Redebeitrag für den Ostermarsch in Goslar am 30. März 2024

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe Friedensfreundinnen und -freunde,

mit dem täglichen Sterben im Nahen Osten und in der Ukraine ist der Krieg in unsere Wahrnehmung zurückgekehrt. Auf unseren Bildschirmen und Displays rollen Panzer und explodieren Granaten. Bilder zeigen getötete, verwundete und verzweifelte Menschen – das ganze Grauen. Die bittere Realität ist, dass es mit aktuell 21 Kriegen dreieinhalb Mal so viele gibt wie vor 15 Jahren. Die weltweiten Militärausgaben sind acht Jahre in Folge gestiegen. Ein globales Wettrüsten ist in vollem Gang. In den letzten Jahrzehnten mühsam errungene Abrüstungs- und Rüstungskontrollverträge wurden unterlaufen bzw. ausgesetzt. Auch wenn wir es nicht gerne hören wollen: in aller Regel vom Westen bzw. von den USA. Warum müssen wir beim heutigen Ostermarsch besonderes Augenmerk auf die Kriege im Nahen Osten und in der Ukraine legen? Weil beide Kriege das größte Eskalationspotenzial haben, zu großen Kriegen unter Beteiligung mehrerer Länder zu werden und sich vielleicht zu Weltkriegen oder sogar zu atomaren Auseinandersetzungen hochschaukeln können.

„Wie viel Blut muss noch vergossen werden, bis wir einsehen, dass der Frieden unsere einzige Option ist?“ - Diesen Appell, der fast wie ein Stoßgebet klingt, richtete David Grossman, der zu den bedeutendsten Schriftstellern der israelischen Gegenwartsliteratur gehört, 2017 an die Teilnehmer der Münchener Sicherheitskonferenz. Wie tragisch ist es, dass der politische Wille und die Dringlichkeit fehlte, diese Einsicht in konkrete Politik zu überführen, z.B. im Rahmen einer Zweistaatenlösung. Hätte der fürchterliche Terroranschlag der Hamas vom 7. Okt. 23, den wir, wie jeden anderen Terroranschlag auf das Schärfste verurteilen, dadurch vermieden werden können? Ein einzelnes Datum erzählt niemals eine ganze Geschichte. Wenn schon die Extremisten aller Seiten offenbar erfolgreich darin waren, eine diplomatisch-politische Lösung zu verhindern, sollten dann nicht alle vernünftigen und mitfühlenden Menschen daran interessiert sein, so schnell wie möglich die Gewaltexzesse zu beenden? Wie steht es mit der historischen Verantwortung Deutschlands Israel gegenüber? Kann diese Verantwortung – die wir ausdrücklich begrüßen – darin bestehen, in vordergründiger Loyalität alle Aktionen der israelischen Regierung zu decken? Muss man sich nicht zuweilen gerade unter Freunden in Krisenzeiten in den Arm fallen und deutlich sagen „Das geht zu weit! So nicht!“? Selbst wenn die Zahl der getöteten Palästinenser nicht objektiv überprüfbar sein sollte, ist es in der Gesamtsicht völlig gleichgültig, ob bisher 10000 oder 3000 Kinder – die ganz sicher keine Terroristen waren – getötet wurden. Jede dieser Zahlen ist zu schrecklich, um als sogenannte „Kollateralschäden“ akzeptiert und mit dem Recht auf Selbstverteidigung legitimiert werden zu können. Glaubt irgendjemand ernsthaft, dass ein solch schreckliches Geschehen im kollektiven Bewusstsein eines Volkes vergessen werden könnte und nicht neuen Terror erzeugt?

Es gibt aktuell einen Hoffnungsschimmer für die Menschen im Gazastreifen: Zum ersten Mal fordert der UN-Sicherheitsrat, auf dem Hintergrund der überraschenden Enthaltung der USA und anlässlich des muslimischen Fastenmonats Ramadan, eine sofortige Feuerpause, die danach zu einer dauerhaften und nachhaltigen Waffenruhe führen soll. Wir begrüßen als Friedensbündnis einen solchen Schritt und wünschen uns ähnliches für den Ukrainekrieg.

Deutschland debattiert derweil über EU-Atombomben und die Entsendung von westlichen Bodentruppen in die Ukraine. Die massiven Aufstockungen der Rüstungsetats scheinen selbstverständlich und unhinterfragbar zu sein. Und unser Gruselkabinett der Inkompetenz betreibt „diplomatische Arbeitsverweigerung“, wie Oberst a.D. Ralph Thiele anmerkt. Der Verteidigungsminister fordert stattdessen „Kriegstüchtigkeit“. Gesundheitsminister und Wirtschaftsminister reden von Kriegsfall, Kriegswirtschaft und Landkrieg. Die Bildungsministerin fordert, dass in den Schulklassen mehr über Kriege geredet werden solle und das Kinderfernsehen des ZDF verniedlicht den Albtraum des Krieges in einem – mit Verlaub – erbärmlichen Video.

Kann es sein, dass unsere Erinnerungskultur versagt hat? Und die jetzige Politikergeneration zwar etwas über den Holocaust weiß, aber kaum etwas darüber, dass wir im Wesentlichen der damaligen Sowjetunion die Befreiung vom Faschismus zu verdanken haben? Und hätte es eine deutsche Wiedervereinigung ohne die Großzügigkeit und Gutwilligkeit Russlands gegeben?

Ist überhaupt eine Vorstellung der zerstörerischen Schrecklichkeit von Kriegen in diesen Köpfen vorhanden? Gibt es eine politische Idee darüber, dass es viel billiger wäre und zudem nachhaltiger, in die Kunst der Verhandlung, also in Diplomatie Geld, Kreativität und Tatkraft zu investieren?

Zu allem Überfluss sitzen dann noch Sofa-Bellizisten wie Hofreiter, Kiesewetter, Strack-Zimmermann in viel zu vielen Sendeminuten in allerlei Talkshows und berauschen sich an ihrer eigenen Kriegsrhetorik – ohne bereit zu sein, selbst auch nur das geringste Risiko einzugehen. Journalisten treiben sie dabei häufig vor sich her, mit Fragen wie: „Warum nicht mehr Waffen, warum nicht tödlichere Waffen, warum so spät?“ Wo bleibt die deutlich drängendere Frage: „Wann kommt endlich die überfällige diplomatische Initiative?“?

Vernünftige, nachdenkenswerte Vorschläge zur diplomatisch-politischen Beendigung des Krieges, wie vom Papst oder dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Mützenich, werden nicht konstruktiv diskutiert, sondern von medialen Shitstorms erledigt. Frau Strack-Zimmermann ist sich nicht zu schade, während der Münchener Sicherheitskonferenz ein T-Shirt zu tragen mit der Aufschrift „Taurus für die Ukraine – Zusammen bis zum Sieg“. Was meinen diese Leute eigentlich genau mit dem „Sieg“ über Russland? Und wie viele Tote sind sie dafür bereit, in Kauf zu nehmen? Russland ist das größte Land der Erde mit enormen personellen Reserven und militärisch-industriellen Kräften… und verfügt über das weltweit größte Atomwaffenarsenal. Russland ist nicht Libyen oder Irak, welche man völkerrechtswidrig und ungestraft ins Chaos bomben konnte. Wir stimmen dem Ex-NATO-General und Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat zu, wenn er sagt „Das ist keine Politik, das ist Fanatismus!“. Und Russland ist es ernst damit, keine NATO-Atomraketen und andere sogenannte „Enthauptungswaffen“ nur wenige Flugminuten entfernt von Moskau vor der Nase zu haben. Wir können ganz sicher davon ausgehen, dass die USA keine Minute zögern würden, militärisch zu reagieren, wenn russische Atomraketen in Kanada oder Mexiko stationiert werden sollten. Auch die Erinnerung an die Cuba Krise 1962 hilft einzuordnen, worum es Russland geht.

Oberst a.D. Thiele fragt in einem aktuellen Interview: „Was wäre so schlimm an einer neutralen Ukraine?“. Der Ukraine geht es nicht gut. Hunderttausende junge Soldaten sind getötet oder schwerstverletzt, das Land ist in weiten Teilen zerstört, verwüstet und es fehlt das Geld, einen funktionierenden Staat aufrechtzuerhalten. Die zynische Strategie, dass „WIR bis zum letzten Ukrainer“ kämpfen – wie vom neo-konservativen US-Senator Lindsey Graham in unverblümter Offenheit geäußert – scheint aufzugehen… nur nicht im erwünschten Sinne. 600000 junge Ukrainer in wehrfähigen Alter haben das Land verlassen, 200000 sind davon in Deutschland. Ob dieses Flüchten irgendein politisches Statement beinhaltet, wissen wir nicht. Vielleicht wollen diese jungen Männer einfach nicht in einem Krieg sterben, dessen Ziele sie immer weniger verstehen. Um Freiheit und Demokratie scheint es jedenfalls nur ganz am Rande zu gehen. Vielleicht spüren sie, dass die Ukraine in diesem Stellvertreterkrieg nur benutzt wird… als Spielstein auf einem geopolitischen Schachbrett. Vielleicht spüren sie, dass dieser Krieg mit jedem Tag, den er länger dauert, möglicherweise zum Selbstzweck wird. Julien Assange hat über den Afghanistan-Krieg gesagt: „Das eigentliche Ziel ist ein endloser Krieg, kein erfolgreicher Krieg”. Gilt das auch hier? Vergesst Eure Eltern in den Alten- und Pflegeheimen, wo über die Finanzierbarkeit des Sonntagsnachmittagskuchens diskutiert wird! Vergesst Eure Kinder in maroden Schulgebäuden in viel zu großen Klassen mit viel zu vielen Herausforderungen! Vergesst unsere schlaglochgeplagten Straßen und baufälligen Brücken! Euer sauerverdientes Steuergeld ist doch verdammt gut angelegt in den Taschen der Rüstungsindustrie. Deren knallende Champagnerkorken kann ich jeden Tag bis nach Goslar hören. Ironie STOPP!

Laut aktueller Umfrage des Internationalen Instituts für Soziologie in Kiew sehnen sich mehr als 70% der Ukrainer danach, dass der Konflikt endlich auf diplomatischer Ebene gelöst wird. „Wie viel Blut muss noch vergossen werden, bis wir einsehen, dass der Frieden unsere einzige Option ist?“ Dieser Appell hat einen universalen Anspruch. Deshalb sollte er auch bei diesem Krieg Anwendung finden, vielleicht beginnend mit einem Waffenstillstand zu den olympischen Spielen, wie vom französischen Präsidenten Macron vorgeschlagen.

In Deutschland wird immer wieder behauptet, dass Russland keine Verhandlungen wolle oder man mit Putin nicht verhandeln könne. Wahr ist, dass die Ukraine sich selbst durch ein Dekret des Präsidenten verboten hat, direkt mit Russland zu verhandeln. Russland hat immer wieder Gesprächs- und Verhandlungsbereitschaft signalisiert, u.a. ganz aktuell in dem aufsehenerregenden Interview des amerikanischen Starjournalisten Tucker Carlson mit Putin.

Wer die Ukraine retten und dem Sterben Einhalt gebieten möchte, sollte die Ernsthaftigkeit dieser Angebote prüfen. Was kann passieren? Entweder stellt sich Putin tatsächlich als der Lügner heraus, als der er hier bei uns immer dargestellt wird oder es gibt tatsächlich einen friedlichen Ausweg. Der Krieg hätte schließlich schon im April 2022 beendet werden können, weil es unterschriftsreife Verhandlungsergebnisse gab, mit einem für die Ukraine sehr vorteilhaften Resultat: Erhalt der territorialen Integrität mit Ausnahme der Krim unter Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft. Doch Putin wollte diesen Frieden nicht! STOPP, STOPP, STOPP… hier ist ein Fehler im Manuskript… Nein, Putin wollte diesen Frieden! Der Westen war’s, der ihn nicht wollte! Der ehemalige britische Premierminister Boris Johnson überbrachte die sinngemäße Botschaft des Westens: Unterschreibt bloß nicht diesen Vertrag. Kämpft weiter, wir versorgen Euch mit Waffen und Geld und dann bekommen wir mit unseren harten Sanktionen „Russland in die Knie gezwungen“ und ihr sogar die Krim wieder.

Deutschland steht an einem entscheidenden Wendepunkt seiner Geschichte. Die existenziell bedeutsame Frage für die Zukunft unserer Kinder ist, ob wir die aktuell von einer äußerst kurzsichtigen Politik geforderte umfassende Militarisierung unseres Denkens und Handelns zulassen. Diese Militarisierung suggeriert Sicherheit, birgt tatsächlich jedoch große Gefahren aufgrund des rein konfrontativen Ansatzes. Schubladendenken in der Polarität von Freund/Feind, Gut/Böse, Sieg/Niederlage hilft auch hier nicht weiter! In archaischen Zeiten hat das zusammenschweißende Gefühl „WIR gegen die Anderen und das Böse da draußen“ vielleicht der Sippe das Überleben gerettet. Heute steht uns diese „Säbelzahntigermentalität“ in einer komplexen Welt im Weg, um zu vernünftigen und zweckgerichteten Lösungen zu kommen. Die heutige Infantilisierung der Politik, die permanente Emotionalisierung und Moralisierung benebeln, wie ein schleichendes Gift, unsere Urteilskraft und unseren Verstand. Die Welt besteht nicht aus Schwarz/Weiß-Rastern, sondern aus einer Vielzahl von Grautönen und vor allem aus unglaublich viel Buntheit.

Nun möchte ich von Euch wissen, ob Ihr die Forderungen des Friedensbündnisses Goslar unterstützt?

  • Wollt Ihr den Stopp von Waffenlieferungen inkl. des Marschflugkörpers TAURUS in Kriegs- und Krisengebiete?
  • Wollt Ihr Visum und Asyl für alle Kriegsdienstverweigerer aus Russland und der Ukraine?
  • Wollt Ihr glaubwürdige diplomatische Initiativen zur Erreichung von Waffenstillständen und Verhandlungen ohne Vorbedingungen?
  • Wollt Ihr den ernsthaften Einsatz für eine umfassende Friedensarchitektur mit Sicherheitsgarantien für alle Beteiligten?
  • Wollt Ihr einen Stopp aller Aufrüstungspläne und stattdessen Investitionen in Bildung, Wohnen, Gesundheit, Pflege, Infrastruktur, Umwelt- und Klimaschutz?

Es ist also allerhöchste Zeit für Friedenspolitik – in der Ukraine, im Nahen Osten und weltweit. Als ersten Schritt müssen wir das „Töten stoppen“, also um Feuerpausen und Waffenstillstände ringen. Danach folgt das Ausloten des Möglichen in Verhandlungen ohne Vorbedingungen, also „Diplomatie wagen“. In einer dritten Phase ist daran zu arbeiten, wie man z.B. mit Vertragsmechanismen dauerhaften Frieden und „Sicherheit gewinnen“ kann.

  • Wir brauchen keine neuen militärischen, sondern endlich diplomatische Offensiven!
  • Wir brauchen keinen Sieg- oder Diktatfrieden, der nur die Saat neuer Gewalt in sich trägt, sondern Frieden durch Verhandlungen!
  • Zur Lösung der Weltprobleme brauchen wir nicht Konfrontation, sondern Kooperation!
  • Und natürlich brauchen wir statt Kriegstüchtigkeit endlich Friedensfähigkeit!

Nur im Frieden und nur durch gemeinsame globale Anstrengungen sind soziale und wirtschaftliche Entwicklung, Schutz von Klima, Umwelt und Natur sowie eine lebenswerte Zukunft für alle möglich.

Ich danke Euch… PEACE!

 

Gerhard Stein ist aktiv beim Friedensbündnis Goslar.