jakobsmeier "Im Namen des Volkes" zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren, die höchste Zeitstrafe die überhaupt. ausgesprochen werden kann, verurteilt.

Auf den ersten Blick könnte man meinen: Die "Justitia" hat ausgewogen geurteilt, hat ein "gerechtes" Urteil gesprochen. Aber auch nur auf einen ersten, äußerst flüchtigen Blick. Bei näherer Betrachtung stellen wir fest, daß Frau Jakobsmeier zum zweiten Mal für das gleiche Vergehen bestraft wurde. Die Verteidigung hatte auf Freispruch plädiert. Bei der Urteilsbegründung wies der Vors. Richter Breucker auf unseren demokratischen Rechtsstaat hin und versuchte, die höchstmögliche Zeitstrafe von 15 Jahren als ein mildes Urteil darzustellen. Er sagte in der Urteilsbegründung, das Gericht habe nicht auf lebenslange Strafhaft geurteilt; weil sich Ingrid Jakobsmeier vom bewaffneten Kampf losgesagt habe. Er empfahl anderen RAF-Mitgliedern, diesem Beispiel zu folgen. Es bestünde dann begründete Hoffnung auf ein Ende der Gewalt. Durch das "milde" Urteil wolle der Senat dazu ermuntern. Die. äußerst dürftige Beweislage und die Tatsache einer zweite Verurteilung für die gleiche Tat zwingt uns zu der Frage: Wie ernst ist es der Justiz mit dem demokratischen Rechtsstaat? Demokratie ist die einzige Form staatlichen Zusammenlebens, die die Menschenwürde sichert. Aus dieser Überzeugung heraus wurde mit den Grundgesetz der Rechtsstaat geschaffen.

In diesem Grundgesetz wurde festgeschrieben, daß die Würde des Menschen unantastbar ist. In seiner beachtlichen Rede zur Eröffnung des 56. Deutschen Juristentages in Berlin am 9. September 1986 sagte Bundespräsident von Weizsäcker u.a.: "Leben und Zusammenleben in Freiheit zu ermöglichen ist die Aufgabe der Verfassung. Ihr Ziel ist nicht, zu gängeln und zu vereinheitlichen. Das Lebenserhaltende ist die Vielfalt. Den höchsten Wert erreicht die Rechtsprechung dann, wenn sie dem Bürger als Palladium seiner Freiheit erfahrbar ist". Und weiter: "Prognosen für das Verhalten des Täters in Freiheit und Zukunft sind immer gewagt. Aber sind denn verbindliche Urteile über vergangenes Verhalten wirklich immer frei von Fehleinschätzungen? In dubio pro reo - auch darin liegt ein Wagnis für die Gesellschaft ... Jede, auch die, deren Taten die Gesellschaft besonders zu fürchten gelernt hat, hat die Chance auf neue Einsicht und den Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit und unsere Hilfe. Das gilt im Übrigen auch für terroristische Straftäter". In dubio pro reo. Freispruch für Ingrid Jakobsmeier wäre ein Ausdruck der Gerechtigkeit gewesen.

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Hubertus Janssen ist Vorstandsmitglied im Komitee für Grundrechte und Demokratie.