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Krieg als Mittel der Politik fest eingeplant
Strategischer Kompass der EU
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Die EU hat sich selbst immer als Friedensprojekt und Zivilmacht dargestellt. So wurde beispielsweise die 2015 nach langen Verhandlungen erreichte Wiener Nuklearvereinbarung (JCPoA) mit dem Iran als Sternstunde der Diplomatie bezeichnet. Doch wie JCPoA ist auch die selbstdeklarierte ‚Zivilmacht Europa‘ mittlerweile ganz offiziell Geschichte.
Schon 1997 begann mit der Aufgabenerweiterung für die Westeuropäische Union (WEU), welche jetzt die Petersberg-Aufgaben (humanitäre Aufgaben, Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben, Kampfeinsätze zur Krisenbewältigung, friedensschaffende Maßnahmen) erfüllen sollte, der Umbau zur Militärunion. Zwei Jahre später wurde der Aufbau einer EU-Eingreiftruppe mit 60.000 Soldat*innen beschlossen. 2003 gab es dann die ersten EU-Militäreinsätze in Mazedonien und in der DR Kongo.
Es folgte die erste Europäische Sicherheitsstrategie. Der Lissabon-Vertrag aus dem Jahr 2009 legte bereits „rechtliche“ Fundamente für die weitere Militarisierung der EU: Die ständig strukturierte (militärische) Zusammenarbeit (engl. PESCO), einen Anschubfonds für Missionen, die nicht zulasten des EU-Haushalts gehen und eine Aufrüstungsverpflichtung.
Diese Grundsteine bestanden aber bis zum Brexit nur auf dem Papier, weil Großbritannien blockierte. Es fürchtete im Aufbau einer EU-Militärunion Konkurrenz und eine Machtbeschneidung der NATO und wollte die eigene Dominanz militärischer Fähigkeiten verteidigen. Mit dem Austrittsreferendum 2016 wurden die Pläne zur Umwandlung der EU in einen militärischen Block aktiviert; Deutschland und Frankreich marschierten vorneweg. Zusammen verfassten deren Außenminister eine „Antwort“ auf den Brexit mit weitreichenden Vorschlägen für die EU (1), die als unabhängiger und globaler Akteur aktiver auftreten solle. Schon da war die Rede von gemeinsamen Marine-Verbänden und der Forderung nach Einhaltung der Zusagen für Militärausgaben. Nicht lange ließ dann die 2016 verabschiedete EU-Globalstrategie auf sich warten. Die EU müsse in der Lage sein, weltweit wichtige Handelsrouten und Seewege zu sichern – zur Not auch militärisch.
Die Aktivierung von PESCO 2017 und die Einrichtung des „Militärische Planungs- und Führungsfähigkeit“ (MPCC) genannten EU-Hauptquartiers folgten.
Einen erneuten Dammbruch stellte der Vorschlag und die spätere Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds 2018 bzw. 2020 dar. Laut Artikel 41.2 des EU-Vertrages sind Ausgaben mit militärischem Verwendungszweck aus dem EU-Budget nicht zulässig. Doch die Kommission deklariert Programme für Rüstung und Militär einfach als Förderung der Industriepolitik.
Am bisherigen Ende dieser Militarisierungsentwicklung steht ein Grundlagendokument, der im März 2022 verabschiedete Strategische Kompass, in dem die „Rückkehr der Machtpolitik“ mitsamt Rüstungsmaßnahmen und militärischer Interventionen zentral ist.
Auf Basis einer erstmaligen Bedrohungsanalyse wird ein Paket zum Ausbau der militärischen Fähigkeiten vorgestellt. Dabei baut die EU diese zwar im Einklang mit der NATO aus, bereitet sich aber auch darauf vor, strategisch autonom agieren zu können.
Der Strategische Kompass
Das Ziel, eine Militärunion aufzubauen, ist zwar weit älter als der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, doch nach dessen Beginn wurde der Kompass überarbeitet und ein eigenes Unterkapitel „Die Rückkehr der Machtpolitik in einer umstrittenen multipolaren Welt“ eingefügt. Die Verunsicherung in der Bevölkerung wurde benutzt und nicht nur Moskau als „ernste und unmittelbare Bedrohung für die europäische Sicherheitsordnung und die Sicherheit der europäischen Bürgerinnen und Bürger“ eingestuft.
„Die Welt in der wir leben“ (1. Kapitel des strategischen Kompasses) wird wie folgt beschrieben: Man sehe sich „vielfältigen Bedrohungen“ ausgesetzt, die von „Terrorismus, gewaltbereitem Extremismus und organisierter Kriminalität bis hin zu hybriden Konflikten, Waffenproliferation und irregulärer Migration“ reichen würden. Die „jüngsten geopolitischen Veränderungen“ würden es erfordern, dass die EU „dringend mehr Verantwortung für ihre eigene Sicherheit übernehmen“ müsse, und zwar sowohl „in ihrer Nachbarschaft und darüber hinaus“ und das auch „nach Möglichkeit mit Partnern und notfalls allein“.
Das dominierende Thema im Kompass wurde bereits 2019 von Ursula von der Leyen, damals noch deutsche Verteidigungsministerin, als die „Wiederkehr der Konkurrenz großer Mächte“ formuliert. Deutschland und die EU könnten dabei „nicht neutral“ bleiben, schließlich seien sie „Teil dieses Konkurrenzkampfs“. (2) In ihrer Rede zur Lage der Union im September 2021 (3) erklärte von der Leyen als Kommissionspräsidentin erneut, die Welt trete „in eine neue Ära verstärkter Konkurrenz ein“, man befinde sich in einer „Ära regionaler Rivalitäten und großer Mächte, die ihr Verhältnis zueinander neu austarieren“.
Die EU ist in diesem Machtkampf keine neutrale Instanz, die um „Werte“ kämpft, sondern Teil des immer robuster ausgetragenen Konkurrenzkampfes um Absatzmärkte, Ressourcen und Einflusssphären. In diesem Kampf möchte die EU dort, wo wirtschaftliche Interventionen nicht mehr reichen, auch militärisch durchgreifen können und erhöht damit die Wahrscheinlichkeit, dass Kriege und militärische Gefechte ein normales Mittel der Politik werden. Dass dabei positiv besetzte Begriffe wie „Sicherheit“, „Freiheit“, „Werte“ und „Fairness“ vorgeschoben werden, dient der Verschleierung.
Im Strategischen Kompass werden rund 60 Vorschläge unterbreitet, häufig mit konkreten Zeitplänen hinterlegt. Die größte Aufmerksamkeit erhielt dabei der Plan für eine schnelle Eingreiftruppe mit 5.000 Soldat*innen, die bis 2025 voll einsatzfähig sein soll. Als Einsatzfelder sind neben „Rettungs- und Evakuierungseinsätzen“ auch Kriegseinsätze („Anfangsphase von Stabilisierungseinsätzen“) in einem „nicht bedrohungsfreien Umfeld“ vorgesehen. EU-Kampfbrigaden gibt es schon länger. Der Wille, diese nun auch einzusetzen, scheint stark zu sein. Ein wichtiger Bestandteil dafür ist die im Kompass enthaltene Aushebelung des Konsensprinzips auf EU-Ratsebene für Militäreinsätze. Es soll eine „Koalition der Willigen“ für Militärmissionen gebildet und mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden können.
Der Ausbau länderübergreifender Rüstungsprojekte, die Anschaffung von Kriegsgerät und die Mehrwertsteuerbefreiung für die gemeinsame Beschaffung von Rüstungsprodukten laufen bereits. Mit Verweis auf den Ukrainekrieg wurde mittlerweile der fünfte Rüstungsfonds (Instrument zur Stärkung der Europäischen Verteidigungsindustrie durch gemeinsame Beschaffung, engl. EDIRPA) in dieser Legislaturperiode abgenickt. Davor verabschiedete das EU-Parlament schon einen Finanztopf zur Munitionsproduktion (engl. ASAP), der, wie EDIPRA, mit 300 Millionen Euro bestückt ist. Der sechste Fonds ist mit dem EU-Defence Investment Programme (EDIP) in der Pipeline. Nicht mitgezählt ist dabei der Schattenhaushalt, mit dem Waffenlieferungen an die Ukraine bezahlt werden und der zynischerweise Friedensfazilität‘ genannt wird.
All dies dient weder dem Frieden noch folgt es hehren Werten. Der Kompass hätte an einer europäischen Friedensordnung arbeiten und anstelle von Eskalation, Machtkampf und Krieg politischen Ausgleich, Diplomatie und Abrüstung in den Fokus stellen können. Aber es ist ein Arbeitsprogramm zur Aufrüstung der Union. Das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung in der EU und der Frieden sind keine Priorität. Umso wichtiger ist eine starke Friedensbewegung, die das Nein zu dieser Militärstrategie auf die Tische der Verantwortlichen bringt - und zwar laut und deutlich!
Anmerkungen
1 https://www.abendblatt.de/politik/article207732039/Frankreich-und-Deutsc...
2 https://www.bmvg.de/resource/blob/32536/c2698fc469931889aafdb65ac0b31101...
3 https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/SPEECH_21_4701
Özlem Alev Demirel, seit 2019 Abgeordnete im Europaparlament und friedenspolitische Sprecherin der Delegation DIE LINKE im EP, Mitglied und Vizevorsitzende Unterausschuss für Sicherheit und Verteidigung (SEDE), Mitglied Ausschuss für Beschäftigung und Soziales (EMPL), Stellvertretendes Mitglied Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten (AFET) und Mitglied und Vizevorsitzende Delegation EU-Türkei JPC.