Redebeitrag für den Ostermarsch Heidelberg am 16. April 2022

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Krieg in der Ukraine durch Deeskalation und Verhandlungen beenden!
Konflikt von USA/NATO mit Russland nicht auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung austragen

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

die Ostermärsche haben mittlerweile eine lange, über 60jährige Tradition. Doch leider sind wir in dieser Zeit einer friedlicheren Welt nicht näher gekommen. Durchgängig herrschte in den letzten Jahren in über 30 Ländern weltweit Krieg. Nun kam ein weiter hinzu, mit dramatischen Auswirkungen auf Europa und die ganze Welt. Vor sieben Wochen marschierte die russische Armee in die Ukraine ein und seitdem sind wir mit immer schrecklicheren Nachrichten aus der Ukraine konfrontiert, mit Bildern, die kaum zu ertragen sind.

Wir haben immer dagegen protestiert, Konflikte mit militärischen Mitteln zu lösen. Daher verurteilen wir selbstverständlich den Krieg Russlands in der Ukraine scharf, so wie die Friedensbewegung auch die Kriege des Westens in Jugoslawien, Afghanistan, im Irak und Libyen, Syrien und Mali verurteilt hat. Unabhängig davon, wie Vorgeschichte und Umstände zu bewerten sind, kann es aus unserer Sicht keine Rechtfertigung für einen solchen Krieg geben.

Allerdings dürfen wir unsere Vorwürfe nicht ausschließlich an die Adresse Moskaus richten, sondern auch an die der NATO-Staaten. Denn dieser Krieg in Europa hätte verhindert werden können und hätte verhindert werden müssen, wie u.a. die deutsche Sektion von IALANA, der Internationalen Vereinigung von Juristen gegen Atomwaffen in einem Offenen Brief an Kanzler Scholz überzeugend darlegte, in dem sie ihn gleichzeitig aber auch als Völkerrechtsbruch verurteilt.

Dieser Krieg ist eine gewaltige Katastrophe, wie all die andern zuvor, vor allem natürlich für die direkt Betroffenen. Russland hat damit eine brachiale Zäsur in seinen Beziehungen zum Westen vollzogen und die NATO-Staaten halten mit militärischer Unterstützung für die Ukraine und umfassenden Wirtschaftsblockaden dagegen, mit Blockaden, die bereits Auswirkungen auf die Versorgungslage weltweit, vor allem in ärmeren Ländern des globalen Südens haben. [Besonders dramatisch sind sie in Ländern wie Afghanistan und Jemen, in denen die Lebensverhältnisse infolge von Kriegen ohnehin katastrophal sind.]

Gefährliche Eskalation

Tatsächlich sind wir damit faktisch bereits selbst im Krieg. Deutschland und seine NATO-Partner wurden längst zur Kriegspartei, direkt militärisch durch Waffenlieferungen und implizit auch durch den beispiellosen Wirtschaftskrieg den sie entfesselt haben, mit dem Ziel, wie es die grüne Außenministerin offen verkündete, „Russland zu ruinieren“.

Berichte über Gräuel und mutmaßliche Kriegsverbrechen häufen sich. Sie kommen von beiden Seiten ‒ wahrgenommen werden jeweils aber nur die Meldungen über die der anderen Seite. Verifizieren lassen sie sich in der Regel nicht. Vorsicht ist bei aufwühlenden Fällen stets angesagt. Denn wie wir wissen, stirbt die Wahrheit im Krieg zuerst und gibt es starke Kräfte, die ein direkteres Eingreifen des Westens erwirken wollen. Doch unabhängig davon müssen wir natürlich davon ausgehen, dass Gräueltaten begangen werden, von beiden Seiten ‒ das gehört zum Wesen eines Krieges. [Auch wenn diese uns von früheren Kriegsschauplätzen nicht so hautnah mit Bildern und Videos präsentiert wurden.] Der einzige Weg sie zu verhindern, ist alles zu tun, um die Kampfhandlungen so schnell wie möglich zu stoppen.

Die Berichte über Gräuel werden hierzulande aber stattdessen zur weiteren Eskalation genutzt, bevor Untersuchungen von unabhängigen Ermittlern überhaupt begonnen wurden. Immer mehr Waffen, auch schwere, sollen geliefert werden und in der NATO wird auch immer wieder der Ruf nach sog. Flugverbotszonen laut ‒ in Washington in einem Maße, dass Militärs aus dem Pentagon sich genötigt sehen, Lageanalysen an die Öffentlichkeit durchzustechen, die das Kriegsgeschehen weniger dramatisch und brutal zeichnen, um der Kriegshysterie etwas entgegenzusetzen. Demnach hat die russische Armee z.B. in den ersten 24 Tagen weit weniger Bomben und Raketen abgeworfen als die USA im Krieg gegen den Irak 2003 am ersten Tag. Die Analysten des Pentagons sehen zudem auch keinerlei Anzeichen, dass die russische Armee jemals vorhatte die gesamte Ukraine zu besetzen. Sie schließen vielmehr aus dem Vorgehen der russischen Armee, dass es Moskau tatsächlich um die ausgesprochenen, begrenzten Ziele geht, und darum Verhandlungen für eine politische Lösung zu erzwingen.

Dabei sollte doch auch all denen, die ein noch stärkeres, gar direktes militärisches Eingreifen der NATO fordern, klar sein, wie brisant die Situation ist und wie groß die Gefahr, dass der Krieg sich zu einem großen Krieg in Europa ausweiten kann, in dem sich Atommächte gegenüber stehen.

Rasches Ende des Krieges nur über Verhandlungen möglich

Ungeachtet aller Empörung über den russischen Krieg, ein rasches Ende kann nur über Verhandlungen erreicht werden, wie auch der ehem. Bundeswehrgeneral Erich Vad vor kurzem betonte: Man müsse den Krieg zwischen Russland und der Ukraine vom Ende her denken. Im Moment werde „sehr viel Kriegsrhetorik“ gemacht, doch „wenn wir den Dritten Weltkrieg nicht wollen“, müssten wir, so der langjährige sicherheitspolitische Berater von Angela Merkel, früher oder später aus dieser militärischen Eskalationslogik raus und Verhandlungen aufnehmen.“ Er warnt auch davor, Wladimir Putin zu dämonisieren und ihn „zum krankhaften Despoten“ abzustempeln, „mit dem man nicht reden könne“. „So völkerrechtswidrig und furchtbar der Ukraine-Krieg sei,“ stehe er „doch in einer Kette vergleichbarer westlicher Kriege jüngeren Datums.“ Im Irakkrieg und der darauf folgenden Besetzung des Landes seien bekanntlich Hunderttausende Zivilisten getötet worden.

Kenntnisse über Kriegsursachen für Lösungsansätze nutzen

Voller Empörung über den russischen Krieg wollen viele nicht über dessen Hintergründe reden, aus Sorge, man würde ihn dadurch womöglich rechtfertigen. Um darüber nachzudenken, wie politische Lösungen aussehen können, ist es aber zwingend nötig, auf dessen Ursachen einzugehen. Tatsächlich sind diese, davon kann man ausgehen, durchaus allen Verantwortlichen im Westen bekannt ‒ auch wenn sie heute bei uns auf eine verquere Art geleugnet werden.

An Warnungen von prominenten westlichen Außenpolitkern und Konfliktforschern, dass die expansive und aggressive Politik der NATO gegen Russland in einem Krieg enden werde, war ja bekanntlich kein Mangel. Insbesondere die Zugehörigkeit der Ukraine zur NATO musste ‒ daran bestand kein Zweifel ‒ von Russland als große, gar existentielle Bedrohung gesehen werden‒ unabhängig davon, wer es regiert. Mit der Stationierung neuer Mittelstreckenraketen, mit denen die USA ab nächstem Jahr beginnen wollen, wird sie nochmal drastisch verschärft. Selbst durch ihre Lage vor vergleichbaren Bedrohungen geschützt, können sie mit ihnen, aus dem Baltikum oder Polen abgefeuert, in kurzer Zeit Ziele bis weit hinter den Ural zerstören. Die Hyperschallrakete „Dark Eagle“, die ebenfalls kommen soll, könnte Moskau von Deutschland aus in zehn Minuten erreichen und von der Ukraine aus in vier. Wladimir Putin sprach in seiner Rede am 21. Feb. im Hinblick darauf von einem drohenden „Messer am Hals“.

Die russische Regierung hatte bekanntlich im Dezember nochmal einen Versuch unternommen, die Lage durch vertragliche Vereinbarungen zu entspannen. Doch die USA und ihre Verbündeten ließen Moskau erneut abblitzen. [Dabei war ihnen die Brisanz der Lage offenbar durchaus bewusst. Wie das Wall Street Journal am 2. April enthüllte, hatten Bundeskanzler Scholz und der französische Präsident Macron am 19./20. Feb. noch einen letzten Versuch unternommen, den drohenden Krieg zu verhindern. Sie drängten den ukrainischen Präsidenten Selenski, offiziell auf die NATO-Mitgliedschaft zu verzichten, zugunsten einer durch Sicherheitsgarantieren untermauerten Neutralität. Für diesen Fall hatte Putin ein Gipfelgespräch mit US-Präsident Biden angeboten, dass zumindest einen Aufschub gebracht hätte. Den Europäer fehlte es jedoch, wie sich erneut zeigte, am nötigen Einfluss.]

Das alles rechtfertigt, wie schon gesagt, keinen Krieg, zeigt jedoch deutlich die Möglichkeiten für eine politische Lösung des Konfliktes auf. Die wesentlichen Punkte liegen offensichtlich auf der Hand: Eine Neutralität der Ukraine, die Akzeptanz der Abspaltung der Krim und Referenden über den zukünftigen Status der Donbass-Republiken. Durch entsprechende Angebote von Kiewer Seite wäre ein Waffenstillstand wahrscheinlich rasch erreichbar. Verhandlungen über den Rückzug der russischen Truppen könnten die NATO-Staaten durch Zugeständnisse bzgl. der berechtigten Sicherheitsinteressen Russlands gute Erfolgsaussichten verschaffen. [So bitter nun auch das Zurückweichen vor militärischer Gewalt sein mag, es ist die einzig realistische und humane Alternative zu einem langen zermürbenden Krieg.]

Kompromisse blockiert

Bei den Verhandlungen in Ankara lag das, was Moskau verlangte und das worüber Selenski sich bereit erklärt hatte, zu reden, schon nahe beieinander. Doch Washington und London drängten ihn ganz offen nicht nachzugeben und verstärkten, zusammen mit ihren Verbündeten, ihre militärische Unterstützung. [Der Westen wolle keinen Kompromiss, sondern, „bis zum letzten Ukrainer kämpfen“, so der ehemals hochrangige US-Diplomat Chas Freeman.]

Weder die politischen Verantwortlichen im Westen noch unsere Medien, die lautstark mehr Waffen fordern, interessiert es, ob für die Mehrheit der UkrainerInnen eine Verpflichtung zur Neutralität tatsächlich so schlimm wäre, dass sie bereit sind, dafür den Preis eines längeren Krieges, Tod und Verwüstung in Kauf zu nehmen; oder dafür, die Krim zurückerobern zu können ‒ wohl wissend, dass die überwiegende Mehrheit ihrer Bewohner auf keinen Fall zurück will. [Ist die Schweiz etwa aufgrund ihrer Neutralität weniger souverän? Gibt es nicht zahlreiche Beispiele, wo Frieden über die Akzeptanz von Gebietsabtrennung und weitreichende Autonomie erreicht wurde?]

Doch wer die Geschichte der letzten 30 Jahre verfolgt hat, weiß natürlich, dass es in diesem Krieg um weit mehr geht als um die Ukraine, dass es den USA und der NATO darum geht, „Russland zu brechen“, wie es der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger ausdrückte, als er 2015 eindringlich vor den großen Risiken einer solchen Politik warnte.

Militärisch werden die ukrainischen Truppen trotz verstärkter Aufrüstung den russischen weit unterlegen bleiben. Die Falken in Washington und anderen westlichen Hauptstädten setzen jedoch darauf, Russland möglichst lange zermürben zu können, und erinnern an Afghanistan ‒ ein langjähriges, entsetzliches und absolut zynisches Szenario.

Kein Krieg auf dem Rücken der UkrainerInnen

Dem müssen wir uns entschieden entgegenstellen und zu verhindern suchen, dass Deutschland und die EU sich immer weiter in diesen Krieg hineinziehen lassen. Wir müssen klar machen, dass wer in dieser Situation Waffen liefert, um ukrainische Truppen zu ermuntern, weiter wacker gegen den gemeinsamen Feind zu kämpfen, nur für eine Verlängerung des Kriegs sorgt, für mehr Tote, mehr Zerstörung.

Natürlich appellieren wir zuallererst an die russische Regierung, den Krieg zu stoppen. Doch gleichzeitig verlangen wir auch von unserer eigenen Regierung und der EU, dringend Schritte zur Deeskalation zu ergreifen. Trotz Kriegsopfer und Gräuel führt an Gesprächen zwischen Russland und allen beteiligten Staaten kein Weg vorbei.

Wir fordern die Einstellung von Waffenlieferungen sowie auch ein Ende der umfassenden Wirtschaftsblockaden, die stets überwiegend der Bevölkerung schaden sowie den Konflikt verschärfen und in diesem Fall durch ihre Ausmaße sogar Auswirkung auf Energie- und Lebensmittelversorgung in der ganzen Welt haben.

Gemeinsame Sicherheit statt Aufrüstung

Wir müssen wieder zurück zu den friedenspolitischen Ansätzen der 90er Jahre, die durch die Expansionspolitik der NATO zu Grabe getragen wurden. Eine Friedenspolitik der vertrauensbildenden Maßnahmen, die zu Entspannung und Abrüstung führen muss, zu einem System gemeinsamer Sicherheit und kontrollierter Abrüstung in Europa und weltweit, wie mit der Charta von Paris und folgenden Abkommen angestrebt worden war.

Wir sind entschieden dagegen, dass der Krieg nun zu einer beispiellosen Aufrüstung genutzt werden soll. Wir rufen zu einem breiten gesellschaftlichen Widerstand dagegen auf, dass zukünftig Jahr für Jahr Zig weitere Milliarden fürs Militär ausgegeben werden sollen. Hochrüstung verhindert keine Kriege, sondern macht sie wahrscheinlicher und verbrät Gelder, die dringend in anderen Bereichen gebraucht werden ‒ für Bildung, Gesundheit, ein solidarisches Sozialsystem, Maßnahmen gegen den Klimawandel und zur Bekämpfung der weltweiten Armut.

Vielen Dank.

 

Joachim Guilliard ist aktiv beim Friedensbündnis Heidelberg und beim Heidelberger Forum gegen Militarismus und Krieg.