Redebeitrag für den Ostermarsch Bremerhaven am 3. April 2021

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Die Welt ein Haus

 

Buongiorno Signore e Signori!

Darf ich mich vorstellen? Io sono Giovanni Salvatore. Vor 125 Jahren bin ich nach Bremerhaven gekommen. Ich wollte nicht bleiben, ich wollte … su il nuovo mondo… nach New York. Jetzt geistere ich noch immer hier herum. Mir ging während der Reise trans alpini das Geld aus und ich arbeitete auf den Baustellen in Lehe, um mir meine Schiffspassage zu verdienen. Meine Spezialität e il Terrazzo. In meinem Dorf gab es nicht genug zu essen für alle. Meinen Brüdern und Schwestern fielen die Zähne aus. Also dachte ich, ein hungriges Maul weniger a casa hilft la familia. Per il banco schickte ich soldi, soviel ich konnte. Und wenn ich erst in der Neuen Welt bin, dann … ach, was sage ich, ich träume noch immer… dabei bin ich doch schon so lange nur noch ein Geist.

Kommt, kommt, ich zeige euch etwas von meiner Arbeit! Hier in der Leher Chaussee, die heute Hafenstraße heißt, habe ich den Boden in diesem Treppenhaus verlegt. Hier habe ich ihn zum ersten Mal gesehen – Janosz! Unsere Blicke trafen sich und es war Amore subito! Janosz war wie ich, ein junger Mann aus einer großen, armen Familie. Auf der Suche nach dem Glück in der Fremde. Wir hatten beide nichts zu verlieren. Er war Stukkateur auf der Baustelle und machte decorazione meraviglioso! An ihn zu denken ist ein bittersüßer Schmerz. Lasst uns ein bißchen durchs Haus gehen, damit ich mich ablenke.

Hier im Erdgeschoß wohnt Margareta Kretschmann, eine agile Frau von 85 Jahren. Ich kann mich noch gut erinnern, wie sie vor siebzig Jahren als kleines dürres Mädchen hier mit ihrer Familie einquartiert wurde. Ein Zimmer für acht Personen und ein Klosett auf dem Hof. Nach ihrer Flucht aus der Nähe von Breslau bei eisiger Kälte kam es ihr vor wie il paradiso. Zwei Geschwister waren auf dem Weg gestorben und sie hatte gelernt, bei den Bauern zu betteln. Sie hat so viel Elend gesehen, so viel Zerstörung und Tod. In den letzten Jahren denkt sie wieder öfter daran. Wenn sie die Nachbarskinder sieht, sieht sie sich selbst. Ich sehe sie dann still vor sich hin weinen, die Schultern zucken. Doch jetzt ist sie nicht Zuhause. Ihre Tageszeitung liegt auf dem Küchentisch und ich überfliege die Schlagzeilen: Hungersnot im Jemen – UN-Sicherheitsrat verurteilt Gewalt in Myanmar - Überschwemmung im Rohingya-Lager – Syrien Konferenz: Milliarden-Hilfen zugesagt – 17 Tote bei Anschlag in Kabul –
Griechenland: 276 Millionen Euro für neue Flüchtlingslager.

Über ihr, im ersten Stock links, wohnt Familie Hazari. Frau Hazari kennt den Frieden in ihrem Dorf noch. Doch gerade, als sie mit 14 Jahren geheiratet hatte, begann der Krieg. Seitdem hörte die Gewalt nicht wieder auf. Russische Soldaten und amerikanische Geheimdienstler, einheimische Waffenhändler und fremde Taliban-Söldner überzogen ihr Afghanistan mit blutigen Gewalttaten. Ihre Kinder zog sie deshalb im Iran auf, illegal, immer in Gefahr. Ihr Mann arbeitete als Tagelöhner, bis die Bombe auf dem Markt ihn zerriss. Sie hielt es nicht mehr aus und sagte ihren fünf Kindern, dass sie alle nach Europa gehen würden, um in Frieden zu leben. Nur zwei ihrer Kinder gelangten mit ihr hierher. Eine ihrer Töchter hat sie an Schlepper verheiratet, denn ihr weniges Geld reichte nicht, um die Flucht zu bezahlen. Ihren zehnjährigen Sohn ließ sie zum Schutz bei ihr zurück. Eine Tochter starb auf der Flucht. Die Schuld zerreisst ihr Herz. Es war die einzige Möglichkeit. Sie wollte wnigstens einen Teil ihrer Familie retten. Der Schlepper ist seit Jahren verschollen. Ihre jetzt siebzehnjährige Tochter Samira hat ein Kind mit ihm und ist nun im Iran ganz auf sich allein gestellt. Erst seit Kurzem konnten sie Kontakt zueinander aufnehmen. Frau Hazari hofft, dass Samira zu ihr nachziehen kann, denn nach einem jahrelangen Asylverfahren hat sie nun den Bescheid bekommen, dass sie bleiben darf und sie Familiennachzug machen kann. Zumindest solange ihre Tochter minderjährig ist. Doch meistens weiß sie nicht, wie sie weiterleben soll, irrt in der Wohnung umher, so geisterhaft wie ich. Seit zwei Wochen ist es besonders schlimm: Abdulaziz, ihr jüngster Sohn, gerade 16 geworden, ist von Soldaten erschossen worden. Sie hat ihn zurückgelassen, sie hat nicht gesehen, wie er heranwuchs, sie hat ihn nicht beschützt, sie wird ohnmächtig.

In der Wohnung gegenüber hört Ahmad einen Aufprall. Er denkt sich nichts dabei, denn seine Nachbarin macht häufig seltsame Sachen. Ein paar Worte wechseln sie manchmal im Treppenhaus, denn sein Kurmanci und ihr Dari sind sich ähnlich. Seine Frau hat die Familie schon oft zum Essen eingeladen, aber sie sind sehr zurückgezogen. Ahmads Telefon klingelt. Als er sieht, dass seine Tante Farida aus Afrin anruft, begrüßt er sie laut und herzlich. Hamdulelah, ihr geht es gut. Er geht auf den Balkon und raucht eine Zigarette. 2018 marschierten türkische Soldaten in deutschen Leopard-II-Panzern in die Region um Afrin ein und besetzen sie seitdem. Tante Farida musste flüchten, so wie 100.000 andere syrische Kurden. Dem NATO-Partner Türkei liefern deutsche Rüstungsfirmen wie Rheinmetall Defense, Krauss Maffai Wegmann oder Diehl Defense Waffen, Panzer und Kriegsgerät, ohne wesentliche Auflagen des löchrigen Außenwirtschaftsgesetzes oder des Kriegswaffenkontrollgesetzes
einhalten zu müssen. Ein lukratives Geschäft, an dem auch fast alle Banken in Deutschland beteiligt sind. Ahmad hat Arbeit, zahlt Steuern, hat ein Bankkonto und beteiligt sich so unwissentlich an diesen Geschäften. Als plötzlich ein Hubschrauber über dem Haus vorbeifliegt, duckt er sich und seine Zigarette fällt ihm aus der Hand. Für einen Moment ist er wieder in seiner Heimatstadt Aleppo, fürchtet den Angriff, hört die Schreie von Verletzten. Der Moment geht vorüber, als er merkt, wie ihm die Glut ein Loch in seine Socke brennt. Er flucht und seine Tante Farida schimpft mit ihm deswegen. Er ist schon jahrelang in Sicherheit und fragt sich, ob der Krieg in seinem Kopf wohl jemals aufhört.

Kommt, kommt, hier im zweiten Stock habe ich im Terrazzo mit kleinen Mosaiksteinen unsere Anfangsbuchstaben versteckt: J für Janosz und G für Giovanni, seht ihr? Es war nicht erlaubt, dass zwei Männer ihre Liebe miteinander lebten. Also schwärmten wir lange Zeit heimlich füreinander. Hier oben an der Säule hat Janosz den Stuck angebracht. In dieser Wohnung trafen wir uns manchmal.

Jetzt wohnt Biral Georgiev hier mit seiner Familie. Sie sind vor einigen Jahren eingezogen. Sie kommen aus der Nähe von Varna. Herr Georgiev arbeitet im Hafen. Immer wieder sieht er dort Züge voller Unimogs in sandigen Tarnfarben, auf den Parkplätzen warten Panzer darauf, verladen zu werden, und was alles in den Containern steckt? Wer weiß das schon? Vielleicht auch die Heckler & Koch-Gewehre G36, mit denen Studenten in Mexico vor ein paar Jahren von der mexikanischen Polizei erschossen wurden? Herr Georgiev erinnert sich an einen Spruch, den er an einer Hauswand gelesen hatte: „Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.“ Er überlegt, wie es wohl wäre, wenn keiner die Panzer, Unimogs und Container voller Waffen verladen würde. Einfach so. Kein Nachschub mehr für die gewalttätigen Konflikte der Welt. Irgendwann hätte niemand mehr Munition, wenn alle Arbeiter in den Häfen, auf den Bahnhöfen und den Flughäfen streiken würden, wenn es um  Rüstungslieferungen geht. Das sinnlose Sterben würde aufhören. Herr Georgiev seufzt, trinkt seinen letzten Schluck Tee vor Schichtbeginn und geht auf die Straße, um sich zur Arbeit abholen zu lassen.

Er grüßt seinen Nachbarn aus der kleinen Wohnung gegenüber, der gerade von seiner Schicht im Fischereihafen nach Hause kommt. Er heißt Gebrelul Kidane, ist 42 Jahre alt und kommt aus Eritrea. Herr Kidane ist müde. Müde von der Arbeit im Kühlhaus, müde von den Geschehnissen auf seinem Fluchtweg, müde vom jahrelangen Militärdienst, müde von der Sorge um seine Frau und seine drei Kinder. Als sie als Familie nach Äthiopien flohen, um der eritreischen Militärdiktatur zu entkommen, war schnell klar, dass sie nicht im Flüchtlingslager bleiben konnten. Die Bedingungen dort reichen gerade zum Überleben, doch er und seine Frau waren sich einig: Die Kinder sollen eine Zukunft haben, zur Schule gehen können, endlich glücklich sein. Sie beschlossen, dass er nach Europa gehen sollte, um sie dann ganz bald nachzuholen. Der Weg war sehr gefährlich und teuer. Schlepper brachten ihn und andere durch die Wüste bis nach Libyen. Dort wurde er aufgegriffen und in ein Lager gesteckt mit vielen tausend anderer armer Seelen. Es geschah Schreckliches mit ihm und er wurde gezwungen Unaussprechliches zu tun. Viele Narben sind ihm aus dieser Zeit geblieben. Nachdem seine Mutter per Telefon um all ihren Besitz erpresst worden war, indem sie sie seine Schreie hören ließen, ließen sie ihn endlich gehen. Auf ein Boot. Nach mehreren Tagen auf See war seine Haut zerfressen vom Benzin, das sich mit dem Wasser im Boot vermischte. Er hatte solch einen Durst, dass seine  unge geschwollen war. Babies wimmerten und das Meer um sie herum schien unendlich. Von Ferne sahen sie einige große Schiffe, doch niemand schien sie zu sehen. Ein kleines Flugzeug kreiste über ihnen, flog dann aber weg. Er konnte nicht mehr denken, und wollte sich einfach über Bord fallen lassen, als sich endlich ein Schiff näherte. Mit einem kleinen, schnellen Boot kamen Leute, die sie nach und nach von ihrem Schlauchboot holten. An Bord des größeren Schiffes fiel er auf die Knie vor Dankbarkeit. Es war zum Glück nicht die sogenannte lybische Küstenwache, die von der EU finanziert wird und bekannt dafür ist, Menschen mit Waffengewalt wieder in das Bürgerkriegsland zurück in die Folterlager zu bringen. Er hat überlebt. Doch sein Weg war noch lang. In Italien wollte man sie zunächst nicht an Land lassen. In den Lagern dort kam er kaum zu Kräften. Irgendwann landete er auf der Straße, obdachlos und traumatisiert. Er verrichtete schwere Feldarbeit unter sklavenähnlichen Bedingungen, bis er die Gelegenheit hatte, weiter nach Norden zu gehen. Vor einigen Jahren ist er angekommen, durchlief ein Asylverfahren und einen Sprachkurs. Ihm wurde gesagt, seine Berufserfahrung und seine Papiere seien nichts wert. Er gab nicht auf. Dafür hatte er zu vieles überlebt. Er schickte seiner Familie Geld und aß selbst kaum etwas. Er versuchte die richtigen Papiere zu beschaffen, damit seine Frau und seine Kinder endlich zu ihm kommen konnten. 19 Monate warteten sie auf den Termin bei der deutschen Botschaft für das Visum. Die Botschaft lehnte den Antrag ab, sagte, die Papiere seien gefälscht. Sie machten alle einen teuren DNA-Test, um ihre Verwandtschaft zu beweisen. Die Botschaft erkannte das Ergebnis nicht an. Herr Kidane ging zu einer Anwältin, die er natürlich bezahlen muss. Seitdem sind zwei Jahre vergangen, doch das Verfahren geht nicht voran. Einer seiner Söhne hat nun schon einen Bart und sie erkennen sich fast nicht mehr am Telefon. Seine kleine Tochter ist beim Ziegenhüten auf eine Mine getreten und verlor ihr rechtes Bein. Sie hat überlebt. Er hat überlebt. Er ist müde. Herr Kidane schließt seine Wohnungstür auf, grüßt freundlich den Nachbarn, der ihm entgegenkommt und verschwindet
in seine Wohnung.

 

Signore e Signori,

seid ihr noch bei mir? Ich muss euch unbedingt noch jemanden vorstellen! Bei Frau Kretschmann gegenüber wohnen zwei entzückende Bambini: Elvira und Elvis. Sie sind Zwillinge und sieben Jahre alt. Sie spielen und lachen viel und sie sind die einzigen im ganzen Haus, die mich sehen können. „Onkel Giovanni“, sagen sie zu mir, wenn niemand uns hören kann, „erzähl uns mehr, was Du in diesem Haus alles erlebt hast!“ Ich gebe mir Mühe, all das Leid wegzulassen und ihnen nur die lustigen Geschichten zu erzählen. Die Zwillinge haben es selbst nicht leicht. Sie sind nur geduldet in Deutschland. Ihre Mutter versucht, ihnen all das zu ermöglichen, was sie für ein gutes Erwachsenwerden brauchen, doch es ist schwierig. Es fehlt an Geld und
an Chancen. Jetzt sollen sie lesen und schreiben lernen, doch ihre Mutter hat es selbst kaum gelernt. Sie ist zwar hier zur Schule gegangen, aber viel zu oft übersetzte sie für ihre Eltern beim Arzt und bei Behörden, kam mit ihren Aufgaben allein nicht zurecht und musste sich irgendwie durchmogeln. Einen Schulabschluss erreichte sie nicht. Die Großeltern von Elvira und Elvis flohen vor dem Krieg im Kosovo und die Mutter wurde auf der Flucht geboren. Papiere hatten sie nicht und erst kurz bevor die Oma starb, erzählte sie ihrer Tochter, wo sie geboren ist. Ohne Geburtsort keine Geburtsurkunde, und ohne Geburtsurkunde kein Pass, und ohne Pass kein Aufenthaltstitel. Daher die Duldung für die Enkel. Davon wissen die beiden noch nicht viel. Aber ihre Mutter spart jetzt darauf, nach und nach die Dokumente zu beschaffen.

Die Zwillinge sehen mir immer an, wenn ich traurig bin. Sie sagen: „Onkel Giovanni, woran denkst Du, warum schaust Du so ins Leere?“ Ich sage nichts und bin in Gedanken bei Janosz und dem Tag, als sie unser Geheimnis entdeckten. Er konnte zum Glück fliehen, doch mich warfen sie aus dem Fenster und ich brach mir das Genick. Seitdem geistere ich hier herum und schüttele immer wieder den Kopf darüber, dass in diesem langen 20. Jahrhundert für den Profit Weniger so vielen Menschen Gewalt angetan wurde und noch immer wird. Ich, Giovanni Salvatore, fordere Euch auf: Schafft Frieden! Überzeugt die Mächtigen! Wenn die Menschen in diesem Haus friedlich zusammenleben können, dann kann es die ganze Welt!

Mille grazie e Arrividerci!