Redebeitrag für den Ostermarsch Freudenstadt am 8. April 2023

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

Seit über einem Jahr tobt in Europa wieder Krieg.

Wir, die Friedensbewegung, verurteilen diesen Krieg. Der Angriff auf ein unabhängiges Land, der Einmarsch Russlands in die Ukraine und die anhaltende Gewalt ist durch nichts zu rechtfertigen. Der Krieg verletzt das Recht auf Leben der inzwischen über 200.000 Getöteten und das Recht auf körperliche Unversehrtheit der unzähligen Verletzten. Und er verletzt das Völkerrecht.
Er bringt, wie jeder Krieg, nichts als Zerstörung und Leid. Deshalb fordern wir einen sofortigen Waffenstillstand. Zuallererst von Präsident Putin, aber auch von Selenskyj, Biden und all den anderen, die hier Verantwortung tragen: Beenden Sie diesen Krieg !

Krieg ist ein Verbrechen. In Kriegen sterben Menschen, werden Menschen für den Rest ihres Lebens verstümmelt und traumatisiert.

Und: In jedem Krieg, in jedem Konflikt gibt es mindestens 2 Seiten.

Die Tatsache, dass auch der Westen, dass die NATO und somit auch die deutsche Regierung mitverantwortlich sind für diesen Krieg, wird meist schnell als Putinpropaganda abgetan.
Aber die Weigerung, die eigenen Anteile an der sich abspielenden Katastrophe zu sehen, beraubt uns der Chance, einen wichtigen Beitrag zu ihrer Beendigung zu leisten. Deshalb will mal versuchen, Euch das aufzuzeigen, indem ich 4 Phase benenne, in denen das Verhalten des Westens den Konflikt eskaliert hat anstatt zu deeskalieren:

  • 1. Für den Kalten Krieges und die Entwicklung des Ost-West-Konflikt war der Westen ebenso verantwortlich wie die damalige Sowjetunion zusammen mit ihren Verbündeten. Die von beiden Seiten betriebene atomare Aufrüstung, die nukleare Abschreckung mit der bis heute anhaltenden Drohung der umfassenden gegenseitigen Vernichtung stellt per se ein gemeinsam begangenes Verbrechen an der gesamten Menschheit dar.
  • 2. Nach dem Ende des Kalten Krieges und der Auflösung des Warschauer Pakts hat der Westen es versäumt, Russland in ein gemeinsames Konzept der Sicherheit in Europa (und darüber hinaus) einzubinden und damit den von Helmut Kohl und Michail Gorbatschow formulierten „Traum vom gemeinsamen Haus Europas“ umzusetzen. In diesem Zug hätte die NATO sich auflösen müssen anstatt, wie geschehen, sich als militärischen Garanten der ökonomischen Vormachtstellung des Westens neu zu definieren. Das Gorbatschow gegenüber abgegebene Versprechen, die NATO nicht auf das Territorium des aufgelösten Warschauer Paktes auszudehnen, was unter Historikern nicht bezweifelt wird, wurde gebrochen und inzwischen sind 10 ehemalige Warschauer Pakt-Staaten Mitglieder der NATO. Russland hat wiederholt deutlich gemacht, dass es dies als Bedrohung seiner Sicherheitsinteressen versteht und hat insbesondere in Bezug auf die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine eine rote Linie gezogen.
    Es wird von vielen nicht gerne gehört, ist aber eine unbestreitbare Tatsache:
  • 3. In der Entwicklung der aktuellen Konfliktsituation wurden die von Russland deutlich formulierten Sicherheitsinteressen ignoriert. Seitens des Westens wurde massiv Einfluss genommen auf die Ausrichtung der Ukrainischen Politik; hin zu einer Assoziierung mit der EU und zur Diskussion einer NATO-Mitgliedschaft. Seitens der Ukraine wurden im Minsker Abkommen vereinbarte Schritte zur Befriedung der Region unterlassen, während Russland gleichzeitig weiterhin die Separatisten in den östlichen Provinzen Donezk und Luhansk unterstützte.
    Von Russland im Dezember 2021 vorgelegte Vertragsentwürfe mit der NATO und den USA wurden von westlicher Seite schlichtweg ignoriert, anstatt sie als Einstieg in ernsthafte Verhandlungen über eine neue Sicherheitsordnung zu begreifen und die weitere Zuspitzung des Konflikts zu verhindern.
  • 4. Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 hat der Westen aktiv dazu beigetragen, den Krieg zu eskalieren und Chancen für eine friedliche Beilegung hintertrieben.
    • a. Nachdem im März 2022 Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine unter Vermittlung der Türkei weit fortgeschritten waren und sich eine Einigung abzeichnete, die weitreichende Sicherheitsgarantien für Russland und im Gegenzug den Rückzug russischer Truppen hinter die Grenzen vor dem 24. Februar beinhaltenden, wurde die Einigung von westlichen Regierungen unterbunden. Stattdessen wird gefordert, Russland müsse nun besiegt und „ruiniert“ werden.
    • b. Umfangreiche Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine, die bereits vor dem russischen Einmarsch begonnen hatten und inzwischen schwere Waffen wie moderne Kampfpanzer einschließen, tragen zur weiteren Eskalation des Krieges bei. Inzwischen wird auch die Lieferung von Kampfjets und Kriegsschiffen diskutiert.
    • c. Einschneidende Wirtschaftssanktionen gegen Russland tragen ebenfalls dazu bei, das Land zu destabilisieren und den Konflikt zu eskalieren.

Ja, der kriegerische Einfall der russischen Armee in die Ukraine ist ein Verbrechen. Aber die aktuelle Politik – auf beiden Seiten – droht diesen Krieg in eine Dimension eskalieren zu lassen, die wir uns alle nicht vorstellen wollen.

Und: Die Waffenlieferungen machen uns zur Kriegspartei. Schrittweise werden wir in diesen Krieg hineingezogen. Auf beiden Seiten werden immer mehr Rote Linien übertreten, die Spirale wird immer weiter angetrieben.

Es besteht heute die reale Gefahr, nach meiner Einschätzung mehr als jemals zuvor, dass wir in einen Atomkrieg hineinstolpern.
Meine Organisation, die IPPNW, im vergangenen Jahr eine Studie veröffentlicht. Wissenschaftlich belegt durch KlimatologInnen und ErnährungsexpertInnen. Die steht im Internet, das könnt Ihr Euch runterladen und nachlesen. Suchwort: „Nukleare Hungersnot“

Schon der begrenze Einsatz einer relativ kleinen Zahl von 100 Atomwaffen würde zu weltweiten signifikanten Klimaveränderungen führen, die dann auf dem gesamten Globus Hungersnot und Elend zur Folge haben und bis zu 2 Milliarden Menschen dem Hunger aussetzen.

Aber wir können nicht davon ausgehen, dass der Atomkrieg begrenzt bleibt. Die militärischen Planspiele der NATO führen beim Einsatz von Atomwaffen regelmäßig zur totalen Eskalation und zur gegenseitigen Vernichtung.

Die humanitären Konsequenzen und Risiken eines solchen umfassenden Atomkrieges sind katastrophal. Während schon eine einzige Bombe den Stadtkern einer Großstadt wie Stuttgart völlig vernichten kann, mit Hunderttausenden Toten und ebenso vielen Verletzten und Verstrahlten, würde durch den Einsatz von zahlreichen Atombomben, wie er in einem Atomkrieg zu erwarten wäre, die Infrastruktur, d.a. die Strom- und Wasserversorgung, die Verkehrswege, die Versorgung mit Lebensmitteln und das Gesundheitssystem großräumig zerstört. Es gäbe keine Chance, das in hinreichend kurzer Zeit wiederherzustellen. Es gäbe viele Millionen von Toten. All die Verletzten könnten nicht versorgt werden. Aufgrund der Zahl der Verletzten, der Art der Verletzungen und der zu erwartenden umfassenden Zerstörung müssen wir Ärzte eines ganz deutlich machen: Im Fall eines Atomkrieges wird es keine medizinische Hilfe geben. Wir werden Euch – und uns – nicht helfen können!

Schlimmer noch: Beide Seiten besitzen heute über 6000 einsatzfähige Atomwaffen. Der Einsatz eines Teils dessen würde zu katastrophalen Klimaveränderungen mit anhaltenden Temperaturstürzen von über 10°C führen. Dann ist menschliches Leben in weiten Teilen des Planeten nicht mehr möglich, der Nukleare Winter.

Dann sind die Millionen von unmittelbaren Opfern die Glücklichen, dann werden die Lebenden die Toten beneiden.

Um es in den Worten eines meiner US-Kollegen zu sagen: Wenn wir das Glück haben sollten, die gegenwärtige Krise zu überleben, dann müssen wir sie als globale Nahtoderfahrung begreifen und entsprechend darauf reagieren.

Mit dem NEW START-Abkommen wurde im Februar das letzte verbliebene wirksame Vertragswerk zur Begrenzung der nuklearen Waffenarsenale ausgesetzt. Die einzigen völkerrechtlichen Verträge, die aus der Eskalationsspirale hinaus weisen, sind der Atomwaffensperrvertrag, den die Atomwaffenstaaten nicht einhalten, und der Atomwaffenverbotsvertrag, von dem sie nichts wissen wollen.

Wir beobachten aktuell ein Phänomen der Gewöhnung. Nachrichten, die vor etwas über einem Jahr noch helles Entsetzen ausgelöst hätten, werden heute als Randnotiz zur Kenntnis genommen. Und sogenannte Experten verharmlosen die Atomkriegsgefahr. Die Wahrscheinlichkeit sei gering, heißt es. Wie hoch, frage ich, darf die Wahrscheinlichkeit für einen Atomkrieg sein? Und lasst Euch nichts vormachen: Das Gerede von Zivilschutz und Atombunkern ist gefährlicher Unsinn. Im Atomkrieg gibt es keinen Schutz.

Man will uns weismachen, die Nukleare Abschreckung hätte in den vergangenen 50 Jahren den Frieden gesichert. Die Wahrheit ist, dass die Menschheit seit dem Kalten Krieg, und das gilt unverändert bis zum heutigen Tag, mit der ständigen Bedrohung lebt, durch einen Atomkrieg vernichtet zu werden. Etwa 2000 Atomsprengköpfe werden in permanenter Bereitschaft gehalten, abschussbereit innerhalb von Minuten - das macht uns nicht sicherer, sondern unsicherer. Und die Logik der Abschreckung, den Gegner auch nach einem Angriff noch vernichtend schlagen zu können, wurde selbst zum Motor der nuklearen Aufrüstung und war mitverantwortlich für den Aufbau eines irrsinnigen Arsenals, mit dem die Menschheit sich vielfach selbst vernichten kann.

Das Prinzip der Abschreckung ist, anders als uns erzählt wird, extrem instabil. Die Tatsache, dass wir heute noch leben, so hat es ein US-General und Oberbefehlshaber der US-Luftstreitkräfte mal gesagt, verdanken wir neben militärischer Disziplin allein unserem schierem Glück und, wie er meint, göttlicher Vorsehung. Aber eben nicht der Friedfertigkeit und Weitsicht unserer Regierungen.

Die Nukleare Abschreckung als Fundament der internationalen Sicherheit lehnen wir deshalb mit aller Entschiedenheit ab. Es ist ein fragiles, letztlich in die Katastrophe führendes Konzept. Jeder und jede, die uns Abschreckung als Friedenssicherung verkaufen wollen, haben das Konzept entweder nicht verstanden oder sie sind zynische Hasardeure, die mit unser aller Leben ein unverantwortliches Spiel treiben.

Die Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen, wie sie jüngst aus Russland zu hören ist, und natürlich auch die Verlegung von Atomwaffen aus Russland nach Weißrussland, sind inakzeptabel. Und natürlich war es inakzeptabel, als Präsident Putin bereits wenige Tage nach dem Einmarsch in die Ukraine die Alarmbereitschaft der Atomwaffen erhöht hat.

Was wir aber nicht vergessen dürfen:

  • 1. Die gegenseitige Bedrohung ist Teil der Logik der Nuklearen Abschreckung
  • 2. Die Drohung mit Atomwaffen besteht somit beidseitig
  • 3. Beide Seiten behalten sich die Option des Ersteinsatzes von Atomwaffen vor
  • 4. In einem Atomkrieg gibt es keinen Sieger, nur Verlierer.

Für ganz entscheidend halte ich

  • 5. Eine Atommacht wird in einem Krieg, der ihre nationale Sicherheit berührt (und das ist aus der Sicht Russlands hier der Fall) nicht zu besiegen sein
  • 6. Und wenn Russland militärisch, politisch oder wirtschaftlich in die Enge getrieben wird, steigt die Wahrscheinlichkeit eines Atomkrieges.

Und was vielfach übersehen wird:

  • 7. Wenn es so weit kommt, dann wird die Frage, wer verantwortlich ist und wer angefangen hat nicht mehr relevant sein.

Das ist die Dimension, um die es hier geht, das muss uns jetzt allen mal klar werden.

Und dann dämmert uns:

Wo immer wir in dieser Situation stehen. Ob Ukrainer oder Russen, ob wir aus Westeuropa kommen oder den USA. Ob wir Pazifisten sind oder Soldaten: Jetzt geht es darum, ob wir das gemeinsam überleben.

Deshalb rufe ich von hier aus nach Berlin. Herr Scholz, Frau Baerbock: Überlegen Sie sich Schritte, die zur Deeskalation führen. Überlegen Sie sich, ob die Worte, die Sie sprechen, die Waffen, die Sie liefern, ob die Destabilisierung Russlands mithilfe von Wirtschaftssanktionen, ob all das nicht dazu beiträgt, diesen Krieg immer weiter anzuheizen. Und ob es nicht gelingen kann, Brücken zu bauen, anstatt sie nun alle einzureißen.

Sorgen Sie dafür, dass es zu einem sofortigen Waffenstillstand kommt. Und dass umfassende Friedensverhandlungen aufgenommen werden.

Und unterschreiben Sie endlich den Atomwaffenverbotsvertrag! Die Abschaffung von Atomwaffen ist der einzig sichere Weg, das nukleare Inferno auf Dauer zu verhindern.

Der in der Ukraine tobende Krieg scheint unsere Welt schlagartig verändert zu haben. Und es drohen Alpträume wahr zu werden, vor denen wir lange gewarnt haben.

Und um das zu verhindern, liebe Friedensfreundinnen und -Freund, braucht es mutige Menschen. Die erkennen: Es gibt in dieser Situation nur eine sinnvolle Lösung. Es muss verhandelt werden und gemeinsam überlegt, wie wir aus dieser uns alle bedrohenden Spirale der Eskalation wieder herausfinden. Natürlich wird es immer Konflikte geben auf dieser Welt. Wir sind ja keine Träumer, die sich das Paradies herbeifantasieren. Aber gerade deshalb müssen wir uns fragen, wie wir diese Konflikte austragen wollen. Meine Hoffnung ist, dass wir angesichts der Drohung unserer eigenen Vernichtung lernen, dies mit friedlichen Mitteln zu tun.

Die Kriegstreiber auf beiden Seiten müssen Platz machen für die, die in der Lage sind, sich eine andere Welt vorzustellen und sie dann auch zu gestalten. Eine Welt, die Sicherheit nicht im Kampf gegeneinander sieht, sondern in der gemeinsamen Anstrengung aller Menschen. Und in der die Probleme angegangen werden, die uns gemeinsam bedrohen: Der Klimawandel und die Zerstörung unserer Umwelt, die gerechte Verteilung der uns bleibenden Ressourcen und die grundsätzliche Frage, wie wir als Menschen auf diesem Planeten auf Dauer und in Frieden existieren können.

Ich – und ich hoffe wir alle – weigern uns zu glauben, dass das nicht möglich sein soll, liebe Friedensfreundinnen und -Freunde.

Vielen Dank.

 

Dr. Helmut Lohrer ist Allgemein Arzt und International Councilor der IPPNW Deutschland.