Syrien

Über den Tod der syrischen Revolution

von Karl Grobe

Die syrische Revolution ist tot. Sie ist anders verendet als die ägyptische, nämlich nicht an der doppelten Konterrevolution der Muslimbrüder und der Armee. Ihr haben Interventionen den Garaus gemacht. Saudische und iranische, irakische und türkische, amerikanische und noch andere Strippenzieher agieren.

Nicht dass alle Rebellengruppen nur Marionetten wären. Sie haben ihre jeweils eigene Tagesordnung und ihre eigenen Ziele: weltliche oder religiöse Macht; islamischer Nationalstaat oder überregionales oder universales Kalifat; sunnitische oder schiitische Ordnung. Hinter mancher Richtung steht jedoch eine staatlich organisierte Macht, die den Kurs bestimmt. In dieser Hinsicht hängen diese Gruppen doch an den Drähten der jeweiligen Puppenspieler. Die aber sind in Genf nicht unmittelbar dabei. Das erschwert das Geschäft des Verhandelns; das fördert das Geschäft derjenigen, die daran verdienen, dass der Vielfrontenkampf nicht aufhört. Was aber die Verhandlungen angeht, deren hohes Ziel im Namen Friedenskonferenz enthalten ist – sie ziehen sich hin, schließen mal einen wichtigen Beteiligten aus, etwa Iran, bitten den Ausgeschlossenen dann wenigstens an den Katzentisch, was dieser ablehnt, so dass alle Einzelheiten eines so verdammt schwierigen Problems es noch weiter zu komplizieren suchen.

Internationale Interessen
Überstaatliche Interessen spielen hinein. Laut „Voice of America“ sind Fachleute in den USA und am Golf Anfang Februar sehr hellhörig geworden, als der irakische Vizepremier und Erdölminister Hussein al-Shahristani die Verdreifachung der Ölproduktion bis 2020 ankündigte und dabei den Satz fallen ließ: „Iran hat Fühlung mit uns aufgenommen“ und würde gern vom Bagdader Vertragsmodell und den damit gemachten Erfahrungen lernen. Eine Zusammenarbeit dieser beiden Staaten könnte die Opec erschüttern, die Ölförderer-Dachorganisation, die seit ihrer Gründung von Saudi-Arabien dominiert wird; die Fähigkeit der Petrofeudalisten in Riad, durch flexible Änderungen der eigenen Erdölförderung den Weltmarktpreis zu stabilisieren – in der Praxis: zu beherrschen –, würde stark beeinträchtigt. Nicht sofort, die Produktionsanlagen in Irak und Iran sind nicht alle auf dem neuesten Stand und wegen Kriegs- und Embargofolgen auch aus der Übung gekommen. Aber auf lange Sicht – Zieldatum etwa: 2020 – wäre dann Wandel. Schließlich haben Irak und Iran zusammen mehr Öl unter dem Boden als das superreich gesegnete Königreich der Saudis. Und die Lagerstätten beider sind ziemlich leicht zu erschließen.

Was das mit Syrien zu tun hat? Die schiitische Regionalmacht Iran hat – Folge der Bush-Kriege – den beherrschenden Einfluss in Bagdad. Teheran unterstützt und beliefert die syrische Staatsmacht und wird etwas übertrieben als Baschar al-Assads letzte, jedenfalls sicherste Stütze eingeschätzt. Auf Teheran hören die Hizbollah, sowohl als politische Partei als auch als bewaffnete Kampftruppe in Libanon, die auch in Syrien aktiv ist. Die wichtigsten Milizen, bewaffneten Guerilla-Truppen und einige Terrorgruppen hingegen erfreuen sich der wohlwollenden Unterstützung und finanzieller Beihilfe der saudischen Sunniten, genauer: Wahhabiten. Der so zum Stellvertreterkrieg gewordene Aufstand gegen Assad ist auch ein von Religionsfahnen verdeckter Ölkrieg. Wobei zwei sich erst andeutende Entwicklungen ihre Rollen spielen werden: die Annäherung Irans unter Präsident Hassan Ruhani an die westlichen Verhandlungspartner im Atomkonflikt – und die von Riads Altpolitiker Prinz Bandar bin Sultan angekündigte „größere Wende“ (gemeint war Abwendung von den USA). Ist das bloße Gedankenspielerei, oder steckt mehr dahinter?

Aus Äußerungen des saudischen Türkei-Botschafters Adel Mirdad könnte man, den nötigen Optimismus vorausgesetzt, auf einen allmählichen Rückzug des Riader Regimes aus dem Syrienkrieg schließen. Mirdad hatte die von der Türkei vermittelte Rückkehr saudischer Militanten aus dem Krieg mit der Bemerkung kommentiert, es habe sich um einige rund zwanzigjährige Männer gehandelt, „die (von extremistischen Gruppen) irregeleitet“ waren, berichtete die in Dschidda erscheinende Arab News. Just die extremistischen Gruppen haben sich bisher auf saudisches Geld, saudische Unterstützung und saudische Freiwillige verlassen können.

Die Rebellengruppen in Syrien
Der Botschafter hatte aber eher Splittergruppen gemeint, deren Präsenz in den Medien ihr Gewicht weit übertrifft, deren Ideologie aber die Frontbildungen in aller Überspitzung erkennbar wiedergibt. Die Unterstützungsfront für die Völker der Levante (Nusra-Front) hat sich in elf der 14 syrischen Provinzen bemerkbar gemacht, am stärksten in Aleppo und Raqqah. Der Name Levante ist vielsagend. Der so bezeichnete geografische Raum umfasst den Westen Syriens, Palästina, Israel, Libanon und einige Küstenbezirke der Türkei. Vor drei Jahren hat Al Kaida in Irak (AQI) bei ihrer Entstehung Pate gestanden. Ihr Führer, Abu Mohammed al-Julani, hat laut BBC den Kaida-Chef Ayman al-Zawahiri als seinen Führer anerkannt.

Al-Nusra schießt nicht nur; die Front gewinnt Sympathien durch jene Art von Sozialarbeit, welche die Muslimbrüder in Ägypten (wenigstens zeitweise) populär gemacht hat: Straßenreparatur, Wasserversorgung, Verwaltungsarbeiten, Hilfen für die ärmsten Bevölkerungsschichten. Und wenigstens bis zum vergangenen Herbst half Riad mit Geld und Militanten aus – Jihadisten aus aller Welt, die über Saudi-Arabien nach Syrien kamen. Andere reisten durch die Türkei ein.

Ebensolche Prominenz wie die Nusra-Front genießt ISIL. Der Name kürzt das Ziel ab: Islamischer Staat Iraks und der Levante. Auch ISIL ist in Nordsyrien (Aleppo, Raqqah, Idlib) aktiv, konkurriert seit dem ersten Auftreten vor einem Jahr nach zeitweiliger Zusammenarbeit mit der Nusra-Front und verficht eine sehr ähnliche Ideologie. Die Bindung an die irakischen Hintermänner – also Feinde der schiitischen Regierung al-Maliki, die sich regelmäßig zu Terrorakten bekennen – ist anscheinend nicht ganz so ausgeprägt wie bei der Nusra.

Diesen beiden Gruppen zusammen rechnen Beobachter im Westen nicht mehr als gut 10.000 Militante zu. Zehnmal stärker scheint eine Allianz zu sein, die im November 2013 durch den Zusammenschluss eines halben Dutzend islamistischer Gruppen entstanden ist, die Islamische Front (nicht zu verwechseln mit der Syrischen Islamischen Front) und mit ihr verbündete Gruppen. Die Islamische Front nennt sich „unabhängige politische, militärische und soziale Organisation“ und kämpft „für den vollständigen Sturz des Assad-Regimes und den Aufbau eines islamischen Staates“. Ebenso wie die radikaleren Gruppen Nusra und ISIL, mit denen sie nicht zusammenarbeitet, nimmt sie gern ausländische Militante auf.

Zwischen und neben diesen Formationen gibt es unabhängige Gruppen vorwiegend islamisch-nationaler Ausrichtung, die verschiedenen Fraktionen der kurdischen Minderheit im Nordosten Syriens und – zahlenmäßig stärker als alle anderen – die Freie Syrische Armee (FSA), die im Sommer 2011 in der Türkei von Deserteuren aus der syrischen Armee geschaffen worden ist. Die FSA definiert sich nicht religiös, sondern versteht sich als säkulare – und ausschließlich syrische – Kraft, was eine partielle Kooperation mit jihadistischen Gruppen aber nicht ausgeschlossen hat. Nach den Kämpfen bei Qusair im Sommer 2013, in denen die reguläre Armee im Bunde mit der libanesischen Hizbollah der FSA die Kontrolle über den Verbindungsweg nach Homs abschnitt, haben sich die bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen ihr und verschiedenen islamistischen Kräften anscheinend verschärft. Da die FSA mehr als alle anderen Widerstands- und Oppositionsgruppen das Wohlwollen der US-Regierung genießt, die gegen sie auftretenden Islamisten aber nach Saudi-Arabien tendieren, ist hier offenbar eine neue Front entstanden.

Die Syrien-Konferenz
Unterdessen hat das Regime al-Assad sich auf einem mittleren Niveau stabilisiert. Es hat sich militärisch behauptet und den von vielen Oppositionsfronten verlangten Ausschluss von der Genfer Konferenz abgewendet. Es kooperiert mit dem Westen und Russland beim Abtransport der C-Waffen. Und im Februar haben die Verhandlungsgegner – Partner sind sie noch längst nicht – die Forderung fallen gelassen, dass Baschar al-Assad vor jeder Einigung zurückzutreten habe. Das 24-Punkte-Papier erwähnt ihn überhaupt nicht, wie die „New York Times“ meldete. Von Lösungen, die der syrischen Bevölkerung das Weiterleben ermöglichen, ist die Konferenz am Genfer See noch so weit entfernt wie die Lebensverhältnisse der Diplomaten und vieler Exilfunktionäre von denen der Syrer, denen zu helfen das Ziel von „Genf II“ sein sollte.

Diplomaten kennen viele Wege um das Ziel herum. Alle vier Wochen, grob gerechnet, zwei bis drei Konferenz-Sitzungen, die im Prinzip nichts weiter bringen als die Zusage, in vier Wochen die nächste Runde mit dem mutmaßlich und vorhersehbar gleichen Ergebnis abzuhalten: So lässt sich der Rhythmus der Genfer Verhandlungen beschreiben. Dabei ergeben sich auch Erfolge am Rande; doch das Unternehmen als Friedenskonferenz einzusortieren ist Geistesakrobatik von großer Güte.

Für die EinwohnerInnen von Homs – die Glücklichen unter ihnen, die der Stadt entkommen konnten – ist die Einigung auf ein kleines Detail lebenswichtig gewesen. Die BürgerInnen (in den Medien heißt es: Zivilisten; das ist Jargon für eine Gruppe, die sich keiner der schießenden Gruppen zuordnen lässt) waren zweifache Geiseln: umzingelt von Rebellen (noch solch eine unscharfe Kategorie), die ihrerseits umzingelt waren von Regierungstruppen; die BürgerInnen hatten keine Möglichkeit, an Nahrungsmittel und sauberes Trinkwasser zu kommen; sie haben alles erdulden müssen, was eine Belagerung bewirkt. Die meisten müssen es noch; nur eine Minderheit hat die vereinbarte Feuerpause und den damit verbundenen Weg nach draußen nützen können.

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Journalist und Historiker, war Außenpolitik-Redakteur der Frankfurter Rundschau.