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Eine kleine Arbeitsgruppe vermittelt in der Gefangenenfrage
Vertrauen bilden im Karabach-Konflikt
vonSeit dem 12. Mai 1994 ist Waffenstillstand zwischen Armenien und Aserbaidschan. Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre hatten beide Völker in einem unheimlich grausamen Krieg um die Herrschaft über die Enklave Berg Karabach gekämpft. Doch ein Frieden ist noch lange nicht in Sicht. 300.000 Armenier mussten nach fürchterlichen Pogromen ihre aserbaidschanische Heimat verlassen, Zehntausende von Aserbaidschanern flohen nach Pogromen in Armenien und Karabach aus ihrer Heimat.
Heute sind 20% des Territoriums von Aserbaidschan von (karabach)armenischen Truppen besetzt, eine Million AserbaidschanerInnen leben als Flüchtlinge im eigenen Land.
Immer wieder haben die Konfliktparteien über das Rote Kreuz ihre Kriegsgefangenen ausge"tauscht" nach dem Grundsatz "Alle gegen Alle". Trotzdem gibt es auch heute noch auf beiden Seiten Gefangene.
Seit mehreren Jahren besuche ich regelmäßig zusammen mit Swetlana Gannuschkina von der russischen Menschenrechtsorganisation "Memorial" und Paata Zakareishvili (Menschenrechtsexperte im georgischen Parlament) die Region.
Das Vorgehen bei diesen Besuchen läuft immer nach folgendem Muster:
Vor Reisebeginn bitten wir offizielle armenische und aserbaidschanische Stellen, uns Adressen und Daten von Vermissten und Gefangenen mitzuteilen. Bei unserem Besuch bitten wir dann die Behörden um Besuchserlaubnis für die von der jeweils anderen Seite genannten Gebiete, Gefängnisse und Gefangenen.
Durch unsere Arbeit haben wir zur Freilassung von mehreren Gefangenen beigetragen.
Und wir üben durch unsere regelmäßigen Besuche in den Gefängnissen und Lagern eine gewisse gesellschaftliche Kontrolle über die Haftbedingungen aus, wodurch sicherlich die Bedingungen der Gefangenen etwas verbessert werden.
Der Aserbaidschaner Ismail (Name geändert) sieht mir eindringlich in die Augen. "Sie haben doch so gute Kontakte nach Armenien. Ich gebe Ihnen alles was ich habe, wenn Sie meinen Sohn finden und ihn nach Hause bringen." Irgendwann war Ismail ein für aserbaidschanische Verhältnisse reicher Mann. Doch dann kam der Krieg und sein Sohn zog mit in den Krieg. Und auf einmal kam kein Lebenszeichen mehr vom Sohn. Ismail wendet sich an sog. "Vermittler". Für viel Geld versprechen sie ihm Hilfe. Doch so viel er auch bezahlt, er erhält weder ein Lebenszeichen von seinem Sohn noch andere Informationen.
Als ihm ein "Vermittler" sagt, er würde demnächst Informationen per Fax erhalten, kauft sich Ismail ein Faxgerät. "Zwei Tage kniete ich vor dem Faxgerät in der Hoffnung, etwas an Informationen über meinen vermissten Sohn zu erhalten, aber wieder umsonst", berichtet er mir.
In seiner Verzweiflung kauft er dem Militär einen armenischen Gefangenen ab. Diesen Gefangenen hält er bei sich zu Hause und zwingt ihn, seine armenischen Verwandten in Armenien seinen Sohn suchen zu lassen. Vier Jahre war der Armenier David Nasarjan Geisel von Ismail. 1998 erfuhren die aserbaidschanischen Behörden von dieser Privathaft. Sie nahmen David Nasarjan in staatliche Gefangenschaft in das Lager von Gobustan.
Nach einem weiteren Jahr Gefangenenschaft im Lager wird David Nasarjan schließlich in einer Gefangenen"tausch"aktion im April 99 freigelassen.
Geiselnahme aus Verzweiflung
Leider ist der Fall von David und Ismail keine Ausnahme. Immer wieder ist es vorgekommen, dass ArmenierInnen oder AserbaidschanerInnen in ihrer Verzweiflung über das Verschwinden eines Angehörigen im Nachbarland auf die Jagd nach Angehörigen des anderen Volkes gegangen sind. Und dieser Gefangene wurde als Geisel in Privathaft festgehalten. Und leider hatten die meisten nicht so viel Glück wie David, der mit seinem Geiselnehmer im Lauf der Jahre ein geradezu freundschaftliches Verhältnis entwickelt hatte. "Wäre Ismail nicht gewesen", so David Nasarjan heute, "ich hätte die Zeit in Aserbaidschan wahrscheinlich nicht überlebt." Lange Jahre hatten armenische und aserbaidschanische Behörden die Praxis der privaten Geiselhaft geduldet. Erst in den letzten drei Jahren zeigen die Behörden ihre Entschlossenheit, die Privatgeiselhaft nicht mehr länger tolerieren zu wollen.
Wieviele Menschen in Geiselhaft waren und dort auch um das Leben gekommen sind, lässt sich schwer sagen.
Sowohl Aserbaidschan als auch die armenische Seite vermissen heute mehrere hundert Menschen. Heute, sechs Jahre nach Kriegsende, ist leider davon auszugehen, dass die meisten Vermissten tot sind. Dies wollen die Angehörigen jedoch nicht wahrhaben. Auch bei offiziellen Stellen gibt es ein Interesse, die Vermisstenzahlen hoch zu halten, lassen sich doch hohe Vermisstenzahlen gut instrumentalisieren. Solange angeblich mehrere hundert Gefangene auf der anderen Seite festgehalten werden, ist es leichter, die Kriegsbereitschaft im Volk wachzuhalten, lässt sich leichter von eigenen Fehlern während des Krieges ablenken.
Und so ist es nicht selten vorgekommen, dass eine Geisel getötet wurde, wenn sie ihren Zweck, die eigenen Angehörigen zu finden, nicht erfüllte.
Mittlerweile sind sechs Jahre seit Abschluss des Waffenstillstandes vergangen. Wahrscheinlich gibt es heute keine Privatgefangenen mehr. Mit Sicherheit kann dies jedoch nicht ausgeschlossen werden. Doch es gibt noch mindestens 10 Kriegsgefangene. Möglicherweise sind es auch mehr, als offiziell angegeben wird. Diese Gefangenen sind Soldaten, die aus unterschiedlichen Gründen, jedoch nicht während Kampfhandlungen, auf das Gebiet des jeweiligen anderen Landes geraten sind. Im Prinzip sind sich die Seiten einig, dass jetzt, sechs Jahre nach dem Waffenstillstandsabkommen, diese Gefangenen freigelassen werden müssten. Und so fordern alle Konfliktparteien, dass diese Gefangenen endlich "Alle gegen Alle ausgetauscht werden".
"Alle gegen Alle"
Die Verhandlungen über einen "Austausch" nach dem Prinzip "Alle gegen Alle" werden dadurch erschwert, dass beide Seiten davon überzeugt sind, dass die jeweils andere Seite noch weitere Gefangene festhält. Vor diesem Hintergrund verstehen beide Seiten unter "Alle gegen Alle" etwas anderes. Und sowohl Armenier wie Aserbaidschaner sind fest davon überzeugt, dass man wesentlich weniger Gefangene habe als die andere Seite.
Und deswegen würde man einen wichtigen Faustpfand für die Befreiung der eigenen Gefangenen auf der anderen Seite verschenken, wenn man Gefangene ohne Gegenleistung freilassen würde.
Die Opfer dieser Verhandlungsmisserfolge im Gefangenen"tausch" sind die Gefangenen, die teilweise schon mehrere Jahre interniert sind.
Wie weiter?
Seit August 1999 arbeitet unsere Arbeitsgruppe offiziell unter dem Dach der OSZE, armenische und aserbaidschanische Behörden wirken nun direkt in der Arbeitsgruppe mit.
Wenn wir gemeinsam vor Ort Gefangene besuchen und Vermisste suchen, können sich die armenischen und aserbaidschanischen Experten, die sich auf Regierungsebene mit dem Vermisstenproblem beschäftigen, direkt austauschen.
Erste Priorität hat für uns, dass das gemeinsame Arbeiten in der Arbeitsgruppe nichts außergewöhnliches bleiben soll. Wir arbeiten daran, dass sich Armenier und Aserbaidschaner einigen, auf einer regelmäßigen Basis in der Gruppe mitzuarbeiten und konkrete Fragen direkt - und nicht mehr über Dritte - zu lösen.
Die schwierigste Frage im Karabach-Konflikt ist die Frage des Status von Nagornij Karabach. Mir ist es wichtig, dass in weniger schwierigen Fragen, wie z.B. der Frage von Gefangenen und Vermissten, vertrauensbildende Maßnahmen geschaffen werden. Und diese vertrauensbildenden Maßnahmen führen vielleicht eines Tages dazu, dass in einem anderen Klima auch in der Statusfrage eine Lösung gefunden werden kann.
Das hässliche Wort vom "Tausch"
Wir streben an, dass das Wort "Tausch" aus dem Sprachschatz der Verantwortlichen gestrichen wird. Für uns ist nur das Wort "Freilassung" akzeptabel.
Alle derzeit Gefangenen sind ohne Gerichtsverfahren inhaftiert, haben sich nichts zu Schulden kommen lassen. Diese Menschen dürfen nicht ausgetauscht werden, sie müssen freigelassen werden!
Wenn bisher Gefangene freigelassen wurden, geschah das meistens als "Tausch", z.B. 2 gegen 3, oder 2 gegen 4.
Das Tauschprinzip führt in seiner Logik dazu, dass eine Seite, die glaubt, zu wenig Verhandlungsmasse zu haben, Jagd auf weitere Gefangene macht.
Bleibt zu hoffen, dass eines Tages Armenier und Aserbaidschaner gemeinsam ihre Probleme lösen und neutrale Mittler nicht mehr gebraucht werden.