Atomausstieg und Energiewende

Viel Bewegung aber noch zu wenig Kooperation

von Gerlinde Wiese
Initiativen
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Etwa 80 TeilnehmerInnen aus dem gesamten Bundesgebiet folgten am Samstag, dem 19. August einer Einladung des Göttinger Gegenzuges zu einem Beratungstreffen über Atomausstieg und Energiewende nach Göttingen. Die meisten kamen aus Bürgerinitiativen, aber auch VerteterInnen von Organisationen, Parteien, ASTen usw waren anwesend. Das Treffen hatte ausschließlich informellen Charakter.

VertreterInnen des Göttinger Gegenzuges wiesen darauf hin, daß es einerseits viele lokale Bürgerinitiativen, andererseits Gruppen und Aktivitäten in vielen anderen Bereichen gäbe: "Es gibt erkennbar mehr Bewegung, aber noch viel zu wenig Kooperation, um Ausstieg und Energieende jetzt auch wirklich durchzusetzen." Das Scheitern der sog. Energie-Konsensgespräche zwischen Bundesregierung und SPD habe zu einer Situation geführt, die so offen sei wie schon lange nicht mehr. Die brachiale Gewalt, mit der die Bundesregierung die Castor Transporte und ihre Atompolitik durchsetze, polarisiere die Gesellschaft und fordere den Widerstand geradezu heraus. Die Situation in den deutschen Atomreaktoren sei hochbrisant, viele der alten Reaktoren werden weiterbetrieben, obwohl eklatante Sicherheitsmängel bekannt sind. Die Auseinandersetzungen um den 50. Jahrestag von Hiroshima und Nagasaki, um die Atomtestversuche und um den Forschungsreaktor, der jetzt in Garching gebaut und mit hochangereichertem Uran (HEU) betrieben werden soll, haben zudem die zivile-militärische Ambivalenz der Atomtechnik erneut deutlich gemacht. Gleichzeitig habe jedoch der Energiealternativ-Sektor politisch und ökonomisch an Gewicht gewonnen.

Die Erfahrungen mit der Atomtechnik und die Frage nach den Konsequenzen daraus wird sich öffentlich in besondere Weise stellen, wenn sich im Frühjahr 1996 die Katastrophe von Tschernobyl zum 10. Mal jährt. Schon heute bereiten sich Gruppen und Organisationen hierauf vor. Einschneidende Veränderungen werden indes nur möglich sein, wenn die Auseinandersetzung, die in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen stattfindet, zusammenläuft und als politischer Druck öffentlich wahrnehmbar wird. Hieran unter dem Stichwort "Konsens von unten" mitzuwirken, ist Anliegen des Göttinger Gegenzuges, allerdings sei die Bereitschaft zur Kooperation noch recht unterentwickelt.

Ergebnisse des Göttinger Treffens

Reaktor-Standorte: TeilnehmerInnen berichteten vom neuerlichen Erstarken des örtlichen Widerstandes gegen laufende Atomreaktoren. Am Samstag, dem 2. September fand eine Demonstration in Biblis statt. Hier hat die Landesregierung die Stilllegung verfügt und eine Auseinandersetzung mit dem Bund und der RWE steht an. Erwartet wird auch eine Auseinandersetzung um den Reaktor in Obrigheim. Hier müsse die Landesregierung die Konsequenzen daraus ziehen, daß selbst offizielle Gutachter davon ausgehen, daß der Spröderbruchsicherheitsnachweis nicht erbracht werden kann. Im August und September fanden darüber hinaus Aktionen in Brunsbüttel, Krümmel, Brokdorf und Grundremmingen statt.

Castor: Mindestens ein weiterer Castor-Transport wird für den Oktober erwartet. Die Aktionen hierzu begannen mit einem Benefiz-Konzert am 26./27. August im Wendland. Eine Zunahme des Widerstandes gegen die Transporte wird erwartet. Im vergangenen Jahr seien bundesweit über 100 neue Castor-Gruppen entstanden. Andererseits äußerten TeilnehmerInnen die Vermutung, daß die Bundesregierung alles tun werde, den Widerstand zu kriminalisieren. Sie müsse den gigantischen Polizeieinsatz rechtfertigen und hierfür werde ihr jedes Mittel recht sein. Schon jetzt habe es eine Reihe verleumderischer Falschmeldungen gegeben.

Forschungsreaktor Garching: Der aus Garching geäußerte Wunsch nach bundesweiter Unterstützung gegen die angekündigte Baugenehmigung für den dortigen Forschungsreaktor stieß auf lebhafte Resonanz. Eine gemeinsame Demonstration noch im Herbst oder im Frühjahr 1996 soll in den nächsten Wochen weiter diskutiert werden. Von unterschiedlicher Seite wurde Unterstützung für ein solches Projekt zugesagt und eine Koordination mit der Siemens-Boykott-Kampagne wurde abgesprochen. Aus wissenschaftlicher Sicht sei der Bau des Forschungsreaktors unsinnig, mit ihm solle jedoch der Bestand des atomtechnischen Know-hows der Firma Siemens gesichert werden. Zugleich werde hier mit waffenfähigen Uran gearbeitet. Gute Gründe also, den Bau zu verhindern.

10. Tschernobyl-Jahrestag: Ob die Vielzahl der schon jetzt geplanten Aktivitäten zum 10. Jahrestag in eine gemeinsame bundesweite Demonstration münden sollen, wurde von den TeilnehmerInnen unterschiedlich bewertet. Hierzu werde es in den nächsten Wochen eine Reihe von Treffen und Beratungen unterschiedlicher Organisationen geben.

Darüberhinaus wurde von einer Vielzahl weiterer Aktivitäten berichtet, die bereits stattfinden oder geplant sind. Eine Reihe findet zu den Atomwaffentests statt. An den Endlagerstandorten Konrad und Gorleben sind weitere Aktionen geplant. Vermutlich in Garching bei München wird im November die Herbstkonferenz der Anti-AKW-Bewegung stattfinden.

Die weitere Arbeit des Göttinger Gegenzuges

Der Göttinger Gegenzug entstand im Herbst 1994 als lokaler Zusammenschluß von Mitgliedern aus verschiedenen Umweltgruppen und -organisationen, Gewerkschaften, Kirchen, Verbänden und Einzelpersonen als Antwort auf die angekündigten Castor-Transporte. Er startete die Initiative für eine gemeinsame bundesweite Demonstration, die schließlich, getragen von mehreren hundert Gruppen, Organisationen und Einzelpersonen am 13. Mai 1995 in Hannover stattfand. Mit 15.000 TeilnehmerInnen konnte sich diese Demonstration zwar nicht mit Großdemonstrationen vergangener Jahrzehnte messen, war sie aber doch eine der größten energiepolitischen Demonstrationen der letzten 10 Jahre. Und sie war ein ermutigendes Signal für eine neue Aufbruchsstimmung. Für den Göttinger Gegenzug war dies Anlass genug, seine integrative und diskursive Arbeit unter dem Stichwort "Konsens von unten" auch bundesweit und international fortzusetzen. Dabei geht es nicht in erster Linie darum, eigene Aktivitäten durchzuführen, sondern bereits geplante Aktivitäten zu unterstützen, gemeinsame Diskussionen und Artikulation anzuregen und die Auseinandersetzung in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen zu vernetzen. Ein Schwerpunkt der Arbeit der kommenden Monate wird die Auseinandersetzung um die Konsequenzen von Tschernobyl sein. Hierzu plant der Gegenzug eine Reihe von überregionalen Themenveranstaltungen, ein Angebot für dezentrale Veranstaltungen und mehrere internationale Meetings mit TeilnehmerInnen aus Ost- und Westeuropa (und vielleicht auch darüber hinaus).

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