Umwweltdialog: Erfolge und Probleme

von Michail Lemeschew

Vom 18. bis 22. September 1989 fand in Moskau ein deutsch-sowjetisches Semi­nar statt, das von der Führung der Grünen und der KPdSU organisiert worden war. An diesem Seminar nahmen über 20 Vertreter der BRD und etwa 40 Vertre­ter der UdSSR teil. Delegationsleiterin auf deutscher Seite war Jutta Ditfurth, auf sowjetischer Seite Akademiemitglied Iwan Frolow. Unter den Seminarteil­nehmern und -teilnehmerinnen befanden sich bekannte Wissenschaftler beider Seiten, Schriftsteller, Träger des öffentlichen Lebens und zahlreiche Vertreter von Presse, Rundfunk und Fernsehen. Ein Thema lautete "Die Lehren von Tschernobyl". Wie aktuell diese Fragestellung ist, läßt sich an der Tatsache able­sen, daß an dem Kolloquium Mitglieder des Deutschen Bundestages und des Obersten Sowjet der UdSSR teilnahmen.

Mit dieser Veranstaltung waren große Erwartungen verknüpft. Zu Anfang erfüllten sich die Hoffnungen jedoch in vieler Hinsicht nicht, was darauf zu­rückzuführen war, daß die offiziellen Vorträge der sowjetischen Delegation, die A. G. Guskowa (Ministerium für Gesundheitswesen der UdSSR), G. A. Koptschinskij (Büro für Brennstoff- und Energiewirtschaft beim Minister­rat der UdSSR) und E. L. Ignatenko (Ministerium für Atomenergie) ge­halten wurden, formalistisch und nicht objektiv waren. In diesen Vorträgen wurde der plumpe Versuch unter­nommen, die Tragödie von Tscherno­byl herunterzuspielen. Man versuchte, die SeminarteilnehmerInnen davon zu überzeugen, daß die Unfallfolgen schnell und effektiv beseitigt wurden, daß das Unglück doch nicht so groß sei, daß praktisch keine Folgen mehr zu registrieren seien und daß den in den kontaminierten Gebieten leben­den Menschen überhaupt keine Ge­fahr drohe. Eine derartige Desinfor­mation rief sowohl in der sowjetischen als auch in der deutschen Delegation und bei der während des Seminars an­wesenden Öffentlichkeit tiefste Empö­rung hervor.

Die zahlreichen, durchaus begründe­ten Fragen der SeminarteilnehmerIn­nen konnten von den Referenten nicht überzeugend beantwortet werden. Und wieder versuchten sie allen Tatsa­chen zum Trotz, die Illusion der heilen Welt zu zementieren, und rechtfertig­ten den verhängnisvollen Kurs des so­wjetischen Atomenergieministeriums, der den vermehrten Bau von Atomkraftwerken, der ihrer Meinung nach ökologisch saubersten und daher vor­zuziehenden Kraftwerksart, zum Ziel hat. Auch hier zeigte sich, daß die Ein­schätzung der tatsächlichen ökologi­schen Situation und die Lösungsan­sätze für die anstehenden Energiepro­bleme, die vom bürokratischen Appa­rat und seiner offiziellen Wissenschaft entwickelt werden soll, voll und ganz unhaltbar sind.

Zum Glück übernahmen die Se­minarteilnehmerInnen nicht die Täu­schungs- und Beschwichtigungstaktik, die man ihnen aufzuzwingen versuch­ten. Die sich entwickelnde aktive Dis­kussion verlief sachlich und konstruk­tiv. Die SeminarteilnehmerInnen, die von deutscher und sowjetischer Seite das Wort ergriffen, zeichneten ein ob­jektives Bild der Tragödie, deren Fol­gen immer noch fortbestehen.

In ihren Redebeiträgen versuchten sie nicht nur, die Lage wahrheitsgetreu zu beurteilen, sondern äußerten auch konkrete Vorschläge zur Verbesse­rung der Situation. Sowjetische Fach­leute aus Moskau und Leningrad, aus Kalinin und Kasan, aus der Ukraine und Weißrußland, aus Sibirien und dem Fernen Osten traten gegen das atomare Abenteuer, für eine verän­derte Energiepolitik in der UdSSR und BRD, gegen vor der Bevölkerung geheimgehaltenen zwischenstaatliche Geschäfte im Bereich der Atomener­gie und für eine verstärkte Zusam­menarbeit zwischen der UdSSR und der BRD bei der Entwicklung und Verwirklichung von Projekten zur umfassenden Nutzung regenerativer Energiequellen ein.

Die konkrete Diskussion der Wege ei­ner solchen Zusammenarbeit fand auf einem weiteren Seminar vom 16. bis 20. Oktober in Bonn statt. Die SeminarteilnehmerInnen verabschiede­ten einen Aufruf an die Regierungen der BRD und der UdSSR und ein ge­meinsames Aktionsprogramm für die kommenden Jahre.

Übersetzung: Doris Schwarz.

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Professor Michail Jakovlewitsch Leme­schew ist Laborleiter der Kommission der Akademie der Wissenschaften der UdSSR zur Untersuchung der Produk­tivkräfte und der Naturressourcen. Er war sowjetische Delegationsleiter auf der Fachtagung des Ökoinstituts und Seminarbesucher auf dem (Anti-)Atom-Seminar von Grünen und KPdSU in Moskau.