Redebeitrag für die Hiroshima / Nagasaki-Gedenkveranstaltung am 6. August 2021 in Bremen

 

- Sperrfrist: 6.8., Redebeginn: 12 Uhr -
- Es gilt das gesprochene Wort –

 

Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde,

der 6. August 1945 hat die Welt grundlegend verändert. Was zuvor Theorie war, war plötzlich grausame Realität. Eine Atomwaffe wurde erstmals als Kriegswaffe eingesetzt und offenbarte ihre enorme Zerstörungskraft.

Doch wie ging es weiter? Zunächst setzte ein gigantisches Wettrüsten zwischen Ost und West ein. Die Welt wurde von den beiden damaligen Großmächten, der Sowjetunion und den USA an den Rand eines Atomkrieges gebracht. Eines Krieges, der schon damals die vollständige Zerstörung der Erde zur Folge gehabt hätte. Doch auf dem Höhepunkt der sogenannten Kuba-Krise reifte eine wesentliche Erkenntnis: Ein Atomkrieg ist für keine Partei gewinnbar, sondern führt in die gegenseitige Vernichtung.

Die Bewältigung der Kuba-Krise 1962 war der Ausgangspunkt für eine neue Phase der internationalen Politik. Auf der Basis eines Gleichgewichts des Schreckens, also der Fähigkeit, einen atomaren Zweitschlages zu führen und damit auch den Angreifer zu vernichten,  versuchte man die Situation zu stabilisieren,

  • durch einen vereinbarten Krisendialog,
  • durch Rüstungsbegrenzung
  • und schließlich sogar durch Abrüstungsverträge.

Aber in den letzten Jahren scheinen die Lehren dieser Zeit vergessen zu sein. Konfrontation statt Kooperation bestimmen wieder die internationalen Beziehungen. Und wieder findet sich ein typisches Muster. Jeweils ist die andere Seite an der Zuspitzung der Konflikte schuld. Auch wenn es für das Fehlverhalten des jeweils Anderen jeweils gute Belege gibt, führt uns diese Haltung nicht auf einen Weg des dauerhaften Friedens.

Wir brauchen eine neue Kooperations- und Vertrauenskultur. Erste Schritte sind die Reduzierung der militärischen Provokationen sowie die Einleitung neuer Gespräche über Rüstungsbegrenzung und Abrüstung. Und diese Schritte müssen untermauert werden durch gegenseitig vorteilhafte Kooperationen. Der Grundgedanke dahinter ist sehr einfach. Die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass man sich an die Gurgel geht, wenn man sich kennt, einschätzen kann und vielfältige gegenseitige Verflechtungen hat.

Zentral für Deutschland und Europa sind zwei Punkte:

Erstens brauchen wir eine neue Partnerschaft mit Russland. Sicherlich, der Weg dahin wird nicht einfach sein. Das Verhalten Russlands ist in vielerlei Hinsicht nicht akzeptabel. Aber zu einer neuen Entspannungspolitik gibt es keine vernünftige Alternative.

Zur Zeit dominieren gegenseitiges Säbelrasseln, gegenseitige Sanktionen und verbale Attacken. Die Erfahrungen der Geschichte besagen, dass damit aber nicht mehr Sicherheit geschaffen wird, sondern die Gefahr einer militärischen Konfrontation steigt.

US-Präsident Biden hat jüngst den ersten richtigen Schritt getan. Der auf dem Gipfel mit dem russischen Präsidenten vereinbarte neue Dialog muss konstruktiv zum Erfolg geführt werden. Diesen Schritt sollten die Europäer unterstützen.

Da kann die NATO durchaus auch Vorleistungen erbringen. Etwa den Abzug amerikanischer Atomwaffen aus Deutschland. Die Waffen stellen eine verzichtbare militärische Bedrohung Russlands dar. Ihr Abzug würde die Zweitschlagsfähigkeit der NATO nicht schwächen, wäre aber ein positives Signal an die russische Regierung.

Ein weiterer wichtiger Schritt für ein konstruktiveres Verhältnis mit Russland ist der Beschluss zur Fertigstellung von North Stream II. Um ehrlich zu sein, ich habe nie verstanden, weswegen wir abhängiger von russischem Gas werden, nur weil es durch die Ostsee und nicht mehr durch die Ukraine zu uns gelangt.

Im Ukraine-Konflikt sollten wir die Erkenntnis, dass dieser Konflikt militärisch nicht lösbar ist, an den Anfang neuer Friedensbemühungen stellen. Es hilft nicht, wenn britische Kriegsschiffe in russische Hoheitsgewässer eindringen, wie jüngst geschehen. Ebenso haben die Sanktionen gegen Russland bisher keine Wirkung gezeigt. Deshalb sollten wir diese Schritte überdenken und besser im Rahmen der OSZE und im Minsker Format neue Initiativen ergreifen, wie wir die Minsker Vereinbarungen von 2015 doch noch zum Erfolg führen.

Nun sage bitte keiner, dies sei mit dem Despoten Putin doch blanke Illusion. Auch in den 60er, 70er und 80er Jahren war immer wieder zu hören, dass mit der Sowjetunion als dem Hort des Bösen keine Verbesserungen herbeizuführen sei. Die Geschichte hat uns das Gegenteil bewiesen. Das Ganze hieß damals: Wandel durch Annäherung! Und es war erfolgreich.

Aber die Konfrontation mit Russland ist nicht der einzige Krisenherd. Ein nicht minder bedrohlicher Konflikt entwickelt sich im Indo-Pazifik. Deswegen müssen Europa und Deutschland ihre Anstrengungen darauf richten, die Aufrüstungsspirale im Südchinesischen Meer zu stoppen. Jüngst wird wieder beklagt, dass China offensichtlich auch atomar aufrüstet. Nicht erwähnt wird aber, dass die Militärpräsenz des Westens im südchinesischen Meer von China als Bedrohung wahrgenommen werden muss. Was würden wir denn sagen, wenn chinesische Flugzeugträger inklusive militärischer Begleitschiffe im Atlantik und dem Mittelmeer kreuzen, um sicherzustellen, dass die Sicherheit chinesischer Containerschiffe im Mittelmeer und im Atlantik gewährleistet ist und die Handelswege offen bleiben.

Und es darf nicht vergessen werden. Die nackten Zahlen deuten eher darauf hin, dass die NATO-Staaten die Aufrüstung vorantreiben. Der Verteidigungsetat von Großbritannien, Frankreich und Deutschland ist schon heute doppelt so hoch wie der russische Militärhaushalt. Die Verteidigungsausgaben der USA sind etwa dreimal so hoch wie die von China. Aber in unserer Lesart sind Russland und China die Bedrohung. Was müssen die beiden Staaten eigentlich über uns denken.

Sicher: Die Haltung zu Menschenrechten und die formulierten Gebietsansprüche Chinas sind ein erhebliches Problem. Aber auch hier hilft nur Diplomatie und keine militärischen Drohgebärden.

Deswegen brauchen wir eine Reduzierung der westlichen Militärpräsenz im südchinesischen Meer und die Aufnahme von Verhandlungen zur Rüstungsbegrenzung und Abrüstung in der Region.

Deswegen ist es auch nicht akzeptabel, dass Deutschland sich momentan an der Hochrüstung der Region beteiligt. Am Montag dieser Woche ist in Wilhelmshaven ein deutscher Zerstörer mit dem Ziel Indo-Pazifik ausgelaufen. Das Schiff muss umgehend zurückbeordert werden. Stattdessen brauchen wir einen neuen Dialog mit China über die Sicherheit in der Region, der sich natürlich auch mit den schwierigen Fragen wie etwa der Zukunft von Hong Kong und der Sicherheit von Taiwan befassen muss. Deutschland könnte hier eine fruchtbare Rolle als Vermittler einnehmen, allerdings nur wenn wir uns militärisch zurückhalten.

Hiroshima hat die Welt schon einmal aufgerüttelt. Der 6. August hat gezeigt, was Atomwaffen anrichten können. In den folgenden Jahren ist die Erkenntnis gereift, dass der Einsatz dieser Waffen für immer verhindert werden muss. Heute 76 Jahre nach dem Atombombeneinsatz befindet sich die Welt wiederum in einer gefährlichen Eskalationslogik. Wir sind den Opfern von damals schuldig, unsere Politik zu ändern. Denn auch heute ist es richtig: Kriege lösen keine Probleme, sondern verschärfen sie. Schlimmstenfalls droht die Zerstörung der gesamten Welt. Alle Massenvernichtungswaffen müssen international geächtet werden. Zu einer neuen globalen Entspannungspolitik gibt es keine vernünftige Alternative.

 

Joachim Schuster ist Mitglied des Europäischen Parlementes für die SPD.