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Zivilistinnen und Zivilisten im Kaschmirkonflikt
Zwischen den Fronten
vonVor wenigen Jahren noch wurde der Konflikt in und um Kaschmir zu den bekanntesten und gefährlichsten Konflikten der Welt gezählt. Dabei war es vor allem die Furcht vor einer Eskalation der Spannungen zwischen den Atommächten Indien und Pakistan, die damals für internationales Aufsehen gesorgt haben. Mit der vorläufigen Entschärfung der bilateralen Situation vor allem aufgrund geopolitischer Entwicklungen ist auch das Interesse am „Kaschmirproblem“ gesunken. Gleichwohl besteht es fort und für die Menschen in der Krisenregion hat sich die Situation noch lange nicht entspannt.
Geteilt und besetzt
Kaschmir liegt zwischen Indien, China, Pakistan und Afghanistan am westlichen Ende des Himalaja. Seit der Unabhängigkeit und Teilung Indiens und Pakistans 1947 ist seine Zugehörigkeit umstritten. Vormals ein Fürstentum unter britischem Protektorat, beanspruchten nach der Teilung beide Staaten das Gebiet. Nach drei indo-pakistanischen Kriegen verläuft heute eine formell verstetigte Waffenstillstandlinie, die Line of Control, durch Kaschmir und teilt es in zwei wesentliche Abschnitte, den größeren und bevölkerungsreicheren unter indischer Kontrolle, den anderen unter pakistanischer.
Der Streit um Kaschmir hat die Spannungen im indisch-pakistanischen Verhältnis über Jahrzehnte hinweg geschürt, zugleich ist Kaschmir Projektionsfläche für tiefer greifende Zerwürfnisse, die eng mit der leidvollen Teilung des Subkontinents zusammenhängen.
Bis heute sieht Pakistan, das selbsterklärte Heimatland der Muslime des Subkontinents, Kaschmir wegen seiner mehrheitlich muslimischen Bevölkerung als integralen Bestandteil an. Indien hält dem einen Anschlussvertrag entgegen, den der letzte (hinduistische) Fürst Kaschmirs 1947 unterzeichnet hat. Und auch in der indischen Staatsideologie ist Kaschmir bedeutsam; den einzigen Bundesstaat mit muslimischer Mehrheit zu verlieren wäre verheerend bezüglich des Anspruches, ein säkularer und integrativer Staat für alle darin vertretenen religiösen Gruppen zu sein. Letztlich geht es für Indien darum, sein ethnisch-religiöses Mosaik zusammenzuhalten.
Bürgerkrieg
Zur internationalen Dimension des Konfliktes trat seit Ende der achtziger Jahre eine zweite Konfliktebene, die für die Bevölkerung heute allgemein viel weiter reichende Folgen hat als der festgefahrene Streit zwischen den Staaten. Als Reaktion auf die autoritäre und repressive Herrschaftsausübung der indischen Zentralregierung in Kaschmir, unter völliger Missachtung des verfassungsrechtlich zugesicherten semiautonomen Status, durch Verbot von Parteien und massenhafte Verhaftungen politisch Aktiver, massive Eingriffe in Wahlen und Einsetzung von Marionettenregierungen, Missachtung der Bürger- und Freiheitsrechte der Bewohner_innen und die konsequente Verunmöglichung politischer Partizipation formierte sich zu dieser Zeit massiver Widerstand gegen die indische Staatsgewalt. Es waren zum einen militante Gruppen, die gegen staatliche Strukturen und Repräsentant_innen vorgingen, wie auch große Teile der Bevölkerung, die in Massenprotesten für eine Unabhängigkeit Kaschmirs eintraten.
Indien reagierte mit massiver Repression und oftmals tödlicher Gewalt gegen friedliche Demonstranten_innen und schaffte es im Folgenden auch weitestgehend, die säkular-separatistischen Gruppen zu zerschlagen, nicht aber die aus dem Ausland (besonders Pakistan) gelenkten Strukturen militanter, teils islamistischer Gruppen, die den bewaffneten Kampf fortsetzten, ohne Rückhalt der Bevölkerung und oftmals gegen sie.
Seit nunmehr 18 Jahren herrscht somit offiziell und faktisch der Ausnahmezustand im Kaschmirtal, der Kernregion des indischen Bundesstaates, steht die Bevölkerung zwischen den Fronten von Militanten und Militär. Drakonische Ausnahmegesetze, absolut jenseits völker- und menschenrechtlicher Konventionen, berauben Zivilisten ihrer Grundrechte und decken die Gräueltaten des Militärs, indem sie es faktisch jeder Gerichtsbarkeit entziehen. Gezielte Menschenrechtsverletzungen durch willkürliche Festnahmen, Folter, außergerichtliche Hinrichtungen, Vergewaltigungen werden als Instrumente der Kriegsführung und Unterdrückung eingesetzt.
Die Militarisierung überprägt den Alltag, verdrängt und transformiert zivile Strukturen.
Alltag
Im Sommer 2006 haben wir Kaschmir bereist und zusammen mit Assabah Khan, einer lokalen Journalistin und Menschenrechtsaktivistin, einen Dokumentarfilm gedreht. Wenig verwunderlich, dass die „großen“ politischen Fragen, die als Kaschmirproblem gelegentlich in der internationalen Presse auftauchen, die territorialen Streitigkeiten, die atomare Bedrohung, in den Alltagswelten der Menschen eine eher marginale Bedeutung spielen.
Die Ruhe um Kaschmir in Medien und großer Politik ist dennoch trügerisch. Hameeda Naeem, Dozentin an der University of Kashmir, beschreibt die Lage so[1]:
„Seit Jahren ist unser Leben ein Albtraum. Es finden täglich Razzien statt, es finden täglich Zerstörungsaktionen statt, es finden täglich Morde, Vergewaltigungen und Übergriffe statt. Täglich verschwinden Menschen. Hier finden sich alle erdenklichen Arten von Menschenrechtsverletzungen. Jeden Tag werden in Kaschmir durchschnittlich 10-15 Menschen getötet. Berichtet wird darüber nicht. Und das alles passiert nur, weil Kaschmiris für das Recht auf Selbstbestimmung eintreten.“
Vor allem macht sie das indische Militär für die Menschenrechtsverletzungen verantwortlich. Wie es heißt, sind 700.000 indische Soldaten in Kaschmir, die Region gehört somit zu den am stärksten militarisierten Gebieten der Welt. Früher, so sagt Naeem, seien die Soldaten nur an den Grenzen stationiert gewesen, nicht aber in den Siedlungen. Mit dem Einsetzen des Widerstands gegen Indien richtete sich die Gewalt des Militärs verstärkt gegen die Bevölkerung. Auch wenn, wie sie sagt, die meisten Militanten tot seien und ihre Zahl heute unter 1.000 gesunken sei, werde ihre Präsenz von Indien als Vorwand genutzt, seine massive Militärpräsenz aufrecht zu erhalten. Auch hier bekämpft man offiziell Terroristen.
Assabah Khan betont die Allgegenwärtigkeit und Willkür der Gewalt, die Menschen hier besonders trifft. Zivilisten_innen, oft Kinder beim Spielen, abends auf der Straße, beim Feuerholzsammeln im Wald, werden erschossen, weil man sie angeblich für bewaffnete Kämpfer gehalten hat. Dabei gehen die Gewaltbedrohung und gezielten Menschenrechtsverletzungen von Seiten der staatlichen Sicherheitskräfte wie auch von verschiedenen bewaffneten Guerillagruppen aus, oft wird über die Übergriffe aus Angst vor Vergeltung nicht gesprochen.
Frauen
Besonderer Fokus unserer Forschung vor Ort und unseres Filmes war die Situation von Frauen.
Wie Assabah Khan beklagt, sei in Kaschmir die Ansicht verbreitet, sich mit Problemen der Frauen nicht auseinandersetzen zu müssen, bevor nicht die generellen politischen Fragen angegangen würden. Staatliche wie auch die separatistische Führer hielten die Stimmen der Frauen für unwichtig, und besonders traurig findet sie, dass die meisten Frauen ihre Unterdrückung als gegeben hinnähmen. Zwar gebe es viele starke Frauen, jedoch kaum Netzwerke oder Frauengruppen, die patriarchale Gesellschaft wie auch die Militarisierung erschweren die Bildung organisierter Strukturen. Dabei müsse der Kampf um Frauenrechte parallel zu dem um Frieden und Freiheit geführt werden.
Krieg und Militarisierung generieren vielfältige genderspezifische Probleme, wirken subtil in familiäre Alltagswelten, verschieben Rollenverhältnisse etc. Afsana Rashid, eine der wenigen Journalistinnen in Kaschmir, schreibt häufig und gezielt über die Situation von Witwen, Waisen und die Familien von „Verschwundenen“, Themen die, wie sie sagt, sonst wenig Beachtung finden. 20 000 bis 30 000 Witwen leben in Kaschmir und bis zu 10 000 Halbwitwen, also Frauen, deren Männer verschleppt wurden und deren Tod zwar nie bestätigt wurde, aber in den meisten Fällen angenommen werden muss. „Halb-Witwen müssen sich alleine um ihre Kinder kümmern. Das führt vermehrt zu Schulabbrüchen der Kinder, da die Schulgebühren nicht gezahlt werden können und auch die Kinderarbeit steigt. Denn erwerbstätige Frauen werden ausgebeutet und zu gering bezahlt.“ Massive ökonomische Nöte und Abhängigkeiten treffen die vielen verwitweten Frauen und ihre Kinder am stärksten.
Lösungen
Perspektiven für eine „umfassende Lösung“ des territorialen Konfliktes gibt es wohl kaum, da sich hier zwei (atomare) Großmächte gegenüberstehen die nicht bereit sind, auf die von ihnen kontrollierten Gebiete zu verzichten. Zugleich sind die Rivalen von einem Stadium offener Eskalation zu beherrschter Diplomatie zurückgekehrt und zeigen immer mal wieder verhaltene Bereitschaft, sich um eine Beilegung des Konflikts zu bemühen.
So werden wohl die heutigen territorialen Grenzen auch in Zukunft bestehen bleiben, auch wenn, wie erneute Massenproteste im Juli 2008 gezeigt haben, die Forderung nach Unabhängigkeit noch immer sehr stark ist. Doch gilt ein autonomer Staat Kaschmir unter heutigen Machtverhältnissen als utopisch. Entscheidend ist also weniger die Frage territorialer Zugehörigkeit als die konsequente Demilitarisierung der Region, das Ende der faktischen Rechtsfreiheit und der massiven Menschenrechtsverletzungen etc.
Selbstbestimmung bezieht sich in der Rhetorik um den Kaschmirkonflikt meist auf ein Selbst, das reell nicht existiert, eine proklamierte kaschmirsche Identität, die die Heterogenität der Interessen und Gruppenzugehörigkeiten verkennt. Die praktischen Kämpfe um Selbstbestimmung werden auf partikularer Eben geführt, in den Forderungen der geflohenen Hindus nach Wiedergutmachung und Rückkehr, der Frauen nach Teilhabe und Gleichberechtigung, der Kriegsopfer nach einem Ende der Gewalt und Perspektiven für die Zukunft.
Es geht dabei um eine Anerkennung von Standpunkten, die Schaffung von Handlungsperspektiven und Möglichkeiten der Partizipation. In der Unterstützung der kleinen Kämpfe für Frieden und Gleichberechtigung sehen wir auch unsere Anknüpfungspunkte „von außen“.
Assabah Khan hat ihre Gedanken zur Friedensfindung so formuliert:
„Wenn Sie mich nach einer politischen Lösung fragen, denke ich, dass alle Seiten, Indien, Pakistan und auch die Menschen in Kaschmir mehr Flexibilität in der Annäherung brauchen. Indien muss endgültig mit dem Truppenabzug in Kaschmir beginnen. Kaschmir gleicht im Moment einem wunderschönen Gefängnis. 700 000 Soldaten überwachen die Zivilbevölkerung. Diese Zahl muss reduziert werden. Und die indische Regierung soll Demokratie mit fairen Mitteln umsetzen.
Auf pakistanischer Seite müssen die Ausbildungslager aufgelöst werden. Militante Gruppen müssen vollständig entwaffnet werden und ihre Angriffe müssen aufhören. Die Kaschmire selber brauchen ein multikulturelles Verständnis der Gesellschaft, sie müssen wieder beginnen sich mit unterschiedlichen Kulturen auseinander zu setzen. Nur so wird es eine Lösung für das Kaschmir Problem geben.“
Quellen
Sumantra Bose. Kashmir: Roots of Conflict, Paths to Peace. Cambridge: Harvard University Press, 2003
Human Rights Watch Report. Volume 18, No.11(C) “Everyone Lives in Fear” Patterns of Impunity in Jammu and Kashmir, September 2006