Zukunftsszenarien

Was kommt nach dem Abzug der NATO-Kampftruppen?

von Otmar Steinbicker

Eine der spannendsten Fragen dieses Jahres wird derzeit aus unterschiedlichen Perspektiven unterschiedlich beantwortet. Wer sich an Prognosen wagt, sollte nach Interessen, Zielen und Handlungsoptionen der unterschiedlichen Akteure fragen.

Was die USA und die NATO in Afghanistan wollten und wollen, ist nicht so eindeutig, wie es manchmal vermutet wird. Begründet wurde der Kriegseinsatz ursprünglich mit dem Kampf gegen Al Kaida. Wenn diese Begründung ernst gemeint gewesen wäre, hätte der Krieg nach wenigen Wochen „siegreich“ beendet werden können.

Bei Vermutungen über tiefer liegende Motivationen taucht nicht selten das Thema „Rohstoffe“ auf – sei es bezogen auf afghanische Rohstoffreserven oder auf Pipelines für den Transit ausländischen Gases. Sicherlich lassen sich eine Reihe Belege für Interessen in diese Richtung finden. Es gab aber keinerlei Ansätze zum Pipelinebau und außerhalb einer von China betriebenen Kupfermine auch keine Ansätze für den Abbau von Bodenschätzen.

Diese Frage ist insofern nicht unwichtig, als damit die Frage nach konkreten Perspektiven verbunden ist. Wenn es ein ernsthaftes Interesse an Bodenschätzen gäbe, dann müsste das Konsequenzen haben. Für Prospektierung, Abbau und Transport von Bodenschätzen ist ein Minimum an Sicherheit erforderlich, das derzeit nicht im Lande gegeben ist. Wenn sich diese Sicherheit nicht durch eine Niederschlagung des Aufstandes erzielen lässt, dann müsste es Interesse an einer Verhandlungslösung geben, um so zu Sicherheit und damit an die begehrten Rohstoffe zu kommen. Die Taliban hatten in den letzten Jahren über verlässliche Kanäle Signale an die US-Regierung und Regierungen der NATO-Staaten gesendet, dass sie sich Verträge über den Rohstoffabbau mit US-amerikanischen und europäischen Firmen vorstellen können und an Verhandlungen über eine dauerhafte Friedenslösung interessiert seien. Eine Antwort auf diese Signale gab es nicht.

Andere Vermutungen richten sich auf ein massives Interesse der USA an Militärstützpunkten. Dazu braucht es nicht so große Anforderungen an die Sicherheitslage im ganzen Land. Da würde es ausreichen, wenn diese Stützpunkte soweit gesichert sind, dass sie von den Taliban nicht eingenommen werden können. Ob diese Stützpunktpläne aber noch in das notwendig gewordene Sparkonzept für das US-Militär passen, bleibt offen. Da kommt es auf die Schwerpunktsetzungen künftiger Militärstrategie an. Das gegenwärtige Schwanken der Obama-Administration zwischen dem Beharren auf der Unterzeichnung eines bilateralen Stationierungsabkommens zwischen Afghanistan und den USA (nicht der NATO!) und der Drohung eines Komplettabzugs der US-Truppen zum Jahresende lässt unterschiedliche Deutungen zu.

Die Position der Bundesregierung ist ähnlich wie die anderer europäischer Regierungen noch undeutlicher. US-Militärstützpunkte müssten nicht zwingend in ihrem Hauptinteresse liegen. Rohstoffinteressen wurden von Seiten der Bundesregierung seit 2011 deutlich benannt, gleichzeitig aber keinerlei Schritte zur Realisierung unternommen.

Lautstark propagierte zivile Ziele wie Demokratisierung, Stärkung der Frauenrechte usw. wurden trotz subjektiv ehrlichen Bemühungen ziviler Akteure vor Ort letztlich zu keinem Zeitpunkt ernsthaft angegangen. Dass das stolze afghanische Volk eine wechselvolle und auch widersprüchliche Geschichte im Umgang mit diesen Themen hat, an die sich einerseits positiv anschließen lässt, wo andererseits aber auch mögliche Widerstände sichtbar werden, die beachtet werden müssen, wurde häufig schlicht ignoriert. Stattdessen wurde Afghanistan im Rahmen von „nation building“-Projekten behandelt, als ließen sich auf einer „tabula rasa“ beliebige Modelle aus anderen Ländern, die dort in konkreten historischen Zusammenhängen langsam gewachsen waren, mal eben per „copy and paste“ übertragen.

Die Interessen der Karzai-Regierung und der sie tragenden Nordallianz dürften am ehesten an der Aufrechterhaltung des Status quo und vor allem auf dem Zugriff auf westliche Gelder liegen, die sie – wie öffentlich berichtet – zum Teil in Kisten außer Landes schaffen.

Die Interessen der Taliban sind unscharf. Da geht es wohl vor allem um eine Vertreibung der ausländischen Besatzer und um eine Rückkehr zu islamischen Traditionen, was aber nicht zwingend eine Rückkehr zu einer Schreckensherrschaft wie 1985-2001 bedeuten muss.

Dass der Krieg gescheitert war, wussten Militärs seit langem. Der erste Befehlshaber des Einsatzführungskommandos Potsdam, General Friedrich Riechmann, benannte den Dezember 2001 als Zeitpunkt des Scheiterns, als Bin Laden in der Schlacht um den Höhlenkomplex Tora Bora nicht gefasst werden konnte und der vermeintliche „Krieg gegen den Terror“ in eine militärische Dauerbesatzung des Landes umgewidmet wurde.

Den bisher realistischsten Weg aus dem Afghanistankrieg und hin zu einer tragfähigen Friedensordnung zeigten die deutsche „Kooperation für den Frieden“ und die Nationale Friedensjirga Afghanistans auf. In einer gemeinsamen Erklärung benannten beide am 4.9.2008 den Weg zu Verhandlungen zwischen der afghanischen Regierung und den aufständischen Taliban. Auch die Nachbarstaaten Afghanistans und die internationale Gemeinschaft sollten auf verschiedenen Ebenen in einen Verhandlungsprozess eingebunden werden. Der Sonderbeauftragte des Auswärtigen Amtes, Bernd Mützelburg, nannte im März 2010, kurz vor seiner Pensionierung, diese Erklärung der Friedensbewegungen „die Agenda zur Lösung des Afghanistan-Konflikts“.

Und es blieb nicht bei papierenen Erklärungen. Dem im Juli 2009 von der „Kooperation für den Frieden“ und der Nationalen Friedensjirga Afghanistans gemeinsam entwickelten Vorschlag für einen regionalen Waffenstillstand für Kunduz, der nach und nach auf ganz Afghanistan ausgeweitet werden sollte, stimmte am 23. September 2009, wenige Wochen nach dem Tanklaster-Bombardement des Oberst Klein, explizit auch ISAF-Oberfehlshaber General Ramms zu. Doch Ramms konnte sich mit seiner Waffenstillstands-Initiative weder bei der NATO noch bei der Bundesregierung durchsetzen.

Gemeinsam mit Ramms suchte auch der britische General Graeme Lamb als Leiter der Abteilung „Reintegration“ im ISAF-Hauptquartier in Kabul nach einer politischen Lösung, um den verlorenen Krieg zu beenden. Ihm war im Oktober 2009 klar: „Wir Briten haben bisher jeden Krieg in Afghanistan verloren. Wir werden auch diesen verlieren.“

Ab Frühjahr 2010 entstand unter Vermittlung des afghanischen Stammesführers und Mitbegründers der Nationalen Friedensjirga Afghanistans, Naqibullah Shorish, ein spannender Dialogprozess zwischen dem ISAF-Oberkommando und der Talibanführung, der im Juli und August 2010 zu direkten Gesprächen zwischen deutschen, britischen und US-Offizieren und drei Talibanführern, den Kommandeuren der Regionen Kabul und Jalalabad, sowie einem Abgesandten Mullah Omars, führte.

Was zuvor kaum jemand für möglich gehalten hätte: Dieser heterogene Gesprächskreis entwickelte in kürzester Zeit wesentliche Grundlagen für eine tragfähige Friedenslösung einschließlich einer Übergangsregierung, die zunächst auf regionaler Ebene ausprobiert werden sollte, um sie später auf ganz Afghanistan zu übertragen. Diese damals entwickelten Gedanken fanden später ihren Niederschlag im Shorish-Friedensplan, dem die Talibanführung zustimmte.

Die hoffnungsvollen Gespräche endeten abrupt im Oktober 2010, wenige Tage nach der Pensionierung von General Ramms, als einer der beteiligten deutschen Offiziere – wohl auf Anweisung des US-Oberbefehlshabers General Petraeus – mitteilte, sie dürften nur noch über „Reintegration“ sprechen, nicht mehr über „Reconciliation“ (Versöhnung). Reintegration hieß in diesem Zusammenhang die Forderung nach einer Kapitulation der Aufständischen. Reconciliation war die Suche nach einer gemeinsamen Friedenslösung!

Fortan wurden für Gespräche „Taliban“ gesucht, die kapitulationsbereit waren. Im „Fortschrittsbericht Afghanistan“ vom Januar 2014 der Bundesregierung liest sich das auf Seite 31 so: „Die Bundesregierung ist weiterhin der Überzeugung, dass nur ein innerafghanischer Friedens- und Versöhnungsprozess dauerhaften Frieden für Afghanistan bringen kann. Am Ende dieses Prozesses müssen alle Seiten die in Bonn 2011 bekräftigten „Roten Linien“ – neben dem Verzicht auf Gewalt und dem vollständigen Bruch mit dem internationalen Terrorismus vor allem die Anerkennung der afghanischen Verfassung – respektieren.“

Mit Al Kaida hatten die Taliban schon 2009 öffentlich gebrochen und ein Gewaltverzicht ist per definitionem Grundlage jeder Friedensvereinbarung. Das Verlangen nach Anerkennung der Verfassung, die die Taliban als von den USA aufoktroyiert betrachten, ist aber in dieser Form schlicht inakzeptabel. Als in den Geheimgesprächen 2010 die Verfassungsfrage thematisiert wurde, hatten die Taliban-Vertreter vorgeschlagen, doch stattdessen die Verfassung aus der Zeit des Königs zu übernehmen. Diese entsprach afghanischen Traditionen und war vom Westen zu keiner Zeit kritisiert worden. Auch gegenüber inhaltlichen Fragen, was in einer Verfassung stehen sollte, zeigten sie sich aufgeschlossen.

Da es unter den vom Westen gestellten Vorbedingungen keine ernsthafte Gesprächsbereitschaft der Taliban gibt und der wiederholt vorgetragene Taliban-Vorschlag, die Gespräche von 2010 wieder aufzunehmen, vom Westen unbeantwortet bleibt, erscheint eine tragfähige Verhandlungslösung bis zum Jahresende ausgeschlossen.

Die Illusion des Westens, die afghanische Armee würde alleine die Taliban niederschlagen, was gemeinsam mit mehr als 100.000 NATO-Soldaten nicht gelang, dürfte nach einem Abzug der NATO-Kampftruppen wohl schnell zerplatzen.

Irgendein Konzept für ein Afghanistan nach 2015 gibt es weder von den USA  noch aus Europa einschließlich Deutschlands, nicht von Seiten der Karzai-Regierung und der sie tragenden Nordallianz und auch nicht von den Taliban.

Damit stehen die Zeichen in Richtung auf eine neue Phase eines Bürgerkrieges!

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Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de