Neue Anfragen im gesellschaftlichen Klima von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus

Zivilcourage ist angesagt

von Renate Wanie

Seit letzten Herbst erreichen die Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden und andere Einrichtungen, die handlungsorientierte Bildungsarbeit auf der Grundlage von Gewaltfreiheit und Gewaltfreier Aktion durchführen, eine neue Art Seminaranfragen. Es geht zum einen um die Vorbereitung von Aktionen, mit denen Flüchtlings- und Asylbewerberlnnen-Heime von Gruppen “geschützt“ werden sollen. Und zum anderen gibt es die Anfragen nach Trainings, in denen gelernt werden kann, wie frau/man sich in Situationen personaler und direkter Bedrohung und Gewalt im öffentlichen Raum - wie beispielsweise in der Straßenbahn oder in der Kneipe - verhält. Ein weiterer Wunsch ist es, die in diesem Zusammen­hang notwendige Zivilcourage einzuüben. Bürger/innen möchten als einzelne in Konfliktsituationen nicht nur eingreifen, sondern zudem sich in Bedrohungssituationen wehren und schützen.

Was die Dringlichkeit der Anfragen und die personelle Situation betrifft, sind die Einrichtungen überlastet. Der Anlaß für die zahlreichen Nachfragen ist, dass zunehmend fremdenfeindliche und rassi­stische politische Klima in der BRD und die folgenschweren, brutalen Übergriffe auf Fremde, Behinderte, Berber und Linke. Im Besonderen seit dem schreck­lichen Brandanschlag in Mölln stand das Telefon nicht still und vermittelte scheinbar den Eindruck, die ganze Republik wolle plötzlich Zivilcourage und Aktionsvorbereitung lernen, um in der Öffentlichkeit bedrohte Fremde, aber auch Asylbewerberlnnen-Heime zivil zu schützen.

 

Woher kommen die Anfragen?

Im Vergleich zu den vergangenen zehn Jahren kommen die neuen Seminaranfragen von Gruppierungen aus einem breiteren Bevölkerungsspektrum. Wäh­rend Mitte der Achtziger bestehende Gruppen, überwiegend aus der Friedens­bewegung und Ende der Achtziger auch aus der Ökologiebewegung, anfragten, die gewaltfreie Aktionen vorbereiten wollten, ist heute auffallend, daß vermehrt Berufsgruppen dabei sind. Sozial­arbeiter/innen und  -pädagogen/innen, Lehrer/innen, Pfarrer/innen und Dia­kone/innen müssen sich in ihrem Ar­beitsbereich zunehmend mit Gewalt, Aggression und gewaltfreiem Handeln als Alternative zur Gewalt aus­einandersetzen. So ist etwa der grund­sätzliche Umgang mit personaler direk­ter Gewalt auf Schulhöfen zunehmend ein drängendes Thema geworden.

Neben bestehenden Gruppen aus den sozialen Bewegungen" sind folgende neu

dazugekommen: antifaschistische Foren, hauptsächlich aus universitärem Zusammenhang, viele, sich in den letzten zwei Jahren neu. gegründete Asylgrup­pen und Gruppen, die sich zu Notruf­telefonketten zusammengeschlossen ha­ben.

 

Neue Lernziele

Das Neue bei den unterschiedlichen An­fragen ist, daß nicht nur Gruppen, sondern Bürger und Bürgerinnen als ein­zelne im Alltag aktiv sein und ganz bewußt und gezielt Zivilcourage lernen wollen, um sich für bedrohte Ausländer/innen einzusetzen. Das heißt, sie wollen in der geschützten Atmosphäre des Workshops mit einem Verhalten­straining einüben, ihre Angst und inne­ren Blockaden zu überwinden. Mit all ihrem Mut wollen sie persönlich und öffentlich für die Einhaltung von Menschenwürde eintreten und parteiisch und bevorzugt gewaltfrei in bedrohli­chen Konfliktsituationen eingreifen.

 

Die Rolle der Aktion "Courage"

Mit ihrem Aufruf, sich in Situationen einzumischen, wo Menschen von Ausländerhaß und rassistischer Gewalt be­droht sind, hat die bundesweite Aktion "Courage" sicherlich nicht nur zu mehr Bewußtsein und Aufmerksamkeit beige­tragen, sondern auch viele ermutigt, tatsächlich einzugreifen. Wer sich die­sem Aktionsaufruf anschließt, trägt als Zeichen der Selbstverpflichtung einen dreieckigen schwarz-weiß-gestreiften Button (Das Dreieck der Buttons soll an den Winkel der politischen Gefangenen der Nazizeit, das Gelb an den Judenstern erinnern. Das Zebra wurde vom

europäischen Anti-Rassismus-In­formationszentrum in Rotterdam übernommen.) mit Zebra und der Aufschrift "Courage" auf gelben Grund oder gut sichtbar eine Sicherheitsnadel. Diese Symbole sollen zum Ausdruck bringen, daß seine Träger/innen bereit sind, den Mund aufzumachen und antisemitischen oder ausländerfeindlichen Äußerungen zu widersprechen und bei Angriffen zu helfen oder Hilfe zu holen. Die bundes­weite Initiative hofft, die angekündigte Selbstbewaffnung bedrohter Menschen damit unnötig zu machen. Die Buttons selbst sind leider noch zu selten im Straßenbild zu sehen.

Die im Juni 92 von einem breiten Bündnis Dresdner Jugendorganisationen initiierte Aktion "Courage" spielt sicher keine unbedeutende Rolle bei dem zunehmenden Interesse, Zivilcourage und gewaltfreies Verhalten in Trainings ein­zuüben. Aufgenommen und weiterver­breitet von der Initiative "Forum Buntes Deutschland - SOS Rassismus" erreichte diese handlungsorientierte Aktion einen relativ großen Bekanntheitsgrad in Ost­- und Westdeutschland.

 

Fragen und Überlegungen

Ist derzeit individueller Widerstand an­gesagt, nachdem für viele kollektives Handeln in einer Gruppe kein Thema mehr ist? Viele Friedens- und Aktionsgruppen haben sich nach der Raketenstationierung Mitte der Achtzi­ger und nach dem zweiten Golfkrieg, den sie nicht verhindern konnten, auf­gelöst, teilweise aus Frust, Resignation und Perspektivlosigkeit. Muß nun, wo es um die Verteidigung von Men­schenrechten geht, der direkte personale Schutz von Menschen im Vordergrund stehen durch das zivile Eingreifen von einzelnen? Die letzte Frage möchte ich, bejahen, allerdings müssen wir dazu neue Handlungsformen einüben und die Zivilcourage von einzelnen stärken.

 

Die Zeiten, in denen wir nur über Frem­denfeindlichkeit reden, sind vorbei. Uns Fremden gegenüber tolerant zu verhal­ten, ihre Anwesenheit nur zu dulden und gleichzeitig auf die Übergriffe von Rechts auf ausländische Bürger/innen nur mit verbaler Empörung zu reagieren - solche Zurückhaltung können wir. uns in der derzeitigen politischen Situation nicht mehr leisten.

 

Die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl und das damit verschärfte politische Klima von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, das bis in die bürgerliche Mitte hinein­reicht, fordert geradezu heraus, sich vermehrt und in allen Bereichen des Alltags dort einzumischen, wo Fremde unseren Schutz brauchen. Eindeutige Stellungnahmen, die über den reinen Protest der Demonstrationen und der "von oben" erlaubten schweigenden Lichterkette hinausgehen, stehen jetzt auf der Tagesordnung.

 

Viele Bürgerinnen und Bürger denken ähnlich. Deshalb probieren sie beispielsweise in Seminaren der Werkstatt entsprechende Handlungsmöglichkeiten für solche Aktionen aus, mit denen sie sich in ihrem Alltag und vor allem öf­fentlich in Bedrohungssituationen ein­mischen wollen -Zivilcourage ist angesagt!

 

Der Artikel ist ein Beitrag aus "Gewaltfrei Aktiv" Nr.3/93, Mittei­lungen der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden.

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