Redebeitrag für den Ostermarsch Hameln am 16. April 2022

 

- Sperrfrist: 16. April 2022, Redebeginn: 12 Uhr -
- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Sehr geehrter Herr Landrat Adomat,
lieber Herr Oberbürgermeister Griese,
liebe Aktive aus Fridays for Future,
liebe Freund*innen der IG-Metall-Jugend,
liebe Friedensfreundinnen und Freunde,

worüber sprechen in Zeiten des Krieges? Mir fällt es in diesen finsteren Wochen schwer, Worte zu finden. Worüber reden auf einem Oster- und Friedensmarsch, wenn im Osten Europas Krieg ist? Über den Frieden, der weit entfernt ist? Über das Böse und das Gute? Und darüber, dass der Mensch beides ist?

Demokratie ist ein hohes, bedrohtes Gut

Hier in Hameln frei und ungefährdet zu sprechen ist ein nicht selbstverdienter Luxus. Nichts gefährdet mein Reden, nichts gefährdet unser Beisammensein. Demokratische Freiheitsrechte sind ein hohes Gut – und sie sind gefährdet. Es lohnt, sich dieses zu erinnern. So ist für mich der Friedensmarsch heute auch eine Solidarität mit allen Inhaftierten und verurteilten Kritiker*innen des Krieges in Russland, die für ihren öffentlichen Protest für den Frieden bestraft worden sind.

Unmittelbarer Schmerz

Worte des Friedens klingen während des Krieges anders. Worte des Friedens im Krieg sprechen über einen unmittelbaren Schmerz. Und unsere Friedensworte müssen diesem Schmerz Ausdruck geben, wenn sie nicht nur Parolen sind. Sie müssen aushalten, dass Zerstörung und Gewalt, Terror, Bomben, Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser nicht von Friedenssätzen gestoppt werden.

Der Schmerz dieser Wochen ist nicht der unsrige.

Diese Einsicht ist zentral. Der Schmerz liegt in Mariupol und Cherson, er ist in Lwiw und Charkiw. Er peinigt die Seelen der geflüchteten Frauen und Kinder, die in unseren Wohnungen oder Notunterkünften wohnen. Er lässt russische und ukrainische Soldaten am Sinn ihres Dienstes und ihres Lebens verzweifeln.

Ich bin nicht in der Lage eine scharfsinnige Analyse der Versäumnisse vorzubringen, die das, was geschieht, erklärt. Ich bin auch nicht in der Lage zu erklären, wie man mit irrsinnigen Herrschern, mit nationalistischen, imperialen Diktatoren eine Friedenspolitik auf die Beine stellen kann. Ich weiß es nicht. Ich empfinde nur manche politische Analyse wie eine Arztbesprechung, die weitschweifige Erläuterungen macht über den Krankheitsverlauf, während der Patient stirbt.

Worte des Friedens über den Straßen und Plätzen in Butscha zu rufen, obliegt uns nicht. Ich höre diese Friedensrufe in den Tränen der geflüchteten Menschen und kann nur schweigen. Ich höre sie in den Interviews mit verzweifelten Bewohner*innen, die in zerstörten ukrainischen Städten und Dörfern beinahe sprachlos sind, angesichts des Grauens. Unvergesslich für mich: Gleich zu Beginn des Krieges waren die Tränen einer Interviewpartnerin in der Ukraine in den Nachrichten, die während des Gesprächs zu weinen begann, als sie erzählte, dass ihr Sohn sich gerade freiwillig zum Einsatz gemeldet hatte. Die Stille in den Kellern und Schächten bei den Menschen in Odessa, die Traumatisierung vergewaltigter Frauen, das alles sind schmerzhaft laute Schreie des Friedens. Das ist die Wehklage über das menschliche Gräuel Krieg. Dieses sind die Klagerufe zur Gewaltlosigkeit, die aus den Mündern der Opfer stammen. Aus unserer sicheren Position heraus die Opfer von Waffengewalt zum passiven Widerstand aufzurufen, wie ich es manchmal gehört habe, das halte ich schlichtweg für zynisch.

Die Opfer im Mittelpunkt

Die erste Pflicht, die uns obliegt und die hunderttausend Menschen selbstverständlich ergriffen haben, ist die Solidarität mit den Opfern. Es ist ein Akt der Humanität. Es ist christliche, jüdische, muslimische Nächstenliebe, eine menschliche, allzu menschliche Hilfe. Menschen, die in Not sind, brauchen unsere Hilfe. Nicht in Worten, sondern im konkreten Dienst. Nicht in frommen Sätzen, sondern praktisch. Ich habe einige Beispiele in den vergangenen Wochen selbst gesehen und von hunderten Fällen gelesen. Großartig!

Diese Kriegsführung eines Diktators lässt uns solidarisch sein mit den Opfern. Mit den Opfern der Gewalt. Und, wenn wir nachdenken, auch mit den Opfern der Propaganda. Und er bringt uns die schmerzhafte Erkenntnis menschlicher Begrenztheit, auch unserer eigenen. Wir sehen, wohin Machtfantasien und menschliche Überheblichkeit führen.

Keine Parolen aus sicherer Position

Natürlich halte ich an der Hoffnung auf Frieden ohne Waffengewalt fest.

Meine Überzeugung, dass es eine Zukunft der Menschheit auf diesem Planten nur in Frieden geben kann, ist in den vergangenen Wochen und Monaten bestärkt, ja, sie ist zur absoluten Gewissheit geworden. Der Mensch gewinnt nur ein Morgen auf dieser Erde im Frieden - oder er verliert alles.

Was sind unsere Opfer?

Und nun frage ich mich: Wo aber liegen unsere Opfer? Wir, die wir den Krieg im Osten Europas verfolgen, die wir von der medialen Überflutung der Bilder bald irre werden, die wir Mehl speichern und Sonnenblumenöl bevorraten, was ist der Preis, den wir zahlen? Welches ist der Einsatz, den wir bieten für den Frieden? Welches sind unsere Opfer?

Sind wir bereit, die Folgen der notwendigen Sanktionen gemeinsam zu tragen? „Frieren für den Frieden,“ ist ein Schlagwort und eine unzulässige Verniedlichung von Menschen, die es sich leisten können. Deshalb: Sind wir bereit, auf Komfort zu verzichten und dann auch entschlossen die Bedürftigen zu unterstützen, die hier bei uns als erstes betroffen sein werden und in tiefster Überzeugung schon sind? Sind wir bereit, rhetorisch abzurüsten und auf eine Sprache der Gewalt zu verzichten? Auf vernichtende Kommentare und Hassbotschaften in den sozialen Medien? Sind wir bereit, mit denen Gespräche zu führen, die politisch anderer Meinung sind und auf Gegendemos ziehen? Sind wir bereit, die Folgen der Sanktionen auch noch in einem halben oder in zwei Jahren zu tragen und als unseren wichtigen Beitrag zum Frieden zu sehen?

Morgen ist Ostern. In unseren Kirchen wird in diesen Wochen seit Kriegsbeginn wie in den Synagogen und Moscheen auch um Frieden gebetet. Wir bitten um das Ende dieses Krieges. Um Einsicht der Mächtigen. Um Kraft für die Opfer. Wir laden morgen ukrainische Geflüchtete ein und beten mit ihnen zusammen, morgen ganz besonders. Die Auferstehung Jesu macht den Anfang, um dem enttäuschenden Handeln dieser Welt eine andere Perspektive zu geben. Wir werden nicht aufhören, daran zu glauben.

 

Ralf Meister ist Landesbischof der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers.