Dokumentation

Staat der Stämme

von Peter Heine

Rechtssicherheit hat im Irak nur das Stammeswesen garantiert. Dieser Tribalismus ist nicht leicht zu beseitigen - jedes Nachkriegsregime muss sich auf ihn einstellen.

Angesichts der Bilder von Plünderungen in Bagdad oder Mossul stellt sich die Frage, was sich die Planer der Verbündeten wohl vorgestellt haben, wie sich die öffentliche Sicherheit nach dem Zusammenbruch des Regimes von Saddam Hussein entwickeln würde. Die Feststellung eines britischen Generals, dass man derartige Formen von öffentlicher Unordnung nicht erwartet habe, ist ein Armutszeugnis für all die Spezialisten, die den Krieg und den folgenden Frieden vorbereitet haben. Nun die Polizisten des Regimes aus ihrem Versteck zu bitten, erinnert an die Politik der Besatzungsmächte in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, die die alten Eliten zu großen Teilen in ihren Ämtern beließen. Wenn die Planungen der Verbündeten für den Irak in diesem eher technischen Bereich so unzureichend sind, kann man für die weit komplizierteren Fragen der politischen Zukunft des Landes an Euphrat und Tigris nur das Schlimmste erwarten. Denn die politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen sind kompliziert.

Über die ethnischen und religiösen Unterschiede und die daraus resultierenden Antagonismen ist in den vergangenen Tagen viel gesagt worden. Die Feststellungen beruhten auf wenigen Beobachtungen historischer Vorgänge im Irak bis 1990. Der Irak hat trotz seiner strategischen und wirtschaftlichen Bedeutung nie im Zentrum der entsprechenden Regionalstudien gestanden. Wie sich das politische System nach 1990 entwickelt hat, ist von westlichen Beobachtern weitgehend ignoriert worden. Man konzentrierte sich lediglich auf den engeren Machtzirkel um Saddam Hussein und verfolgte aufmerksam die Einbeziehung seiner Familie und seines Stammes in die Institutionen des Staates, in denen die wichtigen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen getroffen wurden. Diese Retribalisierung der politischen Entscheidungsgremien wurde aber durch eine wenig beachtete parallele Entwicklung innerhalb der gesamten gesellschaftlichen Strukturen ergänzt. Zur Verblüffung des Regimes hatten sich einige schiitische Stämme des Südirak während des Kriegs mit dem Iran (1980-1988) bewaffnet und gegen die iranischen Truppen gekämpft. Das Regime erkannte in diesem Vorgang eine Möglichkeit, Loyalitäten zu generieren und seine Position zu stärken. Plötzlich wurde die Stammeszugehörigkeit zu einem Moment für Sozialstatus der einzelnen Iraker und ihrer Familien, und Saddam Hussein fragte die Soldaten bei seinen seltenen Frontbesuchen stets, von welchem Stamm sie kämen. Wie in der Zeit der Monarchie vor 1958 legte das Regime nun plötzlich Wert darauf, von den Stammesführern an islamischen Feiertagen oder Präsidentengeburtstagen Ergebenheitsadressen zu erhalten. Es kam zu regelrechten Massenzeremonien, bei denen die Stammesscheichs dem Präsidenten ihre Loyalität und die ihrer Stammesangehörigen dokumentierten, indem sie den Iqal, die kreisrunde, gewundene Schnur, die das Kopftuch der Beduinen festhält, ablegten. Saddam Hussein erklärte sich seinerseits den Stämmen gegenüber loyal. Natürlich kam es immer wieder zu Strafaktionen gegen einzelne Stammesgruppen. In der Regel wurde dann erklärt, dies sei gegen den Willen des Präsidenten geschehen, nach dem Prinzip: Wenn das der Führer wüsste.

Für die gegenwärtige Situation und die Zukunft des Landes von größerer Bedeutung ist aber die Tatsache, dass verschiedene irakische Stämme in den 90er-Jahren untereinander Abkommen geschlossen hatten, in denen sie für die verschiedensten Formen von Konflikten zwischen den Angehörigen verschiedener Stämme Lösungsregelungen verabredeten. Festgelegt wurde etwa die Höhe einer Kompensation bei Schlägereien. Dies galt auch für die in den großen Städten des Landes lebenden Stammesangehörigen. In einer Gesellschaft, in der keine Rechtssicherheit herrscht, sind derartige Vereinbarungen für Individuen und Kleinfamilien von großer Bedeutung, weil sie ein gewisses Maß an Sicherheit bieten.

Man konnte den Irak lange als das modernste Land des Nahen Ostens bezeichnen. Hier waren die ersten modernen Ideologien entwickelt worden wie der arabische Nationalismus, und in den 50er- und frühen 60er-Jahren spielte die Irakische Kommunistische Partei eine bedeutende Rolle. Auch die konsequente Säkularisierungspolitik der Baath-Partei nach 1968 hatte zur Modernisierung der Gesellschaft beigetragen. Der Irak hatte einen hohen Anteil an Akademikern. Bis 1990 hatte sich ein breiter Mittelstand entwickelt, der sich allerdings infolge des UN-Embargos von 1990 bis heute mehr oder weniger aufgelöst hat. Auch den Angehörigen dieser neuen Eliten blieb nichts anderes übrig, als sich in diese neu erstarkten tribalen Strukturen einzubringen. Die allgemeine Unsicherheit nach Saddam Hussein wird diese Strukturen verfestigen. Sie wieder aufzulösen wird nicht einfach sein.

Jeder Neuaufbau politischer Strukturen im Irak wird das tribale Moment in Rechnung zu stellen haben. Daher werden all die politischen Kräfte, die aus dem Exil kommend solche Vernetzungen nicht haben, wohl kaum eine besondere Bedeutung erlangen. Dies lässt sich schon an der Ermordung von Ajatollah Abd al-Madschid al-Choi, der aus dem Londoner Exil in den Irak gekommen war, in der vergangenen Woche in Nadschaf erkennen. Auch ihm, wie vielen anderen Exilpolitikern, war im Übrigen vorgeworfen worden, er habe zu enge Kontakte zu Amerikanern und Briten gepflegt. Wenn schon ein hochrangiger schiitischer religiöser Führer in einer der heiligsten Städte der Schiiten seines Lebens nicht sicher ist, werden Exilpolitiker mit einem angeschlagenen Ruf, wie der Vorsitzende des Iraqi National Congress, Ahmed al-Chalabi, wohl kaum auf die Loyalität der Mehrheit der irakischen Bevölkerung rechnen können. Realistischerweise muss man davon ausgehen, dass die Invasoren zunächst eine Militäradministration implementieren werden. Diese wird sich, entgegen deren Erwartungen, einem ständigen offenen oder versteckten Widerstand der Bevölkerung gegenübersehen. Die Einbeziehung von Exilpolitikern wird diese negative Haltung nur verstärken. Da der Irak von größerer strategischer und ökonomischer Bedeutung als Somalia oder Afghanistan ist, wird die Militärregierung unter US-Führung wohl etwas länger als ein Jahr im Land bleiben. Dieser Einsatz wird aber mit beträchtlichen Kosten verbunden sein, und der nächste Präsidentenwahlkampf in den USA steht bevor. Auf größere positive Resonanz träfe wohl eine irakische Administration von Technokraten, die sich auf eine UN-Truppe stützen könnte. Nahe läge es, wenn diese Blauhelm-Kräfte sich aus den Armeen arabischer oder muslimischer Staaten rekrutierten. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat Deutschland bis etwa 1958 gebraucht, bis es die volle Souveränität wiedererlangte. Mit derartigen Zeiträumen muss man wohl auch im Falle des Irak rechnen.

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Peter Heine ist Professor für Islamwissenschaften am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Berliner Humboldt-Universität.