Rededisposition für den Ostermarsch Frankfurt am 18. April 2022

 

- Sperrfrist:18. April 2022, Redebeginn: 14 Uhr -
- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Fluchtursachen in den Blick nehmen und für „gerechten Frieden“ eintreten

 

Anrede

Schon vor Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine waren weltweit mehr als 82 Millionen Menschen aus ihrer Heimat geflohen. Inzwischen hat sich die Zahl um mehrere Millionen erhöht und dürfte sich auf 90 Millionen zubewegen.

Die Nachrichten von Tod, Leid und Zerstörung in der Ukraine machen fassungslos und wütend, auch weil immer mehr ZivilistInnen betroffen sind.

Dieser Krieg muss so rasch wie möglich beendet und die territoriale Integrität der Ukraine wiederhergestellt werden.

Die Entscheidung der EU-Mitgliedstaaten, Geflüchtete aus der Ukraine unbürokratisch aufzunehmen und ihnen den Status eines „vorübergehenden Schutzes“ von bis zu drei Jahren zu gewähren, ist sehr zu begrüßen.

Diese Regelung muss auch für Menschen aus Drittstaaten zur Anwendung kommen, beispielsweise für Studierende aus afrikanischen Ländern, die die Ukraine verlassen mussten.

Außerdem müssen die Türen für Menschen aus der Region, die sich nicht aktiv am Krieg beteiligen wollen, offenstehen.

Eine vorrangige Aufgabe besteht nun darin, die Geflüchteten bestmöglich zu versorgen, ihnen eine rasche Integration in den Arbeitsmarkt und in Ausbildungen zu ermöglichen.

Wir müssen gleichzeitig den Blick über Europa hinaus auf die Welt richten

Die Zahl der Menschen, die unter das Mandat des UN Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR) fallen oder von Staaten als solche anerkannt wurden, hat sich im Lauf des vergangenen Jahrzehnts nahezu verdoppelt (2010 bis 2019 von 10,5 auf 20,4 Mio) (vgl. Fluchtursachenkommission 2021).

Ebenso die Zahl derjenigen, die vor Konflikten innerhalb ihres Landes Zuflucht suchen (sie stieg von 24,9 auf 45,7 Mio).

Der Anstieg ging vor allem auf Gewaltkonflikte in Syrien, Südsudan, Myanmar und Afghanistan und auf die Krise in Venezuela zurück.

In manchen Gewaltkontexten wurde die Situation durch Naturkatastrophen zusätzlich verschlimmert.

Nach UN-Angaben waren noch nie so viele Menschen auf der Flucht wie heute.

Wir sollten daher nicht vergessen:

Auch Menschen aus dem globalen Süden, die von Gewaltkonflikten und Menschenrechtsverletzungen bedroht sind, haben das Recht auf faire Asylverfahren.

Und die EU-Staaten sollten mehr Möglichkeiten für legale Einwanderung schaffen und dies im Einklang mit dem UN-Migrationspakt regeln, anstatt immer mehr Mittel in den Grenzschutz und in Migrationsabwehr zu investieren.

Gleichzeitig muss man immer wieder verdeutlichen:

Nur sehr wenige Menschen machen sich letztlich auf nach Europa: 85 Prozent der Geflüchteten leben in sogenannten Entwicklungsländern, meist unter katastrophalen Bedingungen, und zwei Drittel als Vertriebene in ihren Heimatländern.

Fluchtursachen angehen

Die Zahlen verdeutlichen, dass international sehr viel mehr in die Bewältigung von Fluchtursachen investiert werden muss.

Vorwiegende Gründe dafür, dass Menschen aus ihrer Heimat fliehen, sind Gewaltkonflikte und Verfolgung, das Versagen von Regierungen und Institutionen sowie Armut und Perspektivlosigkeit.

Zu diesem Schluss kam die von der Bundesregierung beauftragte Fluchtursachenkommission (FUK) in ihrem 2021 veröffentlichten Abschlussbericht.

Als Verstärker wirken die Klimakrise und demografischer Druck.

Prognosen sagen, dass klimabedingte Flucht und Migration in den kommenden Jahren zunehmen werden, und dass auch die Wahrscheinlichkeit gewaltsamer Konflikte um natürliche Ressourcen mit der Erderwärmung steigt.

Die Fluchtursachenkommission riet der Bundesregierung zu Maßnahmen, um die Ursachen umfassend und kohärent anzugehen, und zwar in fünf Bereichen.

An erster Stelle nannte sie:

  • 1. Krisen vorbeugen und Konflikte bewältigen:
    • Die Bundesregierung sollte sich verstärkt um die Prävention und Einhegung von Gewaltkonflikten bemühen.
    • Mit den Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ sei von der Regierung 2017 dafür der Rahmen geschaffen worden.
    • Jetzt brauche man klare und kohärente Strategien und Schritte zur Umsetzung.
    • Analyse- und Handlungsfähigkeit solle durch einen „Rat für Frieden, Sicherheit und Entwicklung“ gestärkt werden, der die Zivilgesellschaft einbezieht.
    • Ws gehe um die Stärkung von zivilen Ansätzen der Krisenprävention und Konfliktbearbeitung, von Kapazitäten für Mediation und humanitäre Diplomatie.

Rüstungsexporte und Sicherheitskooperationen sollten genau geprüft werden, damit sie Konflikte nicht weiter anheizen oder Menschenrechtsverletzungen befördern.

Weiterhin nannte der Bericht der FUK:

  • 2. Lebensgrundlagen sichern und Entwicklungsperspektiven eröffnen
  • 3. Den Klimawandel aufhalten und seine Auswirkungen solidarisch bewältigen
  • 4. Flüchtlinge und Vertriebene in Aufnahmeländern unterstützen
  • 5. Deutsche und europäische Flucht- und Migrationspolitik menschlich und kohärent gestalten.

Um diese Empfehlungen umzusetzen, müssen Haushaltsmittel vorgehalten werden.

Inzwischen hat Bundeskanzler Scholz angekündigt, den Verteidigungshaushalt mit 100 Mrd € auszustatten und dafür Schulden aufzunehmen, und gleichzeitig die Militärausgaben dauerhaft auf 2% der Wirtschaftsleistung anzuheben.

Dieser Vorschlag wirkt völlig überzogen, erst recht, wenn man bedenkt, dass der Haushalt des BMVg seit 2015 schon eine massive Steigerung um 14 Mrd € auf 47 Mrd erfahren hat.

Nun drohen bei den Ausgaben für Entwicklungspolitik und zivile Krisenprävention Kürzungen, obwohl diese dringend eine Aufstockung benötigen.

Der Haushaltsentwurf des Kabinetts für 2022 sieht vor, den Entwicklungsetat um 1,6 Mrd € im Vergleich zum Vorjahr zu senken.

Die Mittel für die Humanitäre Hilfe im Ausland sollen um 110 Mio € sinken.

Die Kürzungen wurden vom Verband Entwicklungspolitik und Humanitäre Hilfe (VENRO, PM 17.3.2022) mit Recht massiv kritisiert:

Viele einkommensschwache Länder haben die Auswirkungen der Pandemie noch nicht überwunden, nun droht ihnen schon der nächste Schock durch explodierende Nahrungs- und Energiepreise in Folge des Kriegs in der Ukraine.

Wichtige Lieferungen von Weizen, Mais und Speiseölen werden entfallen; besonders im Nahen Osten und in Afrika sind viele Länder auf Importe angewiesen oder sogar vollständig von ihnen abhängig.

Nach Berechnungen von VENRO braucht es bis zum Ende der Legislaturperiode mindestens 30 Mrd € mehr für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit und die Humanitäre Hilfe, für Ernährungssicherung, Klimafinanzierung und internationale Gesundheitsversorgung.

Mittel für Entwicklung und Humanitäre Hilfe erhöhen, Politik konfliktsensibel gestalten

In einer solchen „multiplen Krisensituation“, so VENRO, müsse „die Bundesregierung mehr Verantwortung für die ärmsten und verwundbarsten Menschen (…) übernehmen“, und bei den Ausgaben für Entwicklung und Humanitäre Hilfe nachlegen.

Auch Brot für die Welt, das christliche Hilfswerk, für das ich tätig bin, hat viele Partner im Globalen Süden.

Und wir wissen, dass Gewaltkonflikte, Ungerechtigkeit und Umweltzerstörung in anderen Teilen der Welt auch von politischen Entscheidungen in Deutschland begünstigt werden.

Unsere Rohstoff-, Klima-, Wirtschafts-, Rüstungs-, Sicherheits-, und Handelspolitik muss fortlaufend darauf hin geprüft werden, ob sie konfliktsensibel ist, oder ob sie Gewaltkonflikten, Menschenrechtsverletzungen und der Zerstörung von Lebensgrundlagen Vorschub leistet.

„Landgrabbing“ ist eine häufige Begleiterscheinung unbedachter oder profitorientierter Wirtschaftsbeziehungen. Landfragen müssen in internationalen Friedensbemühungen aufgegriffen werden, um eine gerechte Verteilung zu bewirken.

Die Förderung von Friedensarbeit und konstruktiver Konfliktbearbeitung muss als integraler Teil von Entwicklungspolitik betrachtet werden.

Die Erfahrungen unserer Partner zeigen, dass die Transformation von Konflikten dort gelingt, wo die Ursachen frühzeitig erkannt werden und wo das Friedenspotenzial der Bevölkerung gestärkt wird.

Dafür müssen auch Handlungsspielräume der Zivilgesellschaft erweitert und geschützt werden.

Europa in globaler Verantwortung

Alle, die in Europa bislang in relativem Frieden leben, tragen Verantwortung für den Frieden in der Welt. Wir dürfen nicht darin nachlassen, uns für eine gerechtere Verteilung von Wohlstand, für den Zugang aller Menschen zu Nahrung und natürlichen Ressourcen und vor allem für nachhaltiges Wirtschaften zu engagieren.

Und wir müssen uns langfristig weiterhin für eine gesamteuropäische Sicherheits- und Friedensordnung einsetzen, die diesen Namen verdient, auch wenn die Chancen für die Umsetzung aktuell schlecht stehen mögen.

Sicherheit darf nicht einfach nur militärisch definiert werden, sondern muss sich an den Bedürfnissen der Menschen orientieren – am Konzept der „menschlichen Sicherheit“, das im Kontext der Vereinten Nationen entwickelt wurde.

 

Dr. Martina Fischer arbeitet seit 2016 als Referentin für Frieden und Konfliktbearbeitung bei Brot für die Welt, Berlin. Davor war sie als Politikwissenschaftlerin in der Friedens- und Konfliktforschung tätig, darunter fast 20 Jahre an der Berghof Foundation in Berlin.

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