ber die "Dritte-Welt"-Bewegung in der BRD

Zwischen Unterschriften und Straßenkampf

von Olaf Kaltmeier
Schwerpunkt
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Wenn es schon ein schwieriges Unterfangen ist, die Geschichte und Gegenwart einer sozialen Bewegung auf wenigen Seiten darzulegen, so gilt dies allemal für die "Dritte-Welt"-Bewegung der BRD mit ihren regionalen, thematischen und politischen Differenzen. Entsprechend geht es mir hier auch nicht um eine detaillierte Darstellung, sondern um schematische Skizzierung die versucht, die Bewegung in den Kontext globaler Zusammenhänge zu stellen.

Aufbruch
Bereits neun Jahre nach der Gründung der BRD entstand 1957 die erste Ländersolidaritätsbewegung mit Algerien. Getragen aus dem internationalistisch orientierten Arbeitermilieu trat diese Bewegung für die Unterstützung des antikolonialen Befreiungskampfes der FLN ein. Motiviert war diese Bewegung v.a. von der moralischen Empörung angesichts der Menschenrechtsverletzungen in Algerien, was durch persönliche Kontakte mit in der BRD lebenden AlgerierInnen verstärkt wurde. Nach dem erfolgreich geführten Befreiungskampf löste sich diese Bewegung auf. Generell war die Bewegungslandschaft in der BRD jedoch in dieser Zeit durch die restaurative Phase der Wirtschaftswunderzeit und durch die Fixierung im Ost-West-Konflikt geprägt.

Diese restaurative Phase wurde erst Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre im weltweiten Kontext der ersten kapitalistischen Krise der Nachkriegszeit, dem Erstarken national-revolutionärer Befeiungsbewegungen in Afrika, Asien und Lateinamerika, zunehmender Proteste auch in den Zentren aufgebrochen. In fast allen entwickelten kapitalistischen Ländern geriet die Hegemonie des konservativen Blocks ins Wanken. In den peripheren Ländern verstärkte sich die sozialrevolutionäre Linie, zum Teil mit deutlichen Abgrenzungen vom sowjetischen Modell. China versuchte durch die Kulturrevolution einen spezifisch chinesischen Weg zum Sozialismus zu beschreiten, während die kubanische Revolution sich mit dem sog. "Tropischen Marxismus" konsolidierte, die Viet-kong den Aufbau der sozialistischen Volksrepublik Vietnam betrieben, der Pan-arabische Sozialismus sich formierte und die Bewegung der Blockfreien eine dritte Macht jenseits des Systemkonfliktes zu begründen schien. Von den Bischofskonferenzen in Medellin (1968) und Puebla ausgehend entstand mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil im Rücken die Theologie der Befreiung mit der Option für die Armen.
 

In der BRD entwickelte sich ab Ende der sechziger Jahre auf der Basis der Vietnam-Solidaritätsbewegung und der "Ostermärsche" der Friedensbewegung die "außerparlamentarische Opposition" der 68er, in der der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) eine maßgebliche Rolle spielte. Der antikapitalistische und antiimperialistische Kampf gewann an Stärke - und verlagerte sich auf die Straße. Neben diesen konfrontativen Aktionsformen fand auch eine intensive theoretische Auseinandersetzung sowohl um die Verhältnisse in der BRD, hier vor allem die Aufarbeitung des NS-Faschismus und die Reform des Hochschulwesens, als auch um die Fragen von Kolonialismus, Imperialismus sowie Entwicklung - Unterentwicklung statt. Theoretisches Instrumentarium der Solidaritätsbewegung als auch der verschiedenen Befreiungsbewegungen im Trikont waren bis in die 80er Jahre hinein die unter dem Oberbegriff "Dependenztheorien" zusammengefassten Ansätze. Diese reichten von bürgerlichen, strukturalistischen Theorien der importsubstituierenden Industrialisierung bis hin zu marxistisch bzw. anti-imperialistisch inspirierten Positionen. Gemeinsam ist ihnen allerdings die Thematisierung internationaler, struktureller Abhängigkeits- und Ungerechtigkeitsstrukturen womit sie den Kontrapunkt zu der von den kapitalistischen Zentren vertretenen Modernisierungstheorie bildeten. Und sie brachte in der "Dritte-Welt"-Bewegung so unterschiedliche Aktionsformen wie den Fairen Handel zur Verbesserung der Preisstrukturen auf dem Weltmarkt an dem einen Pol und den anti-imperialistischen bewaffneten Kampf nach dem Vorbild der Stadtguerilla in den Zentren auf dem anderen Pol hervor.

Das Imperium schlägt zurück
Doch auf das Anwachsen systemoppositioneller Kräfte ließ die Reaktion nicht lange warten. In den 70er Jahren kündigte sich das Ende der revolutionären Hoffnung mit einer neoliberalen Globalisierungsoffensive des Kapitals und einer staatlichen Repressionswelle an, in deren Kontext radikale, systemoppositionelle Bewegungen gebrochen und alternative Modelle durch Militärgewalt zerschlagen wurden. In den 80er Jahren kamen im Trikont Militärdiktaturen oder autoritäre Regime an die Macht, während in den Zentren neoliberal orientierte, konservative Regierungen die Staatsführung übernahmen. Symbolisiert ist diese Situation in der Geschichte Chiles, als die Militärs mit Unterstützung der USA dem von Salvador Allende und der Unidad Popular beschrittenen "demokratischen Weg zum Sozialismus" ein blutiges Ende setzten, eine 17-jährige Militärdiktatur einrichteten und Ökonomie und Gesellschaft in ein neoliberales Experimentierfeld verwandelten.

In Reaktion auf den Putsch in Chile formierte sich in der BRD eine breite Solidaritätsbewegung, die von dem Schrecken und der Empörung angesichts der brutalen Menschenrechtsverletzungen in Chile geprägt war. Ab Mitte der 70er Jahre kam es zu einer länderspezifischen Ausdifferenzierung der "Dritte-Welt"-Bewegung, die bis weit in die 80er Jahre hinein Geltung haben sollte. Der ANC in Südafrika, der Ujamaa-Sozialismus in Tansania, die FSLN in Nicaragua und die FMLN in El Salvador, um nur einige zu nennen, bildeten feste Bezugspunkte für die Solidaritätsarbeit, die jedoch anders als in der Aufbruchstimmung Ende der 60er Jahre immer stärker reaktive Züge annahm: gegen eine US-Intervention in Zentralamerika, gegen das Apartheids-Regime, gegen Folter und Diktatur in Chile, Argentinien, Kurdistan oder der Türkei. Zudem wurde die Situation in der BRD z.T. als noch unveränderbarer denn in den Ländern des Trikonts erlebt. Ab den 70er Jahren, nach dem Ersticken der 68er-Proteste, die eine tiefgreifende gesellschaftliche Veränderung anvisierten, war eine tendenzielle identifikatorische Bezugnahme auf Befreiungsbewegungen im Süden festzustellen. Gesellschaftsveränderung in der eigenen Gesellschaft der BRD wurde als unrealisierbar erfahren und stattdessen wurden die persönlichen "revolutionären Träume" auf die Bewegungen im Süden projiziert.

Dennoch war die "Dritte-Welt"-Bewegung v.a. auch in Fragen der Öffentlichkeitsarbeit und der Publikation von Bewegungs-Zeitschriften aktiv. Eine politische Zusammenarbeit nicht parteigebundener Gruppen gab es ab 1977 im BUKO, dem Bundeskongress entwicklungspolitischer Aktionsgruppen. Bei punktuellen Anlässen, wie z.B. bei dem in den 80er Jahren bestimmenden Thema der Verschuldung und der Rolle der internationalen Organisationen wie IWF und Weltbank, konnte die Bewegung erhebliche Mobilisierungskraft entwickeln, war aber ansonsten durch eine große Autonomie der Einzelgruppen gekennzeichnet.

Die Versiegelung von Bewegung
Als 1989 die Sowjetunion und mit ihr der gesamte sozialistische Block einschließlich der an ihm angelehnten Entwicklungsstaaten kollabierte, wurde seit Ende des 2. Weltkrieges bestehende binäre Codierung in Ost und West, kapitalistisch und kommunistisch aufgelöst. Ideologisch setzte weltweit eine Neu-Codierung ein, in deren hegemonialen Form der neoliberale Kapitalismus als Endpunkt der allgemeinhistorischen Entwicklung interpretiert wurde. Für die "Dritte Welt"-Bewegung bedeutete dies zweierlei. Zum einen war von nun an generell jede systemoppositionelle Bewegung per se diskreditiert, war die Geschichte laut des Philosophen Fukuyama doch im Stadium des globalen Neoliberalismus zu ihrem Ende gelangt, oder in den Worten Magret Thatchers: "There is no alternative!" Zum anderen brachen die Bündnispartner weg, führten doch auch im Trikont viele der vormals unterstützten demokratischen Kräfte nach Ende der Diktaturen an der Regierungsmacht die gleiche neoliberale Politik fort.

Die Akteure sozialer Bewegungen in der BRD verflüchtigten sich weitgehend in private Nischen oder institutionalisierten sich seit den 80er Jahren in der Partei der "Grünen" oder in entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen. Aus ehemaligen Bewegungsorganisationen wurden entwicklungspolitische Kleinunternehmen, die von der neoliberalen Verschlankung staatlicher Aufgaben profitieren. Angesichts des Verlusts theoretischer Bezugspunkte, wie es die Dependenztheorie einmal war, und politischer Visionen ist die dem Prinzip der Reklame oder der Kulturindustrie unterworfene massenmedial aufbereitete Kampagne zur vorherrschenden Aktionsform geworden. Kaffee, Bananen, Schrimps, Blumen, Teppiche, T-Shirts, Fußbälle, Edelsteine ... wohl nicht ein Produkt des Südens, welches nicht der Kampagnenlogik unterworfen ist. Dabei unterliegen die auf Öffentlichkeit zielende Kampagnen- und Lobbyarbeit jedoch gerade den disziplinierenden Regeln der herrschenden Öffentlichkeit, was bedeutet, dass bereits zuvor die Schere im eigenen Kopf existiert: Man muss sich ja konsensbereit, dialog- und damit politikfähig zeigen. Wenn nicht, würde die Finanzierung über die EU-Fördertöpfe und Stiftungen gestrichen und auch an die Öffentlichkeit, verstanden als bürgerliche Medienlandschaft, würde die Kampagne nicht dringen. Somit wird an die AdressatInnen der Kampagne oftmals nur signalisiert: Ist das Siegel oder Zertifikat für ökologische und soziale Unbedenklichkeit erst einmal ausgestellt, kann munter weiter konsumiert werden, ohne dass die zugrunde liegenden Vergesellschaftungsverhältnisse auch nur im geringsten angerührt werden.

Ein Beispiel für diese disziplinierende Selbstzensur ist die Erlassjahrkampagne, die in ihren Forderungen weit hinter die Erkenntnisse der Bewegung der 80er Jahre zurückgeht. Zudem werden mögliche ernstzunehmende Akteure in den Ländern der "Dritten Welt" in die passive Opferrolle auf Werbeplakaten gedrängt und mögliche soziale Akteure der beteiligten Basisgruppen auf funktionelle UnterschriftensammlerInnen reduziert - an statt Empowerment der Politik von unten zu betreiben! Und ob auf der anderen Seite eine abgegebene Unterschrift einen Bewusstseins- und Verhaltenswandel induziert, oder eher die bequeme Form des Schuldablasses darstellt, möge jeder selbst entscheiden.

Andere Teile der "Dritte-Welt"-Bewegung wandten sich hoffnungsvoll dem durch die Rio-Konferenz initiierten Agenda-Prozess zu und mussten erkennen, dass Themen weltweiter sozialer Gerechtigkeit von den konsensorientierten Runden Tischen überrollt wurden.

Globalisierung von unten
Ende der 90er Jahre hatte der triumphalistische Diskurs des Neoliberalismus ein Ende. Die Schere zwischen arm und reich klafft immer weiter auseinander, und führt dazu, dass Individuen, Stadtviertel, Dörfer und ganze Regionen von den globalen Wirtschafts- und Informationsflüssen zwangsabgekoppelt werden. Parallel dazu wird deutlich, dass das alte Nord-Süd-Schema nicht mehr greift, denn die Demarkationslinie von Armut und Reichtum, Exklusion und Inklusion, verläuft nicht mehr allein zwischen dem geographischen Norden und Süden. Sondern es gibt den Süden auch im Norden und den Norden auch im Süden. Daraus hat die Dritte-Welt-Bewegung der 90er den Schluss gezogen, dass neue Bündnisse mit anderen Bewegungen auf lokaler Ebene geknüpft werden müssen, hierzu gehört v.a. die anti-rassistische und anti-faschistische Arbeit aber auch Verbindungen zur Anti-AKW-Bewegung werden gesucht. Umgekehrt haben aber auch diese anderen Bewegungen aufgenommen, dass sich Verelendung aber auch Reichtum globalisiert haben. So gab es auf der Anti-Castor-Kundgebung in Lüneburg in diesem Jahr Redebeiträge von Afrikanern von dem MigrantInnenzusammenschluss The Voice, die die globale Dimension der lokalen Castortransporte herausstellten. So liegt die Dialektik der globalisierten Herrschaftsstrukturen in der Möglichkeit weltweiter Widerständigkeiten. Das soll aber keineswegs bedeuten, dass sich aus den strukturellen Bedingungen direkt eine globale Widerstandsbewegung ableiten ließe. Soziale Bewegungen, und erst recht globale, fallen genau so wenig vom Himmel wie gemeinsame Interessen, sie müssen von den unterschiedlichen, unzähligen sozialen Akteuren konstruiert werden. Dabei ist keine länderspezifische Solidarität auf der Einbahnstraße von Nord nach Süd und noch weniger eine an Runden Tischen mit WirtschaftsvertreterInnen konzipierte Plakatreihe für verträglichen Konsum gefragt, sondern eine Globalisierung von unten, von sozialen Bewegungen und systemoppositionellen Gruppen weltweit. Zu diesem Konstruktionsprozess gehört sicherlich auch das Bewusstsein einer gemeinsamen Identität, einer geteilten Erfahrungswelt, wobei v.a. der zunehmende Autonomieverlust, von der von transnationalen Konzernen gesteuerten Wirtschaft, über staatliche Repression bis hin zur Patentierung und Manipulation menschlichen, tierischen und pflanzlichen Genmaterials, weltweit spürbar ist. Die Anti-Globalisierungsproteste in Seattle, Prag, Davos, Göteborg, Genua sind trotz, oder gerade wegen ihrer Heterogenität wesentliche Ansatzpunkte, gemeinsame Erfahrungen zu produzieren, die über globale Netzwerke wie ATTAC, dem Netzwerk zur demokratischen Kontrolle der Finanzmärkte, oder PGA (Peoples Globals Action) samt deren und anderer Internetforen wie z.B. Indymedia vertieft werden können.

Aber noch ist festzuhalten, dass diese Proteste reaktiv sind, d.h. auf Großevents der herrschenden Elite antworten, wobei die Gefahr besteht, dass sie sich auf das reine Gipfel-Hopping reduzieren. Um dieses zu verhindern, ist eine Globalisierung von unten, verstanden als transnationaler Diskussionsprozess zur Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten und Differenzen Sozialer Bewegungen aus verschiedenen thematischen und regionalen Kontexten vonnöten, deren Ziel der Aufbau einer gemeinsamen Verstehensbasis wäre, von der aus Handlungspotential erwachsen kann. Die harten Repressionen von Göteborg und Genua zeigen jedoch auch überdeutlich, dass systemoppositionelle Bewegungen bereits im Ansatz kriminalisiert und unter Aussetzung der Grundrechte bekämpft werden.

Literaturtipps:

Balsen, Werner und Rössel, Karl: Hoch die internationale Solidarität. Köln 1986

Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen. Heft 3, September 1994

Kaltmeier, Olaf und Ramminger, Michael (Hg.): Links von Nord und Süd. Chilenisch-deutsche Ortsbestimmungen im Neoliberalismus. Münster 1999

Kößler, Reinhart und Melber, Henning: A (Self-)Critical Sketch History of the West German Solidarity Movement with the Liberation Struggles in Southern Africa. 2001 (unveröff. Manuskript)

Medico international: Perspektiven internationaler Solidarität. Frankfurt a.M., Mai 1999

Ramminger, Michael und Weckel, Ludger: Dritte-Welt-Gruppen auf der Suche nach Solidarität. Münster 1997

SOLIDARIDAD Berichte und Analysen aus Chile. 20. Jg, Nr. 200, Jan./ Feb. 1999 (Schwerpunktausgabe zur Solidaritätsbewegung)

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Olaf Kaltmeier ist Soziologe und arbeitet am Institut für Theologie und Politik.