Redebeitrag für den Ostermarsch Bremerhaven am 16. April 2022

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Friedensfreunde und Friedensfreundinnen,

Bundeskanzler Scholz sagte in einer Rede am 25. Februar, einen Tag nach Beginn der russischen Kampfhandlungen:

"Wir alle sorgen uns um den Frieden. Ich kann mir gut vorstellen, welche Fragen Sie sich heute Abend stellen. Mir geht es da nicht anders. Die Lage ist sehr ernst.
Gerade erleben wir den Beginn eines Krieges, wie wir ihn in Europa so seit mehr als 75 Jahren nicht erlebt haben.
Russlands Präsident Putin hat die Entscheidung getroffen, die Ukraine militärisch anzugreifen. Das ist ein Überfall auf ein unabhängiges, souveränes Land.
Es ist durch nichts und niemanden zu rechtfertigen.
Es ist der Versuch innerhalb Europas Grenzen gewaltsam zu verschieben, ja vielleicht ein ganzes Land von der Weltkarte zu tilgen. Voller Absicht bricht Präsident Putin mit den Grund-Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen und mit der europäischen Friedensordnung. Er gefährdet das Leben unzähliger Bürgerinnen und Bürger der Ukraine, dem Brudervolk Russlands.
All das geschieht nicht weit weg von uns, sondern hier in Europa.”

In einem wesentlichen Punkt irrt Herr Scholz oder seine Erinnerung lässt ihn im Stich. 1999 startete die NATO Luftangriffe auf Serbien. Serbien war eine der letzten Teilrepubliken Jugoslawiens, viele andere hatten sich unabhängig erklärt und waren unter anderem von Deutschland schnell anerkannt worden. Serbien hatte keinen Staat der NATO angegriffen oder bedroht und der UN-Sicherheitsrat hatte auch die NATO nicht zu einem solchen Angriff mandatiert. Damals ist das Land Jugoslawien von der Weltkarte getilgt worden.

Es gibt Gemeinsamkeiten des Vorgehens der NATO damals und der russischen Regierung heute. Anekdotisch möchte ich anmerken, dass die deutsche Regierung damals sich beharrlich weigerte, den Krieg Krieg zu nennen. In ihrer Sprachregelung handelte es sich um eine humanitäre Intervention. Andere Kriege, an denen NATO-Staaten beteiligt waren firmierten als Kampf gegen den Terror oder als friedenserzwingende Maßnahmen.

Mich stimmt es immer misstrauisch, wenn mit zweierlei Maß gemessen wird, wenn die Repräsentanten der gleichen Staaten, die am Jugoslawienkrieg von 1999 beteiligt waren und danach Afghanistan und den Irak angegriffen haben, sich als moralisch überlegen aufspielen. Dabei weiß inzwischen jeder, dass der Irak-Krieg von 2003 mit einer Lüge begründet wurde. Die Zahl der Menschen, die Kriegen unter Beteiligung des Westens zum Opfer fielen, wird auf viele Hunderttausend geschätzt.

In den letzten Tagen bin ich auf ein Zitat von Egon Bahr gestoßen. Bahr gilt als wichtigster Berater und Vertrauter Willy Brandts und ist maßgeblich an der Entspannungspolitik mit dem Osten beteiligt gewesen. Von ihm ist der Begriff „Wandel durch Annäherung". Selbst im Alter von 91 Jahren hat er noch Vorträge vor Schülern und Schülerinnen gehalten und sich ihren Fragen gestellt. Bei einer Veranstaltung in Heidelberg gab er ihnen mit auf den Lebensweg:

„In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie und Menschenrechte, es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.”

Verlierer sind in jedem Krieg die Menschen, die im Kriegsgebiet leben, aber auch die Soldaten, die man zwingt, aufeinander zu schießen. Ich habe volles Verständnis für die Menschen, die als Fliehende zu uns kommen und teile mit ihnen den Wunsch, dass die Kampfhandlungen möglichst bald beendet sein mögen. Wie es schon im Aufruf steht, betrachten wir ihre gastfreundliche Aufnahme als einen Akt praktischer Solidarität. Diese Verlierer werden in ARD und ZDF ausgiebig gezeigt, aber die Interessen von Staaten, um die es ja nach Bahr in der internationalen Politik geht, kommen nicht zur Sprache und das Wort „Geopolitik” wird sorgsam gemieden.

Gibt es denn auch Gewinner? Präsident Biden wollte, dass Nord-Stream 2 nicht in Betrieb geht, das ist erreicht worden. Die Existenzberechtigung der NATO wird in keinem westlichen Mainstream-Medium mehr angezweifelt. Das hat Folgen für Waffenproduktion und -export, insbesondere US-amerikanischer Hersteller. Wenn die Bundeswehr F-35 Kampfflugzeuge bestellt, werden das andere westeuropäische Staaten auch tun müssen. Im wahrsten Sinne ein Bombengeschäft. Die Waffen, die jetzt in die Ukraine geliefert werden, kommen teils aus alten Beständen, aber wenn Waffen für Milliarden geliefert werden sollen, sind das keine Spenden der Rüstungsindustrie, sondern die Mittel müssen vom Steuerzahler aufgebracht werden.

Wenn jetzt davon die Rede ist, dass Deutschland auf Gaslieferungen aus Russland verzichten soll, so spricht daraus nicht die Sorge, Russland könnte Deutschland irgendwie erpressen, sondern es geht um handfeste Wirtschaftsinteressen der Weltmarktkonkurrenten Deutschlands aber auch der Staaten, die Russland aus geopolitischen Gründen schaden wollen. Moralische Erwägungen können es nicht sein, denn Deutschland bezieht Öl aus Saudi-Arabien, das mit Tornados und Eurofightern aus europäischer Produktion Luftangriffe gegen den Jemen fliegt, und es strebt Verträge zur Lieferung von Flüssiggas mit Katar an, von dem bekannt ist, dass es dort mit den Menschenrechten nicht zum Besten steht.

Wenn es in der internationalen Politik um die Interessen von Staaten geht, so wäre es doch interessant, etwas über die Interessen Russlands herauszufinden. Die Bezeichnung des Kriegs als „Putins Krieg” suggeriert, es gäbe keine russischen Interessen, Putin sei der Einzige, der in Russland was zu sagen hätte und wenn er ausgeschaltet oder entmachtet wäre, wäre auch der Krieg zu Ende. Mit dieser Auffassung wird faktisch geleugnet, dass Verhandlungen sinnvoll sein könnten, denn Verhandlungen zielen immer auf einen Interessenausgleich.

Was bewirken Waffenexporte in die Ukraine?

Sie steigern die Umsätze der Rüstungsindustrie wie schon bemerkt. Sie schwächen die geopolitische Bedeutung Russlands. Aber sie verlängern auch den Krieg. Und es ist dieser letzte Punkt, der ganz sicher nicht im Interesse der ukrainischen Bevölkerung liegt. Spätestens hier stellt sich die Frage, wessen Interessen Selenskij vertritt, wenn er vom Westen mehr Waffenlieferungen verlangt und seine Landsleute zum Durchhalten auffordert. Es sind diese letzten Überlegungen, die uns bewegen, weiterhin zu fordern: Keine Waffenexporte!

Wir haben im Aufruf gefragt, was mehr Geld für die Rüstung bewirken soll. Bereits jetzt verfügen die NATO-Staaten über mehr und modernere Waffen als Russland und der Militäretat allein der USA ist mehr als zehnmal so hoch wie der Militäretat Russlands. Und Russland hat auch kein NATO-Land angegriffen.

Was ist das 100-Milliarden-Sondervermögen für Anschaffungen der Bundeswehr anderes als ein riesiges Konjunkturpaket für die Rüstungsindustrie? Und dafür soll mal eben das Grundgesetz geändert werden? Ich wünschte mir stattdessen Sondervermögen für die Verbesserung des Gesundheitswesens, des Bildungswesens, der Verkehrsinfrastruktur und natürlich für Maßnahmen zum Umweltschutz und zur Reduzierung von Treibhausgasen.

Die evangelische Initiative „Ohne Rüstung leben” hat beispielhaft aufgeführt, was mit 100 Milliarden Euro alles finanziert werden könnte. Es sind alle Maßnahmen, die ich im folgenden nenne: 5000 bis 10000 Windkrafträder plus die Bezahlung von 130000 neuen Pflegekräften vier Jahre lang plus 20 Milliarden Euro für den zivilen Katastrophenschutz plus der Subventionierung von 900000 Sozialwohnungen plus das 90-fache Budget für zivilen Friedensdienst für 4 Jahre, um wirklich Frieden zu gestalten.

Die sogenannte atomare Abschreckung hat als Voraussetzung die Zweitschlagfähigkeit, das heißt die Fähigkeit bei einem Angriff mit Atomwaffen mit Atomwaffen zurückzuschlagen. Alle Versuche, die Zweitschlagfähigkeit zum Beispiel durch Raketenabwehrsysteme einzuschränken, gefährden damit die weltweite Sicherheit. Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit eines versehentlich ausgelösten Angriffs um so kleiner, je weniger Staaten die Verfügungsgewalt über Atomwaffen haben. Soll atomare Teilhabe heißen, dass auch Deutschland über die Atomwaffen auf seinem Territorium verfügt? Dann wäre Deutschland faktisch eine Atommacht und die USA hätte gegen den Atomwaffensperrvertrag verstoßen. Wenn nach wie vor nur die USA über diese Atomwaffen verfügen, was soll dann atomare Teilhabe bedeuten? Wir bleiben jedenfalls bei der Forderung, dass es auf deutschem Boden keine Atomwaffen geben soll und fordern darüber hinaus, dass Deutschland dem Atomwaffenverbotsvertrag der UN beitritt und ihn ratifiziert.

Es hat mich erstaunt, wie total bis in die Satiresendungen hinein im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Aufrüstung als alternativlos und andere Auffassungen geradezu als unmoralisch oder krankhaft dargestellt wurden. Ich sehe darin eine Form von Gleichschaltung, die der Gesprächskultur in unserem Land nicht gut tut.

Mit einer gewissen Befriedigung wurde berichtet, dass auf der UN-Sondersitzung mit großer Mehrheit eine Resolution beschlossen wurde, die Russland verurteilt. Daraus wurde geschlossen, dass Putin in der Welt isoliert sei. Ich habe mal zusammengezählt, wie viele Menschen in den Staaten leben, die dieser Resolution nicht zugestimmt hatten: Es sind über 4 Milliarden Menschen, mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung. Das relativiert die weltweite Isolierung doch etwas.

Wer hat in der jetzigen Situation Hintergrundberichte über die Ukraine zur Kenntnis nehmen können? Umstandslos wird die Ukraine als Hort westlicher Freiheit, als von Russland gefürchtetes Vorbild für die eigene Bevölkerung dargestellt. Nimmt man das kaufkraftbereinigte Bruttoinlandprodukt pro Kopf als Indiz für den Lebensstandard, so wird man feststellen, dass dieser Betrag für Russland doppelt so hoch ist wie für die Ukraine. Und wo findet man schon erwähnt, dass die Ukraine als das Land Europas mit der höchsten Korruption gilt, und wo, dass es die ukrainische Regierung seit 2015 nicht geschafft hat, den Vertrag Minsk II umzusetzen?

Das eben gesagte entschuldigt nicht den russischen Angriff, aber es formuliert den Anspruch an die Medien, umfassend zu informieren.

Wir haben uns in der Vergangenheit dagegen gewehrt, dass die Häfen der Unterweser für Munitions-, Waffen- und Atomtransporte genutzt werden, wir werden es auch weiterhin tun.

 

Werner Begoihn ist aktive bei der Initiative "Mut zum Frieden” in  Bremerhaven.