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Redebeitrag für die Hiroshima / Nagasaki-Gedenkveranstaltung am 9. August 2023 in Mosbach
- Es gilt das gesprochene Wort –
Liebe Freundinnen und Freunde, sehr geehrte Damen und Herren,
vor 78 Jahren um 11.02 Uhr wurde die 21-Kilotonnen-Plutonium-239-Bombe „Fat Man“ über Nagasaki gezündet. Nagasaki war eine Großstadt mit 240.000 Einwohnern. Innerhalb von Sekunden wurden 70% der Fläche um das Epizentrum der Stadt dem Erdboden gleich gemacht. Bereits drei Tage zuvor, am 6. August 1945 war über den 350.000 Einwohnern von Hiroshima die erste 16-Kilotonnen Atombombe "Little Boy“ gezündet worden und hatte ähnliche Verheerungen verursacht, die wohl nur mit apokalyptischen Visionen vergleichen werden können.
Wir sehen heute noch die Bilder aus Hiroshima und Nagasaki. Schon damals übertraf die Anzahl der Opfer und das Ausmaß der Zerstörung alle Vorstellungen und alles bisher Dagewesene. Unmittelbar nach den Detonationen der Atombomben starben an den direkten Folgen der Druckwelle, der Hitze und der Strahlenexposition geschätzt 100.000 Menschen. Neben der schweren Beschädigung der medizinischen Infrastruktur waren auch viele Angehörige des medizinischen Personals unter den Opfern. An eine ausreichende medizinische Versorgung war nicht zu denken.
Weitere 130.000 Menschen starben in Hiroshima und Nagasaki bis Ende des Jahres 1945 und in den folgenden Jahren Tausende weitere nach unermesslichem Leid, Krankheit und Siechtum.
Die Schrecken der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki sind bis heute gegenwärtig und seit nunmehr 78 Jahren in das Gedächtnis der Menschheit eingebrannt. Noch heute leiden die Überlebenden unter den Folgen der Explosionen und den Spätfolgen, die auch spätere Generationen betroffen haben und immer noch betreffen.
Was nicht so sehr im Bewußtsein ist: Die damaligen Bomben sind im Vergleich mit heutigen Atomwaffen sehr klein: Die heutigen Atomwaffen sind durchschnittlich 5-30 Mmal stärker als die damaligen Bomben. Die Zündung dieser heutigen Atombomben würde bei weitem ausreichen, jedes Leben auf diesem Planeten auszulöschen.
Die Organisation, der ich angehöre, die IPPNW – das Kürzel steht für „International Physicians fort the Prevention on Nuclear war“ – ist eine weltweite Organisation von Ärzt*innen, die sich der Verhütung des Atomkrieges verpflichtet hat. Unsere deutsche Sektion ist mit derzeit über 6.000 Mitgliedern eine der größten Friedensorganisationen in Deutschland. Gegründet wurde die IPPNW in der Hochphase des Kalten Krieges 1980 von dem US-amerikanischen Herzspezialisten Bernard Lown und seinem sowjetischen Kollegen Jewgeni Tschasow. Die beiden Ärzte nahmen über die Blockgrenzen zu einem Zeitpunkt Kontakt auf, als durch schieres Säbelrasseln und Hochrüstung wieder eine enorme Gefährdung vorherrschte. Durch die Gründung der Organisation wurde ein wichtiger Baustein gelegt, in einer waffen- und zornesstarrenden Welt mit einer enormen Kriegsgefährdung kleine Punkte des Friedens und weg vom Krieg zu schaffen. 1985 erhielt die IPPNW für ihre Anstrengungen um den Frieden den Friedensnobelpreis. Die IPPNW hat 2006 ICAN gegründet, die Internationale Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen, die 2017 ebenfalls den Friedensnobelpreis erhalten hat. Gerade als Ärztinnen und Ärzte wissen wir um die Folgen von Strahlenschäden, wir wissen um die gesundheitlichen Folgen einer nuklearen Detonation für die Bevölkerung und wir können auch einschätzen, dass – rein aus medizinischer Sicht – die Bewältigung dieser gesundheitlichen Folgen reines Wunschdenken bleiben muss.
Als IPPNW stehen wir mit vielen Pazifistinnen und Pazifisten auf dieser Welt mit aller Kraft und unserem Engagement dafür ein, dass ein Atomkrieg verhindert wird. Hiroshima und Nagasaki dürfen nie wieder geschehen. Ein Atomkrieg ist nicht gewinnbar, ein Atomkrieg ist nicht begrenzbar und eine atomare Auseinandersetzung darf nicht zum militärischen Kalkül gehören. Die Begründung ist einfach und unwiderlegbar: Ein Atomkrieg heute würde die Grundlagen unserer Existenz zerstören.
Gerade heute sieht es aber nicht rosig aus, in den vielen Krisen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat die Menschheit ganz offensichtlich nichts dazu gelernt. Weltweit erschüttern eine Vielzahl von Konflikten und Kriegen unserer Sicherheit und bringen immer wieder unendliches Leid und Verzweiflung, Krankheit und Tod mit sich.
Mit dem verbrecherischen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine wurde ein Krieg losgetreten, der gefährliche Stufen der Eskalation in sich birgt. Mit dem Krieg in der Ukraine ist Gefahr der Auslösung eines Atomkriegs ist so greifbar nah wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Nicht nur, dass Wladimir Putin mehrfach mit der Aktivierung des Atomwaffenarsenals gedroht hat und die Alarmbereitschaft erhöht ist. Das sind keine leeren Drohungen und sollte nicht nur als Bluff verstanden werden. Russische Atomwaffen wurden wieder nach Belarus geliefert und dort mit großer Drohgebärde stationiert. Wer weiß heute schon um die Sicherheit der Kontrollmechanismen und die Gefahr eines Atomkrieges aus Versehen, der aus technischen Fehlermeldungen entstehen kann. Aber auch so ist die Lage brandgefährlich, zu keinem Zeitpunkt ist eine kriegerische Situation vollständig kontrollierbar. Und denkbar ist vieles: Die russische Militärdoktrin lässt einen nuklearen Erstschlag bei existentieller Bedrohung des Staatsgebietes zu. Übrigens behält sich auch die NATO als militärisches Verteidigungsbündnis die Möglichkeit zum nuklearen Erstschlag zu.
Dabei droht die Eskalation des Krieges nicht nur in Form einer Nutzung der vorhandenen Atomwaffen. Dieser Krieg zeigt deutlich, dass auch die sogenannte friedliche oder zivile Nutzung der Atomenergie ein Hirngespinst ist. Die ohnehin schon fragliche Sicherheit der Atomanlagen ist in Kriegszeiten mehr als fraglich. Durch die Kämpfe bestand schon mehrfach eine unkontrollierte Gefährdung der Stromversorgung und Kühlsysteme der Atomanlagen. Ein Ausfall dieser Systeme hätte– wie 1986 in dem gerade mal 1000 km entfernten Tschernobyl eine nukleare Katastrophe zur Folge.
All diese Gefahren sind uns bewusst – und natürlich auch den Verantwortlichen in den Regierungen dieser Welt. Niemand hingegen weiß, ob ein Wladimir Putin immer alle Eventualitäten so kontrolliert, dass er sich immer an seine eigene Erkenntnis erinnert, dass ein Atomkrieg für niemanden zu gewinnen ist.
Die Lösung des Konfliktes ist dabei in weiter Ferne. Inzwischen ist aus dem Krieg ein Dauerzustand geworden. Das Selbstverteidigungsrecht ist der Ukraine natürlich auf gar keinen Fall abzusprechen. Dennoch sehen wir, dass immer mehr und immer schwerere Waffen in 1 ½ Jahren nichts, aber auch gar nichts dazu beigetragen haben, den Konflikt zu befrieden.
Es sind inzwischen Hunderttausende Menschen gestorben oder verletzt worden, Millionen aus ihrer Heimat vertrieben. Die Raketen- und Drohnenangriffe Russlands gehen mit unverminderter Härte weiter; die ukrainische Gegenoffensive kommt nicht weiter. In den Nachrichten hören wir täglich von weiterem Leid, ohne dass auch nur ein Minimum an Besserung zu verzeichnen wäre. Die Auswirkungen des Krieges wirken hingegen weltweit – denken wir nur an die ausbleibenden Getreidelieferungen in die Länder Afrikas.
Tatsächlich wird dieser Krieg wie die meisten kriegerischern Auseinandersetzungen dieser Welt durch Verhandlungen beendet werden müssen. Hierzu müssen – wahrscheinlich unter internationaler Vermittlung – Gesprächsebenen eingerichtet werden. Auch wenn es schmerzt – und noch einmal: ohne den Angriffskrieg Russlands in irgendeiner Weise relativieren zu wollen: Verhandlungen werden zwischen Kriegsgegnern geführt werden müssen. Die Gefangenenaustausche und die Getreideabkommen zeigen, dass Gespräche zumindest punktuell möglich sind. An diesem Punkt müssen wir ansetzen und in dieser Überzeugung müssen wir auch als Zivilgesellschaft aktiv werden. Wir müssen von einer Kriegslogik zu einer Friedenslogik kommen, von der militärischen Eskalation weg zu einer friedenssuchenden Deeskalation, die immer auch die Sicherheitsinteressen der anderen respektiert.
Ganz unerwähnt bleibt in diesem Krieg übrigens, dass in diesen Zeiten zunehmender Klimakrise der Krieg selbst auch als eine riesige ökologische Katastrophe zu gelten hat. Der Krieg selbst tötet nicht nur Menschen, der Krieg selbst ist auch ein gewaltiger Klimakiller.
Am Jahrestag der Zündung der Bombe über Nagasaki müssen wir feststellen: Die Bedrohung durch Atomwaffen ist heute gefährlicher denn je. Selbst die Atommächte geben zu, dass ein Atomkrieg nicht zu gewinnen ist und die Folgen einer atomaren Auseinandersetzung nicht beherrschbar sind.
In Japan zeigt sich, dass die Folgen der Atombombenabwürfe bis heute zu spüren sind, auch wenn die meisten direkt Betroffenen nicht mehr am Leben sind. Während die ersten Überlebenden in der Folge an Krebs und anderen strahlenbedingten Krankheiten gestorben sind, finden wir die genetischen Folgen der Atombomben auch in der 2. und 3. Generation der Überlebenden. Der Schluss ist klar: Als Ärztinnen und Ärzte werden wir im Falle der Zündung von Atombomben nicht helfen können, die Anzahl der Opfer würde die Kapazitäten unseres Gesundheitswesens bei weitem übersteigen, das Leiden auch an Langzeitfolgen wäre unermesslich.
Als wäre das alles nicht zu ermessen, spielen viele Atomwaffenmächte mit dem atomaren Feuer: Nicht nur, dass alle Atomwaffenstaaten ihre Arsenale modernisieren und die Technik des Todes perfektionieren. Immer mehr Staaten entwickeln das Potential, diese unfassbar tödlichen Massenvernichtungswaffen zu produzieren. Inzwischen lagern geschätzte 13.000 Atomraketen in den Arsenalen dieser Erde. Eine immer größere Menge und immer perfektere Tötungstechnologie erhöhen die Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes.
Auch bisherige Sicherungssysteme wurden gekündigt, relativiert und nicht eingehalten. Das 1987 geschlossene INF-Abkommen zur Reduzierung mittelweiter Flugkörper wurde durch die USA unter Donald Trump 2019 gekündigt. 2002 waren die USA vom ABM-Vertrag mit der Begrenzung von Raketen-Abwehrsystemen zurückgetreten, und entsprechende Systeme in Polen und Rumänien installiert. 2020 wurde das Open-Skies-Abkommen für gegenseitige Luftüberwachung gekündigt. Das zuletzt verlängerte New-START Abkommen zwischen Russland und der USA zur Begrenzung strategischer Nuklearwaffen wurde von der russischen Regierung im Kontext des Ukrainekrieges ausgesetzt.
Diese Entwicklungen erfüllen uns mit großer Sorge. Was treibt die Herrschenden in dieser Welt dazu, die mühsam errungenen Sicherheitsabkommen und Verträge meist einseitig aufzukündigen. Was bringt Regierungen dazu, ihre Bevölkerungen dem Risiko einer atomaren Auseinandersetzung auszusetzen? Hier müssen wir uns als Zivilgesellschaft wehren, hier müssen wir laut werden und hier müssen wir – so wie heute – zeigen, dass dies nicht unsere Politik ist.
Tatsächlich gab es in den letzten Jahren aber auch Lichtblicke:
Der 2017 angenommene Atomwaffenverbotsvertrag trat im Januar 2021 in Kraft. Er verbietet die Entwicklung, Produktion und den Besitz von Atomwaffen, außerdem die Weitergabe, die Lagerung und Stationierung, den Einsatz wie auch die Androhung des Einsatzes. Bis heute sind immerhin 86 Staaten dem Vertrag beigetreten. Deutschland hat den Vertrag nicht unterzeichnet und führt immer noch die Begründung an, man müsse an der „nuklearen Teilhabe und der Abschreckungsdoktrin festhalten, solange die Atommächte nicht abrüsteten. Nukleare Teilhabe heißt aber ganz konkret, dass Deutschland im Rahmen der NATO-Mitgliedschaft im sogenannten Bündnisfall gezwungen ist, mit deutschen Piloten und deutschen Flugzeugen Atomwaffen der NATO zum – wie soll man sagen – zum Einsatz zu bringen. Deutschland steigt somit nicht nur aktiv in den Krieg ein, sondern wird ganz eindeutig eine Kriegspartei – mit allen schlimmen Folgen für die Land. Dies kann nicht unser Interesse sein und dies müssen wir mit all unseren Kräften verhindern.
Ich gebe aber die Hoffnung nicht auf und vielleicht sind gerade beim AVV leise Zeichen des Umdenkens sichtbar: Deutschland war 2022 erstmalig als Beobachter bei der Staatenkonferenz in Wien anwesend und wird dies hoffentlich auch bei der folgenden Konferenz im November 2023 in New York sein.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock hatte bei den Überprüfungskonferenzen des 1970 abgeschlossenen Atomwaffensperrvertrages– und das begrüßen wir ausdrücklich – die humanitären Auswirkungen von Atomwaffen anerkannt. Was hierzu aber nicht passen will, ist die Akzeptanz der Modernisierung der Atomwaffenarsenale – auch derjenigen Atomwaffen, die in Deutschland auf dem Fliegerhorst in Büchel gelagert werden. Was hierzu nicht passt, ist der beschlossene Kauf von 22 F35 Tarnkappenbombern, die mit Atomwaffen bestückt werden können und die sogenannte nukleare Teilhabe Deutschlands fortsetzen – den Bündnisfall hatte ich erwähnt. Was hierzu auch nicht passt, ist das 100-Milliarden-Programm für die Aufrüstung der Bundeswehr. Und - was hierzu wirklich gar nicht passen will, ist die Aussage von Frau Baerbock, dass „der Einsatz für nukleare Nichtverbreitung und nukleare Abschreckung in diesen Zeiten kein Widerspruch“ sei. Hier müssen wir laut und deutlich protestieren, hier müssen wir mit aller Kraft widersprechen, liebe Freundinnen und Freunde. Das ist falsch und das ist nicht wahr:
Nukleare Abschreckung löst kein Problem. Nuklearwaffen sichern keinen Frieden und Nuklearwaffen bergen in den immer komplexer werdenden Systemen die Gefahr von Fehlalarmen. Automatisierte Alarmierungsketten und immer kürzere Reaktionszeiten durch die Entwicklung extrem schneller neuer Atomwaffen wie z. B. Hyperschallwaffen machen es immer möglicher, dass Alarmierungsfehler nicht mehr korrigiert werden können. Es muss nicht einmal ein „flexibler“ oder „präventiver Atomschlag“ sein, mit dem manche Militärs liebäugeln – tatsächlich ist die Gefahr eines Atomkriegs „aus Versehen“ auch dieser Tage ganz greifbar.
78 Jahre nach den Atombombenexplosionen in Hiroshima und Nagasaki stehen wir hier und sehen, dass Deutschland Waffen in Kriegsgebiete liefert. Ohne jeden Zweifel steht der Ukraine das Recht auf Selbstverteidigung zu. Aber die Lieferung von Waffen, die immer weitere Eskalation des Konfliktes mit der Beteiligung Russlands und der zunehmenden Beteiligung der NATO wird nicht zum Frieden beitragen. Was wir brauchen, ist nicht der Einsatz von Waffen, Mitteln und Material zur Eskalation des Konfliktes.
78 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki fordern wir deshalb von den Atommächten der NATO und von Russland und China den öffentlichen Verzicht auf den Einsatz von Atomwaffen.
78 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki fordern wir Russland und die Ukraine auf, Gespräche für einen Waffenstillstand aufzunehmen. Unter neutraler Vermittlung von UN, OSZE oder anderen müssen Verhandlungen geführt werden, die die Sicherheitsaspekte aller Parteien berücksichtigen. Anders wird es keinen Frieden geben.
Von der deutschen Regierung fordern wir die tatkräftige Unterstützung aller Friedensbemühungen und die Beendigung von Waffenlieferung in die Ukraine.
Deutschland muss endlich dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten und die Vereinbarungen zur nuklearen Teilhabe aufkündigen.
78 Jahre nach Hiroshima und Nagasaki wissen wir: Nur mit Verständigung und Verhandlungen und Abrüstung wird es uns gelingen, Kriege zu beenden und einen Atomkrieg zu verhindern.
Lasst uns dafür alle Anstrengungen unternehmen.
Vielen Dank.
Dr. Robin Maitra ist aktiv bei der IPPNW.