Redebeitrag für den Ostermarsch in Berlin am 30. März 2024

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

das von Jutta Kausch soeben zur Anmoderation rezitierte "Höre Israel" von Erich Fried und gab mir so den Titel für meine ad hoc-Ansprache.

"Höre Israel" ("!ישראל שמע")

Es ist ein Bibelzitat und zugleich ein zentrales, wenn nicht das zentrale Gebet der jüdischen Tradition, das täglich zweimal, morgens und abends, gebetet wird. Bekannt auch als "Shma!" ("Höre!") wurde es - so erzählen Überlebende des Holocaust in Auschwitz - von jüdischen Männern leise oder laut bei der schweren Arbeit und auf dem Weg zur Gaskammer gebetet.

Erich Fried schrieb das danach benannte Gedicht 1967 aus Verzweiflung über den ("Blitz-") Krieg, den Israel am 5. Juni gegen drei der vier arabischen Nachbarstaaten begann und am 10. Juni nach Eroberung ihrer Grenzterritorien beendete. Dazu gehörten die Westbank mit Ostjerusalem auf transjordanischer, der Gaza-Streifen und die Sinai Halbinsel auf ägyptischer sowie die Golanhöhen auf syrischer Seite. Mit Ausnahme der 1979 an Ägypten zurückgegangene Sinai Halbinsel sind alle anderen Territorien seitdem und also seit mehr als 56 Jahren illegal okkupiert und unter israelischem Militärkommando gestellt, wenn nicht sogar annektiert sind.

"Höre Israel!" ein zentrales Gebet des Judentums. Vergeblich.

Die zionistischen Führer hören nicht. –

 

Meine Damen und Herren,

ich spreche zu Ihnen als Initiatorin und Mitgründerin der "Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost e. V." (JS) vor bald 21 Jahren, deren - altersbedingt - passives Mitglied ich bis dato bin.

Gestatten Sie bitte einige Bemerkungen in eigener Sache, bevor ich zum zentralen Thema des heutigen Ostermarschs komme.

Wie Sie alle wissen - wir hörten es ja in der Auftaktkundgebung und auch in den guten Reden während der Demo -, wurde in der jüngst vergangenen Woche das Konto der Jüdischen Stimme bei der Landessparkasse Berlin ohne Vorwarnung und der Möglichkeit einer Rücksprache von heute auf morgen gesperrt. Mehr noch! Die Bank verlange vom Vorstand die umgehende Vorlage der Satzung, des Selbstverständnisses, des Bescheids des Finanzamtes zur Gemeinnützigkeit unseres eingetragenen Vereins sind, sowie - hören und staunen Sie! - die Namensliste samt Adressen aller Mitglieder!!!

So verrückt ist die Landessparkasse Berlin. Eine Bank des öffentlichen Rechts geworden, deren Träger die Landesbank Berlin und also das vom gegenwärtigen rotschwarzen Senat regierte Land Berlin ist. Der Hintergrund ist - nur damit Sie es wissen –, dass die JS ihr Konto für Spenden zum internationalen Palästina-Kongress bereitgestellt hat, der im April hier in der Stadt stattfinden soll. Das ist ein Grund für die Bank, den Vertrag mit uns, in Verstoß gegen geltende Grundrechte im Lande sowie gegen die Werte, die Deutschland vermeintlich vertritt, zu kündigen und qua Kontosperrung einen enormen Verlust von Spendengeldern zu verursachen. Eine Ungeheuerlichkeit!

Zwei Punkte, die in diesem Zusammenhang benannt sein müssen:

Erstens: All dies geschieht, wenn man dem „Tagesspitzel“ folgt, vorgeblich aus Gründen der Furcht vor Antisemitismus.

Meine Damen und Herren! Der Antisemitismus ist eine Ausgeburt des christlichen Europas! Und niemals (!) der Palästinenser oder überhaupt eines arabischen Landes. Juden, Christen und Moslems haben in Arabien Jahrtausende zusammengelebt. Ja, es gab Religionskonflikte. Aber wo gab und gibt es sie bis dato nicht? In Europa wurde ein 30jähriger Krieg zwischen Protestanten und Katholiken geführt. Das war in unserem Orient nie der Fall. Und heute wollen uns die weißen Eliten, die radikalen Christen weismachen, dass die Muslime die Antisemiten sind? Niemals! Wie geschichtsvergessen muss mensch sein, um nicht mehr zu wissen, was hier auf diesem Kontinent im Namen des Antisemitismus und Antijudaismus an Juden verbrochen wurde?

Zweitens: Ständig ist die Rede von der deutschen Staatsraison. Hören Sie und tragen Sie es bitte weiter: Die "deutsche Staatsraison" wurde von der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrer Ansprache vor der Knesset anlässlich des 75. Jahrestag der Staatsgründung Israels, kurzer Hand - wie sie es oft tat - ohne Vorankündigung weltöffentlich proklamiert! Vor der Knesset! Nicht etwa vor dem Bundestag! Und es wurde auch nie ein Beschluss des Bundestags zu dieser deutschen Staatsraison herbeigeführt. Was ist das für eine Demokratie, frage ich mich, die Konten sperrt und nach Eigendünken einer Kanzlerin etwas zur Staatsraison der Republik erklärt, ohne dies zuvor in der Bevölkerung - dem Souverän einer Demokratie - oder auch nur im Parlament zur Debatte zu stellen?

Ich komme nun zur Sache.

Jutta Kausch leitete den Beitrag mit dem besagten Gedicht Erich Frieds. Ich möchte meinem Ad-hoc Beitrag eines von Heinrich Heine voranstellen.

"Denk ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht."

So begann der jüdische Lyriker das Gedicht, "Nachtgedanken", im zwölften Jahr seines Exils in Paris1 vor 200 Jahren. Ich empfinde es heute nach zwei Jahrhunderten genau so! Es ist nicht bekannt geworden, dass Deutschland irgendwann irgendwo Frieden hingebracht hätte. Deutschland hat unzählige Kriege über diesen, europäischen Kontinent und allein im vergangenen Jahrhundert immerhin zwei über die Welt gebracht. Und wurde immer von Anderen besiegt! Zum Glück! Denn eben in seinen "Nachtgedanken" wusste Heinrich Heine schon damals zu sagen:

"Deutschland hat ewigen Bestand! Es ist ein ewig Vaterland! mit seinen Eichen, seinen Linden, wird man es immer wiederfinden!"

Ja, ein "ewig Vaterland"! Und der Vater dieses Landes ist der KRIEG!!!

Wir leben heute 2024. Es gibt alle Möglichkeiten schnell miteinander ins Gespräch zu kommen, zu verhandeln, sich verständigen etc.: Internet, Schnellzüge, Schnellflugzeuge, Privatflugzeuge, Regierungsflugzeuge ... Alles! Alles hätte mobilisiert werden müssen und können, um Verhandlungen für eine Friedens- und gegen eine Kriegslösung in der Ukraine und gegen die Zerstörung von Gaza zu führen! Das wäre die Mission Deutschlands nach all diesen Kriegen! Das hätte Deutschland von all den verlorenen Kriegen lernen müssen!

Stattdessen sind wir Zeugen, wie der gehorsame Deutsche den Amerikanern und wem immer auch folgt und "JA!" sagt zu deren Forderungen. Wir liefern die Waffen, wir liefern das Geld, wir liefern die Aufrüstung und irgendwann dann auch die "Kriegs-tüchtigen" Soldaten!

Meine Damen und Herren, ich stehe hier verzweifelt und deprimiert vor ihnen. In Gaza sind 32.000 Zivilisten umgebracht worden. 75.000 Verletzte und 100tausende Obdachlose, die, wenn die Dauerbombardements zu End kommen, nicht wissen werden, wo sie hin sollen. Gar nicht zu sprechen von den vielen verwaisten Kinder, von den Witwen und Witwern. Ganz zu schweigen von den Soldaten. –

Dasselbe in der Ukraine. Hier wissen wir die Zahlen der toten Zivilisten nicht und auch nicht die der Soldaten. Wir werden belogen nach Strich und Faden. Und weil sie uns belügen, behaupten sie, dass die Hamas bei Bekanntgabe der unvorstellbar hohen Zahlen der Toten und Verletzten lüge.

Mein Punkt hier und heute ist: Beide Kriege hätten bei einer vernünftigen Friedenspolitik - auf die zu drängen, das einzige wäre, was von Deutschland, spätestens nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg für alle Zukunft hätte ausgehen müssen - abgewendet werden müssen.

Laut ZDF Umfrage sind 69% der Befragten gegen Waffenlieferungen an Israel, trotz der vielen toten Zivilisten in Gaza. Neunundsechzig Prozent! Nur 18% sind dafür, 12% enthalten sich. Und die Regierung besinnt sich nicht! Deutschland steht weiter, ohne Wenn und Aber an der Seite Israels.

Das wird aber nicht helfen! Es wird nicht helfen, und ich sage es hier ausdrücklich: Wer allein den 7. Oktober – ja, es ist furchtbar, was passiert ist, ich selber habe eine Verwandte, die Geiseln in Gaza war und einen, der noch dort ist - wer allein den 7. Oktober in den Blick nimmt und beklagt, hätte es lieber, dass der status quo so geblieben wäre, wie er in Gaza bis zum 6. Oktober gewesen war:
Ein dichtest bevölkertes Stück Land, das für alle der mehr als zwei Millionen dort lebenden seit 17 Jahren ein abgeriegeltes, aus dem Blick der Weltöffentlichkeit geratenes Gefängnis war! Das konnte, das durfte nicht so weitergehen!

Ich habe mit einem Gedicht begonnen. Ich will mit einem Zitat von Bertolt Brecht enden: „Was sind das für Zeiten“, klagte Brecht angesichts des Faschismus in Deutschland, „wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es das Schweigen über so viele Untaten einschließt.“

Ja! Wir leben wieder in Zeiten, wo wir nicht aufhören dürfen, über die Kriegsverbrechen zu klagen und Frieden und Abrüstung zu fordern!

Ein wenig Hoffnungsvolles zum Schluss:

  • Die Welt stoppte den Nazismus!
  • Die Welt stoppte den deutschen Faschismus!
  • Die Welt stoppte die Südafrika-Apartheid!
  • Und die Welt wird die Apartheid und den Kolonialismus der Zionisten stoppen!

 

Prof. (em.) Fanny Michaela Reisin ist aktiv bei der Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost.

 

Anmerkungen:

  • 1) Heut rühmt sich Deutschland des Dichters und seiner Liebesgedichte, die von Weltrang sind. Verschwiegen wird, dass Heinrich Heine ein widerborstiger und widerständiger Jude war, der in Deutschland geahndet, gejagt, verhaftet und schließlich abgeschoben wurde. Ich habe keinen Zweifel daran, dass Heinrich Heine gegenwärtig Mitglied der Jüdischen Stimme wäre!