Friedensratschlag Kassel 2022

Unterwegs zu einer neuen Weltordnung

Initiativen
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Nach drei Jahren pandemiebedingter Abstinenz fand wieder ein Friedensratschlag in Präsenz statt. Zum 29. Ratschlag fanden sich am 10. und 11.12.2022 insgesamt 350 Teilnehmer*innen im Phillip-Scheidemann-Haus in Kassel zusammen. Unter dem Titel „Unterwegs zu einer neuen Weltordnung – Weltkrieg oder sozialökologische Wende zum Frieden“ gab es 19 Referate und Statements von der Plenumsbühne und 11 Workshops mit Diskussionsrunden. Einige Vorträge und Diskussionsrunden möchte ich hier kurz skizzieren.

Der Publizist Jörg Kronauer analysierte, dass das US-Militär den zentralen Konflikt der USA mit China nicht als „klar gewinnbar“ einschätze. Folglich soll ein Wirtschaftskrieg – insbesondere ein Boykott der Halbleiterhochtechnologie – China schwächen und durch militärische Bündnispolitik und massive Aufrüstung bedroht werden. Die deutschen Eliten seien gegen eine Weltmacht China und hätten in den USA viermal mehr investiert als dort. Im Widerspruch dazu stärkten sie aber auch die chinesische Wirtschaft durch ihre Investitionen, vornehmlich im Automobilbereich. Im Taiwan-Konflikt drohe „ein großer Krieg“. Der Ausgang des Ukrainekriegs sei nicht kalkulierbar. Hervorzuheben sei, dass drei Viertel der Länder nicht an der Sanktionspolitik gegen Russland beteiligt seien.

Dr. Christin Bernhold, Wirtschaftsgeografin an der Uni Hamburg, hob hervor, dass Chinas BIP laut IWF kaufkraftbereinigt bereits auf Platz 1 vor den USA, Indien, Japan, Deutschland und Russland rangiere, und der Abstand zum Rest der Welt wachsen werde. Die USA sehe ihre Hegemonialrolle zugunsten einer multipolaren Welt in Gefahr und stemme sich mit allen Mitteln dagegen. China werde, so Bernhold, wohl gegen 2050 erst, laut Global Firepower Index, mit den USA militärisch gleichziehen. Allerdings sei die Multipolarität auch von inneren Differenzen geprägt. Sie entwickle zwar die Welt hin zur Demokratisierung, sei aber „nicht zwangsweise emanzipatorisch.“ Russland sei vom Westen kleingehalten worden und habe aus der Position der Schwäche einen Regionalimperialismus entwickelt. Der Ukrainekrieg sei Folge der aggressiven NATO- und EU-Politik.

Lühr Henken verlas das Referat von Prof. Joachim Wernicke, der absagen musste. Mit der Kündigung des INF-Vertrages habe Trump 2019 alle rechtlichen Hürden beseitigt, um in Europa wieder und neu in Asien am Boden Mittelstreckenwaffen aufstellen zu können. Ein Déjà-vu mit Pershing II drohe, denn auch die in Entwicklung befindlichen US-Hyperschallwaffen seien als Enthauptungsschlagwaffen konzipiert. Die entsprechenden US-Militäreinheiten seien bereits in Wiesbaden stationiert, wo vom US-Heereskommando Europa aus die Einsatzbefehle erteilt werden sollen. Die offizielle Informationspolitik sei mehr als dürftig. Unklar sei, welche Raketentypen stationiert werden sollen, ob Dark Eagle oder OpFires und ob dies schon 2023 erfolgen könne. Zur Stationierung dieser hoch präzisen Raketen mit konventionellem Sprengkopf dürfe es auf keinen Fall kommen.

Podiumsdiskussion
In einer Podiumsrunde äußerten sich Vertreter*innen aus Friedensorganisationen zum Ukrainekrieg. Hermann Kopp als Vertreter des Bundesausschusses Friedensratschlag (BAF) sagte, der russische Angriff stelle eine Verletzung des Gewaltverbots der UN-Charta Art. 2 da. Er sei jedoch eine Antwort auf eine tatsächliche Bedrohung Russlands. Ursache sei eine „Intrige des Westens“. Man müsse allerdings „großrussischen Tönen“ wie beispielsweise diese, Russland und Ukraine seien ein Volk, entgegentreten. Die Friedensbewegung solle sich gegen Waffenlieferungen, massive Bundeswehr-Aufrüstung und die „unglaublichen“ Sanktionen wenden.

Helmut Lohrer, als Vertreter der IPPNW, gab an, dass die IPPNW diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg verurteilt habe. Die Verantwortung trage die russische Regierung, aber eine Mitverantwortung trage die NATO, denn, so Lohrer, das Verständnis für die Ursachen sei unerlässliche Voraussetzung für die Konfliktlösung. Als Ursachen führte er die „orangene Revolution“ in der Ukraine an, die NATO-Osterweiterungen und auch die Ablehnung russischer Vertragsentwürfe an USA und NATO vom 17.12.21, in denen Russland Sicherheitsgarantien verlangte. Wenn es keine Verhandlungen gäbe, eskaliere der Krieg, so Lohrer. Die Ukraine könne den Krieg nicht gewinnen. Es seien jetzt Verhandlungen – ohne Vorbedingungen – nötig. Waffenlieferungen seien ein wesentlicher Beitrag zur Eskalation des Kriegs.

Wiltrud Rösch-Metzler als Ko-Sprecherin der Kooperation für den Frieden wiederholte aus der Stellungnahme ihrer Dachorganisation, dass sie den russischen Angriffskrieg als völkerrechtswidrig verurteile und Russland aufgefordert sei, die Ukraine zu verlassen. NATO und EU sollten verhandeln, das Ziel sei gemeinsame Sicherheit. Es dürfe keine Waffenlieferungen geben. Die atomaren Risiken stünden in der Kooperation für den Frieden im Vordergrund, das sei ihre größte Sorge. Westliche Sanktionen gegen zivile Ziele sollten zurückgenommen werden.

Michael von der Schulenburg, langjähriger UN-Diplomat auf Kriegsschauplätzen Afrikas und Asiens und beteiligt an der von Jeffrey Sachs geleiteten Friedensinitiative für die Beendigung des Ukrainekriegs im Vatikan, sieht den Ukrainekrieg als Resultat eines fehlgeleiteten Versuchs, eine stabile Sicherheitsordnung in Europa „über die NATO“ zu schaffen.  Er zitierte Brzezinski: Wer die Ukraine kontrolliere, kontrolliere Eurasien. Der Ukrainekrieg sei kein Krieg im Interesse Europas. Die Ukraine könne gar nicht verhandeln, es könne nur die USA sein. „Sie will es nicht“, so von der Schulenburg. Ihm, Schulenburg, gehe es darum, in Europa eine Sicherheitsordnung ohne NATO zu schaffen. Wörtlich: „Es kann nur geschehen, wenn wir den Krieg nicht gewinnen.“

In einem Workshop befasst sich die Journalistin Susann Witt-Stahl sehr intensiv mit den inneren Zuständen in der Ukraine. Sie sagte, die meisten Ukrainer*innen wollten nicht bis zum letzten Blutstropfen kämpfen und viele versuchten sich der Mobilisierung zu entziehen. Die Verlustzahlen seien „dramatisch“. Es gäbe 50.000 bis 60.000 Strafverfahren wegen politischer Vergehen (Strafen:  bis zu 15 Jahren Knast). Es gäbe viele Faschisten im Staats- und Regierungsapparat. Der Geheimdienst SBU, die Nationalgarde, die Bürgerwehren seien Nazigruppen. Kundgebungen seien nicht möglich. Nur Nazis demonstrieren. Wörtlich: „Nur Asow darf alles!“ Die Arbeiterbewegung in der Ukraine sei entmachtet, es gäbe keine gewerkschaftlichen Rechte in der Ukraine, der Stundenlohn betrage 1,21 Euro. Angesichts dessen sei es verlogen, wenn die deutsche Regierung ihre Unterstützung der ukrainischen Regierung als wertebasierte Außenpolitik bezeichne.

Fazit
Der Ratschlag bot eine gute Möglichkeit, die durch den Ukrainekrieg entstandene Zäsur aus den unterschiedlichen Blickwinkeln mit vielen Aktiven der Friedensbewegung öffentlich zu beleuchten, um einen soldarischen Diskurs zu befruchten. Ziel muss es sein, gemeinsame Orientierungen für die schnelle Beendigung des Ukrainekriegs durch Verhandlungen zu finden. Der Ratschlag gab dafür einen gelungenen Impuls. Leider kam das Themenfeld der gigantischen NATO- und Bundeswehraufrüstung und die EU-Militarisierung aufgrund krankheitsbedingter Referentenabsagen zu kurz.
Zwei Hinweise zum Schluss: Die Erklärung des BAF zum Ratschlag und bis Redaktionsschluss 15 Videomitschnitte der Ratschlagsbeiträge sind unter friedensratschlag.de abrufbar.

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