Die Rückkehr zum menschlichen Maß

„System change“ heißt industrielle Abrüstung

von Bruno Kern
Hintergrund
Hintergrund

Spätestens der letzte Weltklimabericht hat es deutlich gemacht: Das in Paris vereinbarte Ziel, die Erderwärmung auf möglichst unter 2 Grad Celsius zu begrenzen, ist praktisch nicht mehr erreichbar.

Dennoch lohnt es sich, um jedes Zehntel Grad zu kämpfen, weil jedes Zehntel Grad die zu erwartenden Katastrophenszenarien erheblich verändert und an jedem Zehntel Grad Menschenleben hängen. Aber: Die Zeiten der schrittweisen kleinen Reformen sind endgültig vorbei. Jetzt kann es in den reichen Industrieländern nur noch um einen entschiedenen und raschen Rückbau unserer Produktionsstrukturen gehen – der natürlich so solidarisch wie möglich zu gestalten ist.

Technische Illusionen
Kein Zweifel: Ökologische Nachhaltigkeit ist letztlich im Rahmen des Kapitalismus mit seinem zuinnerst eingeschriebenen Wachstumszwang nicht denkbar. Doch nicht nur die kapitalistische Ökonomie, sondern auch die Industriegesellschaft als solche steht zur Disposition! Die etwa dreihundert Jahre währende – ohnehin nur einen Teil des Planeten betreffende – Industrialisierung ist menschheitsgeschichtlich betrachtet eine äußerst kurze Zeitspanne und stellt eine Singularität dar, das heißt eine auf der Basis fossiler Energien ermöglichte Ausnahmeerscheinung, die nicht einfach in die Zukunft extrapoliert werden kann. Das Potenzial an erneuerbaren Energien ist keineswegs unerschöpflich. (1) Deutschland verbraucht aktuell ca. 2500 TWh (1 TWh = 1 Billion Wattstunden, Anm. d. Red.) an Endenergie (wobei Strom nur etwa ein Fünftel davon ausmacht). Das Ökoinstitut und Prognos haben jüngst in einer Studie für den WWF das Potenzial an erneuerbaren Energien, das wir in Deutschland theoretisch ausschöpfen können, mit 700 TWh beziffert. (2) Ein neuer, höchst aggressiver Ökoimperialismus (Wasserstoff- und Rohstoffstrategien, forcierter Extraktivismus, Verlagerung von Verschmutzungen in andere Regionen ...) wird heute politisch propagiert, um diese Lücke zu schließen. Dass dies auch erhebliche Risiken für den Weltfrieden in sich birgt, liegt auf der Hand.

Solange uns suggeriert wird, dass die nötigen Reduktionen des Umweltverbrauchs auf rein technischem Weg erreicht werden können, kann der eigentlichen politischen Frage ausgewichen werden, die da lautet: Wie bauen wir eine solidarische Gesellschaft auf einer wesentlich schmaleren materiellen Ressourcenbasis auf? Die eifrige Propagierung von Technikfantasien ersetzt deshalb zunehmend Politikvorschläge im eigentlichen Sinne. Die Kosten werden dabei bewusst verschleiert, etwa die des E-Autos, dessen erhebliche ökologische Kosten bereits bei der Produktion nicht in unserer Bilanz zu Buche schlagen und das allein aufgrund des knappen Rohstoffs Lithium von vornherein nur ein imperialistisches Projekt sein kann.

Marktgläubigkeit
„Der Klimawandel ist eine Menschheitsaufgabe, und uns fällt nichts anderes ein als Marktlösungen“, hat Elmar Altvater einst resigniert festgestellt.  Die unterschiedlichen Modelle einer CO2-Bepreisung (Emissionshandel, Ökosteuern und Abgaben ...) können nur so weit Wirkung entfalten, wie die Unternehmen in der Lage sind, die höheren Preise durch Effizienztechniken, „kreative Innovation“, etc. aufzufangen. Die Prämisse all dieser Modelle lautet: Sie dürfen keinesfalls „die Wirtschaft abwürgen“. Wenn man aber vom Befund ausgeht, dass man allein auf technischem Weg die nötigen Reduktionen nicht zuwege bringt, dann sind diese Instrumente untauglich für die notwendige Transformation. Würde der CO2-Ausstoß so teuer, dass der Klimakollaps ausbliebe, so würde dies nichts anderes bedeuten als einen Einbruch des Energie- und Rohstoffverbrauchs, ein Ende der Geschäftsmodelle eines Teil der Unternehmen ... Die Verwirklichung ökologischer Nachhaltigkeit bringt einen Regulierungsbedarf mit sich, der die Grenzen der kapitalistischen Ökonomie letztlich sprengen muss. Eine überzeugende linke Antwort auf das Dogma von den marktkonformen Lösungen bestünde darin, konkret an den einzelnen Sachbereichen entlang die ordnungspolitischen Alternativen aufzuzeigen. Dies wäre die dringend notwendige „revolutionäre Reformpolitik“, die das jetzt unmittelbar Notwendige mit Exitstrategien aus dem System verbindet.

Rückbau, nicht Umbau!
Alle politischen Programme, denen irgendeine Art „Ökokeynesianismus“ zugrunde liegt, müssen sich die Frage nach dem „materiellen Rebound“ gefallen lassen. Selbstverständlich gibt es in vielen Bereichen tatsächlich erheblichen Investitionsbedarf, von der Gebäudedämmung bis hin zum notwendigen Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Der ist aber zunächst mit der Vermehrung materieller Bestandsgrößen und einer entsprechenden Steigerung des Ressourcenverbrauchs verbunden. Ökologische Nachhaltigkeit erfordert deshalb an anderer Stelle einen umso konsequenteren „Rückbau“, einen Verzicht auf bestimmte Produktionen, ein Weniger an Stahl, Aluminium und Zement. Die Organisierung dieses Rückbaus aber ist gleichzeitig der Ausstieg aus dem wachstumsgetriebenen Kapitalismus.

Wie aussichtslos es ist, unser derzeitiges Niveau an industrieller Produktion unter der Vorgabe der Emissionsfreiheit aufrechtzuerhalten, können ein paar schlichte Zahlen verdeutlichen: Eine vom Verband der chemischen Industrie in Auftrag gegebene Studie hat errechnet, dass die Umstellung der Chemieindustrie auf emissionsfreie Verfahren einen zusätzlichen Strombedarf von 687 TWh bedeutet – erheblich mehr also, als wir heute insgesamt an Strom produzieren. Die Umstellung auf „grünen Stahl“ erfordert zusätzlich 130 TWh ... (3) Emissionsfreiheit ist also nur in Verbindung mit erheblich weniger Produktion erreichbar.

Erforderlich ist also ein mit den Instrumenten der Ordnungspolitik gestalteter drastischer Rückbau. In Deutschland kommt dabei der Autoproduktion eine Schlüsselrolle zu, die ich hier als nur ein Beispiel herausgreife: 48 % der Aluminiumproduktion, mehr als ein Viertel des Stahls, etwa 12 % der Kunststoffproduktion etc. fließen allein in diesen Bereich. Keine Neuzulassung von PKWs für den rein privaten Gebrauch, unabhängig von der Antriebsart, ab 2030 wäre hier die entsprechende ordnungspolitische Maßnahme. Sozial abgefedert könnten die erheblichen Einbrüche durch den mit Zentralbankgeld (also wachstumsunabhängig) finanzierten Aufbau eines sozialökologischen Beschäftigungssektors werden. (4) Eine Notbremse also für die Rettung unserer Lebensgrundlagen, die allein unserer Situation noch angemessen ist.

Anmerkungen
1 Zur näheren Begründung verweise ich auf mein Buch: Bruno Kern, Das Märchen vom grünen Wachstum. Plädoyer für eine solidarische und nachhaltige Gesellschaft, Zürich 22020.
2 Ökoinstitut / Prognos, Zukunft Sonnensysteme II. Regionalisierung der erneuerbaren Stromerzeugung. Ausgearbeitet für den WWF, Version 1.2, Februar 2019.
3 DECHEMA /FutureCamp, Roadmap Chemie 2050. Auf dem Weg zu einer treibhausgasneutralen chemischen Industrie in Deutschland, September 2019.
4 Dazu verweise ich auf Helmut Peukert, Klimaschutz jetzt!, Marburg 2021, 465–479.

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