NATO strebt zu neuen Ufern:

Reorganisation heißt die Devise

von Volker Böge

 

Wer die Hoffnung hegte, daß mit den weitgehenden Reformprozessen in der UdSSR und den tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzungen in Osteu­ropa sowie mit den damit verbundenen außenpolitischen Verände­rungen - faktische Auflösung der WVO, umfassende einsei­tige Abrüstung der UdSSR und der osteuropäischen Staaten - eine Aufhebung des Blocksystems und die Schaffung einer von Blöcken, Konfrontationspolitik und Feindbildern freien neuen europäischen Friedensordnung realisierbar würde, muß sich bitter enttäuscht sehen. Denn zwar ist der "Ostblock" zerfallen, der "Westblock" allerdings steht stärker da als je zuvor und denkt nicht daran, das Verschwinden des einstigen Gegners als Anlaß auch der eigenen Auflösung zu nehmen. Vielmehr ist die NATO dabei, ihre Positionen auszubauen und sich den veränderten internationalen Rahmenbedingungen anzupassen. Nicht Selbstliquidation, son­dern Re­organisation steht auf der Tagesordnung etablierter NATO-Politik.

Das vereinte Deutschland wird Voll­mitglied der NATO sein. Selbst die Einbeziehung des (heute noch) DDR-Territoriums in die militärischen NATO-Strukturen  wird nur für drei bis vier Jahre aufgeschoben - solange nämlich, bis die sowjetischen Truppen von dort vollständig abgezogen sind (so die öbereinkunft Kohls mit Gor­batschow in Moskau am 16.7.1990); und bereits vorher, "sofort nach der Einigung Deutschlands" werden nicht-NATO-integrierte Ver­bände der Bun­deswehr auf dem Gebiet der heutigen DDR und in Berlin stationiert werden (eben­falls laut öbereinkunft Kohl-Gor­batschow)- diese Verbände sind selbstverständlich als Streitkräfte eines NATO-Staats auch voll an NATO-Planungen angepaßt. Eine Ausdeh­nung der NATO auf andere ehemalige WVO-Staaten scheint nicht ausge­schlossen..

Wenn sich die NATO jetzt als quasi "na­türliches" neues "europäisches Si­cherheitssystem" (unter Ausschluß der UdSSR) präsentiert, wird damit le­diglich die Ausdehnung der militärischen Einflußsphäre des Westens nach Osten kaschiert. Der KSZE, die tatsächlich Kern und Ausgangsbasis für die Schaffung eines gesamteuropäi­schen Systems Kollektiver Sicherheit sein könnte, wird dagegen von der NATO allenfalls eine nachgeordnete komplementäre Rolle zu­gebilligt, das NATO-Establishment will eine nach wie vor möglichst schwache KSZE als "Er­gänzung" einer starken NATO.

Diese NATO wird auch weiterhin mi­litärisch abgestützte Machtpolitik be­treiben, Bedro­hungen (oder wie es jetzt vornehmer heißt: Risiken), gegen die militärische Vorsorge getrof­fen werden muß, bleiben aus Sicht des NATO-Establishments weiter beste­hen, neue Legitima­tionen für die For­texistenz des Militärpakts werden zu­rechtgezimmert und im öffentlichen Bewußtsein verankert:

  • die UdSSR wird weiterhin als Risi­kofaktor dargestellt, und zwar mit un­terschiedlichen Begründungen: einmal als militärische Großmacht, die sie aufgrund ihres Nuklearstatus und der zahlenmäßigen Größe ihrer Streit­kräfte nun einmal nach wie vor sei; zum anderen als in­stabiles Gebilde, das aufgrund innerer Widersprüche auseinanderzubrechen droht, was neue Gefahren heraufbeschwöre;
  • Instabilitäten in Ost- und Südosteu­ropa aufgrund von Nationalitäten- u.a. Konflikten mit unkalkulierbarem ge­waltträchtigen Potential würden ebenfalls zu neuen Risikoquellen für den Westen werden;
  • schließlich - und künftig sicher vor­rangig - erwachsen angeblich neue Be­drohungen aus dem Süden, gegen die man militärisch gewappnet sein müsse. Stichworte, die in diesem Zu­sammenhang in jüngster Zeit immer wieder fallen, sind: islamischer Fun­damentalismus, Gad­dafi u.a. "verrük­kte" Diktatoren aus der Dritten Welt, Drogen, Terrorismus, umfas­sende Mi­grationsbewegungen von Süd nach Nord. Es zeichnet sich ab, daß die bis­herige Südflanke der NATO zur neuen Zentralfront in der Nord-Süd-Ausein­andersetzung wird. Nur ein In­diz da­für: im Mai dieses Jahres wurde erst­mals im Mittelmeerraum ein NATO-Großmanöver (Dragon Ham­mer) durchgeführt, bei dem der An­greifer nicht aus dem Osten, son­dern aus dem Süden kam. Die Regio­nen out-of-area (= außerhalb des NATO-Vertragsge­biets) in der Drit­ten Welt werden künftig für die NATO immer wichtiger. Das führende euro­päische NATO-Mit­glied BRD ver­stärkt seit geraumer Zeit sein Enga­gement an der Süd­flanke (Beispiel: ständige Prä­senz von Einheiten der Bundesmarine im Mit­telmeer), und Lothar Rühl stellt be­reits " für Deutschland... auch die Frage nach ei­ner Mitwirkung an der Verteidigung Europas  in Rich­tung Süden zum Mittelmeer hin, insbeson­dere mit See- und Luftstreitkräften" (Die Welt, 29.6.1990:"Die NATO muß sich von Grund auf reorganisieren").

Der veränderten Lage wird die NATO ihre posture (ihre Streitkräfte, Dok­trin usw.) an­passen. Das kann auch heißen: Reduzierung von mittlerweile dys­funktionalen Potentialen  an der ehe­maligen Zentralfront zugunsten des Aufbaus kleinerer hochmobiler  feuer­kräftiger Verbände als flexibel ein­setzbare Instrumente für "Eventualfälle" verschiedenster Art an ver­schiedensten Orten (Schnelle Ein­greiftruppen für out-of-area-Einsätze, Einheiten für "Konflikte niedriger In­tensität",...); in der "Londoner Erklä­rung" des NATO-Gipfels vom 6.7.1990 heißt es : "Das Bündnis wird über klei­nere und umstrukturierte aktive Streitkräfte verfügen. Diese Streit­kräfte werden hochmobil und anpas­sungsfähig sein, so daß den Verant­wortlichen der Allianz bei der Ent­scheidung über die Reaktion auf eine Krise  ein Höchstmaß an Flexibilität gegeben ist". Und das wird ferner be­deuten: Veränderung der Militärstra­tegie, insbesondere Aufgabe der "Vorneverteidigung", stattdessen Ein­satzplanungen nach dem Motto: "öberall ist vorn". Eine solche Verän­derung wird ebenfalls in der "Londoner Erklä­rung" angekündigt, wobei auf die Fähigkeit zur nuklearen Abschreckung inklusive Drohung mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen kei­neswegs verzichtet werden soll.

Schließlich - und perspektivisch poli­tisch am wichtigsten - wird auch das transatlantische Verhältnis im Rah­men der NATO reorganisiert werden. Die seit Jahren beschworene "Stärkung des europäischen Pfeilers der atlanti­schen Allianz" und die Herstellung der "Gleichgewichtigkeit" und "Gleichbe­rech­ti­gung"  der nordameri­kanischen und der europäi­schen Bündnis-Kom­ponente wird nunmehr wohl realisiert werden. Die NATO wird sich als "Institution der Abglei­chung von In­teressen über den Atlan­tik hin" An­dreas Buro: Schlängelt sich die BoA zum Kern der Probleme ?, in: Frie­densforum 3/1990, S.37) rekon­struieren.

 

Der "europäische Pfeiler" soll die Ge­stalt einer relativ eigenständigen Eu­ropäischen Ver­teidigungsunion be­kommen, womit die Europäischen Ge­mein­schaften dann auch sicher­heits- und militärpolitisch komplettiert wür­den. Es ist erklärte Politik der EG-Staaten, daß die For­tentwicklung der EG zur Politischen Europäischen Union  eine sicherheitspolitische Dimen­sion bekommen soll ("Londoner Erklärung": "Entwicklung der Europäi­schen Gemeinschaft zu ei­ner politi­schen Union, einschließlich des Ent­stehens einer europäischen Identität im Bereich der Sicherheit"). Für eine öbergangsphase bietet sich die WEU an, deren Parlamentarische Ver­sammlung jüngst - auf ihrer letzten Tagung im Juli - erklärte, daß die WEU eine "europäische Dimension der Verteidigung" vorbereiten müsse, "bis die Verpflichtungen, die sie wahr­nimmt, in eine europäische Union in­tegriert" würden. (öbrigens: auch im Militärpakt WEU wird das vereinte Deutschland Vollmitglied sein).  Die­ser Kurs entspricht den Politiken der wichtigsten westeuropäischen Staaten, die alle, wenn auch z.T. aus unter­schiedlichen Moti­ven und Interessen­lagen heraus - eine Europäisierung der Sicherheitspolitik betreiben.

Kurz: Eine von den USA relativ unab­hängige Militärgroßmacht (West-) Eu­ropa - unter deutscher Führung - er­scheint am Horizont der Weltpolitik. Ein solches Resultat hatten die Frie­densbewegungen nicht im Sinn, als sie für die "öberwindung der Blockkon­frontation" strit­ten. Nun ist zwar die Blockkonfrontation in Europa über­wunden, weil der eine Block zusam­mengebrochen ist, aber tatsächlichem Frieden sind wir dadurch nicht näher gekommen. Die Friedensbewegung wird sich auf neue Aufgaben einstellen müssen. 

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