Redebeitrag für die Hiroshima / Nagasaki-Gedenkveranstaltung am 9. August 2023 in Villingen-Schwenningen

 

- Es gilt das gesprochene Wort –

 

Den Frieden gewinnen, nicht den Krieg!

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

Der Krieg in der Ukraine ist mit enormen Kosten für die Menschen vor allem, aber nicht nur in der Ukraine verbunden und verursacht unsägliches Leid. So viele Zivilisten in der Ukraine, und Soldaten beider Seiten haben ihr Leben, ihre Gesundheit oder ihre Lebensgrundlage verloren.

Darüber hinaus hat die weltweite Nahrungsmittelversorgung bereits gelitten, und die Preise für lebenswichtige Güter steigen. Der Hunger in Afrika hat in der Folge schon zugenommen und wird weiter zunehmen, wenn der Krieg nicht beendet wird.

Wir verurteilen diesen Krieg. Der Angriff auf ein unabhängiges Land, der Einmarsch Russlands in die Ukraine, die anhaltende Gewalt ist durch nichts zu rechtfertigen.

Krieg ist ein Verbrechen. Und: In jedem Krieg, in jedem Konflikt gibt es mindestens 2 Seiten.

Wer den Anteil, der der Westen und die NATO und somit auch die deutsche Regierung an diesem Krieg haben benennt, wird in der aktuellen, von kriegerischer Rhetorik geprägten Stimmung schnell der Propaganda für Putin bezichtigt.

Aber – die Weigerung, die eigenen Anteile an der sich abspielenden Katastrophe zu sehen, beraubt uns der Chance, einen wichtigen Beitrag zu ihrer Beendigung zu leisten.

Deshalb will ich einige davon in ihrer zeitlichen Abfolge hier mal aufzählen.

  • 1. Die im Kalten Krieges von beiden Seiten betriebene atomare Aufrüstung, die nukleare Abschreckung mit der bis heute anhaltenden Drohung der umfassenden gegenseitigen Vernichtung stellt per se ein gemeinsam begangenes Verbrechen an der gesamten Menschheit dar.
  • 2. Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des Warschauer Pakts hat der Westen es versäumt, Russland in ein gemeinsames Konzept der Sicherheit in Europa (und darüber hinaus) einzubinden. In diesem Zug hätte die NATO sich auflösen müssen anstatt, wie geschehen, sich als militärischen Garanten der ökonomischen Vormachtstellung des Westens neu zu definieren.
  • 3. In der Entwicklung der aktuellen Konfliktsituation wurden die von Russland deutlich formulierten Sicherheitsinteressen ignoriert. Seitens des Westens wurde massiv Einfluss genommen auf die Ausrichtung der Ukrainischen Politik; hin zu einer Assoziierung mit der EU bis zur Anstrebung einer NATO-Mitgliedschaft.
  • 4. Seit dem völkerrechtswidrigen russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 hat der Westen aktiv dazu beigetragen, den Krieg zu eskalieren.
    Nur ein Beispiel: Nachdem im März 2022 Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine unter Vermittlung der Türkei weit fortgeschritten waren und sich eine Einigung abzeichnete, die weitreichende Sicherheitsgarantien für Russland und im Gegenzug den Rückzug russischer Truppen hinter die Grenzen von vor dem 24. Februar beinhaltenden, wurde die Einigung von westlichen Regierungen hintertrieben. Stattdessen wird gefordert, Russland müsse nun besiegt und „ruiniert“ werden.

Nun wird die Lieferung von Marschflugkörpern diskutiert.

Mit den deutschen TAURUS, mit einer Reichweite von über 500km, könnte von ukrainischem Boden aus Moskau angegriffen werden.

Das halte ich für einen gefährlichen Irrweg.

Und: Ich habe Zweifel daran, dass tatsächlich verstanden wird, was auf dem Spiel steht.

Es besteht die reale und wachsende Gefahr, dass die Welt in naher Zukunft in einen Atomkrieg gerät. Mit jedem Tag des anhaltenden Krieges steigt dieses Risiko.

Und: Militärische Planspiele, die zur Strategieplanung durchgeführt werden, führen regelmäßig zur totalen nuklearen Eskalation, sobald die ersten Atomwaffen eingesetzt werden. Das seit dem Kalten Krieg unveränderte Prinzip der nuklearen Abschreckung bedroht die Existent der Menschheit.

Eine einzige Bombe hat heute vor 78 Jahren Nagasaki zerstört, drei Tage zuvor traf es Hiroshima. Mit Hunderttausenden von Toten, Verletzten und Verstrahlten. Mit einer einzigen Bombe könnte eine Stadt wie Villingen dem Erdboden gleichgemacht werden.

Als Arzt muss ich deutlich machen: Im Falle eines Atomkrieges wird es keine medizinische Hilfe geben. Wir werden Euch – und uns – nicht helfen können!

Während der Einsatz von nur 100 Atomwaffen schwerwiegende Auswirkungen auf das Klima und auf die weltweite Nahrungsmittelproduktion hätte und bis zu 2 Milliarden Menschen in den Hunger treiben würde, wären die humanitären Folgen eines umfassenden Atomkriegs verheerend. Russland und die USA besitzen tausende einsatzbereite Atomwaffen. Der Einsatz auch nur eines Teils davon würde zu einem Klimawandel mit einem anhaltenden Temperaturabfall von durchschnittlich über 10°C führen. Leben wäre dann in weiten Teilen der Erde nicht mehr möglich, der nukleare Winter.

In einem Atomkrieg gibt es keine Gewinner, nur Verlierer. Dann werden die Millionen unmittelbaren Opfer die Glücklichen sein, werden die Lebenden die Toten beneiden. Und die Frage nach der Schuld wird irrelevant.

Vergleichbar allenfalls mit der Kuba-Krise 1962 und dem zweiten Höhepunkt des Kalten Krieges in den 1980er Jahren, steht die Menschheit heute am Scheideweg. Entweder findet sie zu ihren einzigartigen Fähigkeiten der Versöhnung, Kooperation und Empathie zurück - oder sie folgt ihren dunkelsten Neigungen zu Gier, Rachsucht und alles verzehrender Zerstörungswut.

Die IPPNW, die internationalen Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, hat jüngst auf ihrem Weltkongress in Mombasa einen Appell veröffentlicht.

Als Ärztinnen und Ärzte wenden wir uns darin im Namen der gesamten Menschheit an diejenigen, die die Verantwortung für unser aller Überleben tragen: an die Kriegsgegner, die Präsidenten Putin und Selenskyj; an die Regierungen der atomar bewaffneten Staaten, insbesondere an die Präsidenten Biden und Xi Jinping; an die Regierungen der NATO-Staaten und an alle, die in irgendeiner Weise in den Konflikt verwickelt sind.

Wir fordern:

  • Einen sofortigen Waffenstillstand.
  • Den Rückzug aller Invasionstruppen.
  • Von allen Seiten die Unterlassung sämtlicher Maßnahmen, die zu einer weiteren Eskalation des Krieges führen.
  • Den Verzicht auf den Einsatz von Atomwaffen durch alle atomar bewaffneten Staaten
  • Die Aufnahme von ernsthaften Verhandlungen über eine friedliche Lösung des Konflikts in der Ukraine.

Es gibt zahlreiche Initiativen und Vorschläge, die als Grundlage für solche Verhandlungen dienen könnten. China, der Vatikan, Brasilien, die Türkei und andere bieten sich als Vermittler an.

Um der Gefahr der nuklearen Vernichtung wirksam zu begegnen, fordern wir alle Staaten - insbesondere diejenigen, die sich bisher auf die Scheinsicherheit von Atomwaffen verlassen haben - auf, dem Vertrag über das Verbot von Atomwaffen beizutreten.

An alle Menschen mit kreativem Verstand und der Fähigkeit zur Moderation appellieren wir:
Beenden wir die tödliche Spirale der Eskalation und kehren wir zurück zu friedlicher Koexistenz. Die Kriegstreiber auf beiden Seiten müssen Platz machen für Menschen, die in der Lage sind, sich eine andere Welt vorzustellen und sie dann auch zu gestalten.

Es könnte die letzte Chance für uns Menschen sein, die Büchse der Pandora zu schließen und uns für das gemeinsame Überleben statt für die gegenseitige Vernichtung zu entscheiden.

Es geht darum, den Frieden zu gewinnen, nicht den Krieg!

Vielen Dank.

 

Dr. Helmut Lohrer ist allgemein Arzt und aktiv bei der IPPNW.