Redebeitrag für den Ostermarsch Kassel am 16. April 2022

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

bei aller Wut und Empörung, die der brutale Krieg Russlands gegen die Ukraine zu Recht auslöst, überziehen die Deutschen vielleicht wieder einmal. Ihr Bestreben, ihre Sicht auf die Welt zu vereinfachen, führt zu Einfältigkeit und zum Bellizismus von heute. Es muss nachdenklich stimmen, wenn der ehemalige militärpolitische Berater von Altkanzlerin Angela Merkel, Brigadegeneral a. D. Erich Vad, sich nun warnend zu Wort meldet. Er bezeichnet den Export von schweren Waffen an die Ukraine als potenziellen „Weg in den Dritten Weltkrieg“. „Wir machen im Moment sehr viel Kriegsrhetorik – aus guter gesinnungsethischer Absicht“, sagt er. „Aber der Weg in die Hölle ist bekanntlich immer mit guten Vorsätzen gepflastert.“ Vad klingt wie ein Ostermarschierer.

Wie immer schon, sind wir auch jetzt den brutal überfallenen ukrainischen Männern, Frauen und Kindern schuldig, uns bei der ethischen Bewertung und bei der Analyse der Vorgeschichte Mühe zu geben. Es heißt Abstand zu halten von aufgeregter Empörung, Aufgewühltheit und billiger Gefühlsrhetorik. Pazifismus ist keine Schönwetter-Veranstaltung.

Konkret heißt das, dass ein Heldentod im Abwehrkampf gegen eine brutale Übermacht zwar moralisch zulässig ist … mit zweimal ABER:

  • (1) Das Zulässige ist eben keine gute moralische Option, vor allem dann nicht, wenn auf diese Weise das Töten und Sterben weitergeht oder sogar beschleunigt wird. Richard David Precht hat es so gesagt: Natürlich hat die Ukraine ein Recht auf Selbstverteidigung, aber auch eine Pflicht zur Klugheit, wenn es um Entgegenkommen und Verhandlungslösungen geht.
  • (2) Der zulässige, aber ungute Abwehrkampf entfaltet einen Sog, der in den Abgrund führt. Das moralisch zulässige ist also nicht das Gebotene! Die Militärlogik ist für zu viele Menschen das einzige Gesetz, die einzige Regierung geworden. Männer unter 60 Jahren werden gezwungen, das Land mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Auch das ist zerstörend, menschenzerstörend. Mehrere Hundert Verweigerer aus der Ukraine sind in den vergangenen Jahren nach Deutschland geflohen, zig Verweigerer aus Belarus fliehen zur Zeit nach Litauen.

Meine Bewunderung gilt nach wie vor auch allen denen, die sich gegen das Kämpfen entscheiden. Auch Russinnen und Russen verweigern den Kriegseinsatz. denn auch in der russischen Armee dienen nicht die Kinder der großrussischen Intelligenz, sondern die der Armen. Ihnen hat der schwerreiche Wladimir Putin die Invasion der Ukraine befohlen. Auch sie sind Opfer einer verbrecherischen Befehlsmaschinerie, die brutaler ist, als der nur an der Spitze stehende Putin. Diese belogenen Soldaten haben selbstverständlich - wie alle deutschen - das Menschenrecht der Kriegsdienstverweigerung.

Ich möchte in diesen Tagen nicht in der Haut russischer Kriegsdienstleister stecken. Das sind - ich sagte es - belogene Soldaten - ja, belogene Soldaten auf beiden Seiten. Selbst wenn sie rechtlich gesehen nicht schuldig sind, ist die Frage einer moralischen Schuld noch nicht beantwortet, weil sie wissen konnten, auf was sie sich einließen.

Und nicht nur die belogenen Soldaten und Soldatinnen auf beiden Seiten dürfen bzw. müssen wir warnen, bevor sie sich selbst in ihr Unglück stürzen. Auch diejenigen Menschen, die heute hier in Deutschland die Ostermärsche verspotten und laut rufen: „Waffen liefern! Waffen liefern!“ muss ich ganz mitmenschlich warnen, weil sie so den Dritten Weltkrieg herbeireden. Und wenn ich mit dieser Warnung Recht behielte - ich würde es nicht mehr merken.

Vielen Dank.

 

Jens Bukowski ist aktive bei der DFG-VK Gruppe in Kassel.