Redebeitrag für den Ostermarsch Heidelberg am 16. April 2022

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Aktuelle und historische Beispiele Sozialer Verteidigung

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

Nichts geht mehr! Wer vorgestern in Frankfurt/M stadteinwärts fuhr, stand im Stau. Verantwortlich waren junge Menschen in gelben Westen, die sich auf die Fahrbahn klebten. „Anstatt aus dem Ukrainekrieg zu lernen, treibt uns die Regierung weiter in den Wahnsinn!“ , so ihr ihr Appell.

Hier wird Ziviler Ungehorsam praktiziert gegen die Verkehrs- und Klimapolitik der Bundesregierung, aber auch gegen die Aufrüstung, die Milliarden verschlingt, ohne die Welt sicherer machen.

Mein Name ist Renate Wanie vom Heidelberger Friedensratschlag und der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion. Seit vielen Jahren beschäftigt mich die Frage, welche zivilen Alternativen gibt es, um die Konflikte dieser Welt konstruktiv und aktiv zu bearbeiten? Frieden schaffen ohne Waffen – genau! Aber wie sich verteidigen, wenn ein aggressiver Nachbar uns bedroht? Vielleicht geben uns die jungen Aktivisti auf der Frankfurter Autobahn einen Teil der möglichen Antwort? Aber jetzt ist Krieg in der Ukraine. Ein Krieg, der jeden Tag brutaler zu werden droht. Und kein Ende ist in Sicht.

Auch wenn es, angesichts des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges und der Gräuel an der Zivilbevölkerung schwer fällt, erlaube ich mir die Frage: Welche weiteren Alternativen gibt es zu Waffenlieferungen?

Genau wissen wir es nicht, es wurde auch nicht ernsthaft darüber gesprochen, nicht auf Regierungsebene und nicht in der Friedensbewegung. Aus Anlass des Ostermarsches und auf dem Hintergrund des brutalen Angriffskrieges in der Ukraine durch das russische Militär, möchte ich heute an das Konzept der Sozialen Verteidigung (SV) erinnern. In den 80er Jahren, zu Zeiten des Kalten Krieges und während des Widerstands gegen die damalige Stationierung von Atomraketen, wurde dieses Konzept
als Alternative zur militärischen Abschreckung breit diskutiert.

War uns doch allen klar - falls militärisch verteidigt wird, wird in Mitteleuropa genau das zerstört, was verteidigt werden soll, mit ungeheuren Verlusten an Menschenleben. Eine wirkliche Verteidigung von Menschen und Städten erschien nicht möglich. Kommt uns das aktuell nicht bekannt vor?

Ist die Idee einer zivilen Verteidigung nicht nur ein schöner, aber unrealistischer Traum? Ich meine, nein. Auch aktuell im Krieg in der Ukraine gibt es Beispiele zivilen Widerstands bzw. Ansätze Sozialer Verteidigung

  • Am 5. März sahen wir auf den Zugangsstraßen zum ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja Menschenmassen, die versuchten vor der Bombardierung des Atomkraftwerkes mit ihren Körpern den russischen Militärs den Weg zu versperren. Oder mit großem Respekt nehmen wir wahr, dass unbewaffnete Bewohner:innen auf Panzer zugingen, sich ihnen entgegenstellten und versuchten, sie - wie es in den Medien heißt mit bloßen Händen aufzuhalten. Es gab wohl Beispiele, wo die Panzer wirklich abgedreht sind.
  • In den ersten Tagen des Krieges sahen wir immer wieder Bilder, wie mit erstaunten und erschrockenen russischen Soldaten gesprochen wurde. „Was macht ihr hier, geht zurück in eure Heimat!?
  • Ein anderes Beispiel ist ein Widerstand innerhalb der russischen Armee. Der verlangsamte Vormarsch der 65 km langen russischen Militärkolonne auf Kiew war möglicherweise nicht nur ein Logistikproblem. Wie es manchmal durchklang, waren es auch motivationslose russische Soldaten. Berichtet wird sogar in der SZ von russischen Soldaten, die gegen ihre Panzer und Fahrzeuge Sabotageakte durchführten und diese dadurch lahmlegten. (Gierke, SZ, 5.3.22)

All dies sind klassische Werkzeuge aus der Werkzeugkiste der Sozialen Verteidigung.

Was aber ist der Grundgedanke der Sozialen Verteidigung, welches Verständnis liegt der SV zu Grunde?

Die Soziale Verteidigung ist ein Konzept des Gewaltfreien Widerstands, das für die kollektive Verteidigung gegen militärische Übergriffe eines anderen Landes oder bei einem Staatsstreich entwickelt wurde. Es ist also ein Fall von aktivem zivilem Widerstand gegen einen militärischen Aggressor.

Der Grundgedanke der SV ist der des zivilen Widerstands als Alternative zum Krieg: Verteidigt wird nicht ein Territorium bzw. die Landesgrenzen, vielmehr geht es darum, einen Aggressor dadurch scheitern zu lassen, dass die Bevölkerung ihm den Gehorsam und die Zusammenarbeit verweigert.

1) Übertragen wir diesen Gedanken, bedeutet dies, dass die Bevölkerung eines angegriffenen Landes sich entscheiden kann, ob sie die Möglichkeit sieht, sich militärisch oder zivil und sozial zu verteidigen.

2) Ein Angreifer braucht, um ein Land beherrschen zu können, die Mitarbeit der Beherrschten. Die Besatzer sind angewiesen auf die Stadtverwaltungen, den Handel, die Fabriken. Wenn Russland die Ukraine beherrschen und nicht in eine Ruinenlandschaft verwandeln will, dann muss es auch funktionierende Städte kontrollieren wollen. Hier setzt SV an. Denn solch eine Zusammenarbeit kann verweigert werden! Dafür gibt es den Begriff der Dynamischen Weiterarbeit ohne Kollaboration“. Was steckt dahinter?

  • In Norwegen 1942 unter der Besatzung der Nazis ist besonders die Weigerung der Lehrer:innen bekannt geworden, faschistische Lehrinhalten zu vermitteln. Die Lehrerinnen und Lehrer sollten damals ein neues NS-Curriculum in den Schulen einführen. Doch sie haben ihre alten Lehrpläne weiter benutzt und sich geweigert, die Nazi-Inhalte zu unterrichten. Viele sind eingesperrt worden, aber da niemand kooperierte, mussten die Nazis die Lehrer:innen wieder freilassen. Die Schulen
  • blieben nazifrei! „Die Lehrer haben mir alles verdorben“ äußerte der Stadthalter Hitlers, ein Herr Quisling.
  • In Prag 1968 beim sogenannten Prager Frühling wurde das Land vierzehn Tage gewaltfrei verteidigt. Alle Panzer wurden belagert, Straßenschilder abmontiert, Züge fehlgeleitet, Fahrzeuge auf den Straßen blockiert, und die Soldaten wurden einem Trommelfeuer an Argumenten ausgesetzt. Schließlich sprachen die Tschechen auch russisch (wie auch die Ukrainer:innen).
  • In Estland 1991. Die Menschen verteidigen unbewaffnet ihren Rundfunk und ihr demokratisches Parlament gegen die russischen Truppen mit ihren Körpern und ihrem Engagement. Die Truppen wurden nach Tagen erfolglos abzogen. Lettland wird unabhängig.
  • Aktuell gibt es mehrere Berichte von Bürgermeistern in der Ukraine, die sich weigerten, den Anweisungen des russischen Militärs zu folgen. (immer unter Vorbehalt bei Kriegsberichterstattungen!) Diese Beispiele sind typische Methoden gewaltfreien Widerstands aus dem Konzept der Sozialen Verteidigung. Sie unterscheiden sich in vier Vorgehensweisen:
  • den Zusammenhalt des Widerstands sichtbar machen (weiße Tücher raushängen, weiße Kleidung wie in Belarus, Buttons tragen oder Büroklammern am Revers wie in Dänemark während er deutschen Okkupation oder einfach Regenschirme wie in Hongkong,
  • die gegnerische Partei von ihren Zielen abbringen, wie in Norwegen während der NS-Besetzung (m.d. genannten dynamische Weiterarbeit ohne Kollaboration),
  • die Nichtzusammenarbeit (Boykott, Streiks, Steuerverweigerung wie beim Kapp-Putsch 1923
  • und viele weitere Formen des Protestes und der Blockaden, die wir in den Sozialen Bewegungen und in den Gewerkschaften regelmäßig praktizieren. Wie auch kürzlich auf den Straßen in Frankfurt. Zwar nicht gegen Panzer, aber gegen die SUVs, die ja manchmal wie kleine Panzer wirken.

Einen Schlussgedanken:

Wer mit Blick auf den Ukraine-Krieg pazifistische Positionen vertritt, bekommt häufig den Vorwurf, naiv zu sein oder auch, die Angegriffenen nicht im Blick zu haben. Mein Ziel heute auf dem Heidelberger Ostermarsch ist, das in Vergessenheit geratene Konzept der SV wieder in die Diskussion zu bringen.

Die Grundlagen des Konzeptes der SV sind Pazifismus und Gewaltfreie Aktion sie sind also ein dritter Weg zwischen Gewalt und Nichtstun, um bestehende gesellschaftliche Verhältnisse kollektiv zu verteidigen sowie eine auf Menschenrechten und Demokratie gegründete Gesellschaft zu bewahren und durchzusetzen.

Dazu gehört natürlich Vorbereitung. Bisher fanden alle Beispiele von Sozialer Verteidigung spontan statt. Was wäre möglich, wenn sich die Bevölkerung eines Landes angesichts einer Bedrohung auf Soziale Verteidigung vorbereiten würde? Z.B. in Trainings in sozialer Verteidigung. Die Verluste an Menschen und die Zerstörung der Städte und Dörfer wären geringer, wie uns z.B. Prag 1968 oder Lettland 1991 zeigen.

Eine Garantie für den Erfolg gibt es nicht. Den gibt es aber auch bei militärischer Verteidigung nicht, so sehr wir den Menschen in der Ukraine ein schnelles Ende der Kampfhandlungen wünschen. Und noch etwas: Das Grundgesetz haben wir auf unserer Seite. Steht da doch ganz einfach:

Alle Macht geht vom Volke aus. Wenn das kein Aufruf ist, sich als Bürgerinnen und Bürger machtvoll und gewaltfrei mit den Mitteln der Sozialen Verteidigung zu verteidigen? Lohnender jedenfalls als in 100 Mrd. € Aufrüstung zu investieren, die keine Sicherheit bringt. Deshalb: Es ist notwendig Sicherheit neu denken“, Soziale Verteidigung als Alternative entwickeln. Das sind unsere Aufgaben als Friedensbewegung.

Ich danke für Euer Zuhören!

 

Renate Wanie ist aktiv beim Heidelberger Friedensratschlag und Werkstatt für Gewaltfreie Aktion.