Redebeitrag für den Ostermarsch Bremerhaven am 30. März 2024

 

- Sperrfrist: 30.03., Redebeginn: ca. 12 Uhr -
- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

Ich bin Helga Bories-Sawala und ich spreche für die Initiative Mut zum Frieden, anstelle von Werner Begoihn, der noch in der Reha ist, sich aber sogar von dort aus intensiv in die Vorbereitung eingebracht hat.

Ich denke, wir sollten ihm von hier aus gute Besserung wünschen.

Wer ist Mut zum Frieden? Wir sind kein Verein und keine Partei und diejenigen von uns, die in einer Partei sind (ich z.B. in der Linken) sind oft frustriert über den Kurs ihrer Partei, die Linke in Bremerhaven ausdrücklich ausgenommen. Immerhin ruft die Bremer Linke jetzt nach langem friedenspolitischen Zauderkurs auch zum Ostermarsch auf.

Mut zum Frieden: Wir haben uns nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs zusammengefunden, um mit unserem Entsetzen nicht allein zu sein: über das, was dort geschah, aber auch über die plötzliche Kriegslüsternheit, die in unserem Land aufbrach und uns auch von guten Freunden entgegen schlug, wenn wir vor einer Eskalation des Konflikts warnten.

Wo stehen wir heute, über 2 Jahre danach? Der schreckliche Krieg in Gaza ist dazu gekommen. In der kurzen Zeit starben hier schon weit mehr Zivilisten als in über 2 Jahren Krieg in der Ukraine, unter ihnen viele Kinder, und es gibt insgesamt mehr als 20 Kriege weltweit : im Jemen, im Sudan, in Syrien, die nur selten überhaupt einmal in den Nachrichten erwähnt werden.

Mut zum Frieden – wieso braucht es denn zum Frieden Mut?

Wir erleben nun seit mehr als 2 Jahren die merkwürdige Situation, dass wir mit dem Eintreten für Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine, für ein Ende des Tötens und Sterbens auf beiden Seiten, im medialen Abseits stehen und auf breiter Front verunglimpft werden. „Lumpenpazifisten“, „gefallene Engel aus der Hölle“, sind noch freundlich. Wir müssen uns auch, obwohl wir den völkerrechtswidrigen russischen Angriff auf die Ukraine klar verurteilen, als „Putinknechte“ beschimpfen lassen, wenn wir auch die Vorgeschichte von Konflikten verstehen wollen.

Denn Kriege kommen nicht aus heiterem Himmel.

Hintergründe beleuchten bedeutet nicht Gewalt zu rechtfertigen. Sehr wohl stimmt aber, dass für eine Explosion erst einmal Pulver angehäuft werden muss. So entspringt der abscheuliche Terror der Hamas gegen völlig unbeteiligte Israelis, darunter viele Pazifist-inn-en, dem angesammelten Hass aus Jahrzehnten der Vertreibung, Unterdrückung und Diskriminierung der Palästinenser.

Aber er kann dadurch in keiner Weise gerechtfertigt werden!

Ebenso wenig kann der Hamas-Terror rechtfertigen, die gesamte Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen jetzt seit Monaten in einem beispiellosen Rachefeldzug mit unsäglichem Leid zu überziehen, Hunger als Waffe einzusetzen und sogar zu verhindern, dass humanitäre Hilfe die Menschen erreicht.

So viel Differenzierung muss schon sein. Aber wer vor einem Genozid in Gaza warnt, wie ja auch die UN und eine Staatengruppe um Südafrika, die Israel beim Internationalen Gerichtshof wegen Völkermord verklagt, gilt hierzulande schon als Antisemit! Es ist natürlich genauso unsäglich, die Verbrechen der Netanjahu-Regierung allen Juden anzulasten.

Ebenso ist Differenzieren beim Ukraine-Konflikt nötig. Ohne die Vorgeschichte, die Einschränkung der Rechte der russischen Minderheit in der Ostukraine nach dem Putsch auf dem Maidan, ohne die bewaffneten Angriffe auf den Donbas seit 2014, die Zehntausende von Toten schon vor dem russischen Einmarsch forderten, ohne die angestrebte Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato, die seit 2019 in der Verfassung der Ukraine steht, ohne den Bruch des Minsker Abkommens, ohne das Massaker im Gewerkschaftshaus von Odessa, ohne diese Vorgeschichte wäre der russische Angriff im Februar 22 nicht zu erklären.

Aber das alles rechtfertigt ihn natürlich nicht!

Unsere Journaille treibt seit Beginn des Krieges die Politik mit Forderungen nach immer mehr Waffenlieferungen vor sich her. Kritische Nachfragen gehen immer nur in eine Richtung: warum nicht mehr Waffen? warum nicht schneller? Nie wird hinterfragt, welchem strategischen Ziel das alles dienen soll, ob man nicht mit immer mehr Waffen den Krieg befeuert, wo eigentlich die rote Linie ist, hinter der Deutschland zur Kriegspartei wird.

Bundeskanzler Scholz musste sich unlängst rechtfertigen, warum er weiter dabei bleibt, den Taurus nicht zu liefern und er erklärte stolz: „Wir haben als Deutsche fast alle gefährlichen Waffen als Allererste geliefert“.

Besonnenere Stimmen werden sogleich mit Hass und Häme überzogen, so z.B. der SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Rolf Mützenich, der nur “darüber nachdenken“ wollte, „wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann“.

Nichts anderes hatte der Papst neulich gemeint, als er der Ukraine riet, sie solle den Mut haben, eine "weiße Fahne" zu hissen: "Schämt euch nicht, zu verhandeln, bevor es noch schlimmer wird.(…) Verhandeln ist niemals ein Sich-Ergeben. Es ist der Mut, das Land nicht in den Selbstmord zu führen.“ Sogar der Papst wurde daraufhin aufs Übelste beschimpft.

Wer so etwas sagt, stellt sich ins Abseits. Aber sind wir wirklich allein damit? Es gibt offenbar einen gewaltigen Unterschied zwischen der veröffentlichten Meinung und der öffentlichen Meinung, der Meinung der Bürgerinnen und Bürger. Trotz einer Dauerpropaganda auf allen Kanälen zeigen sich diese erstaunlich wenig angesteckt. In Umfragen fordert eine deutliche Mehrheit mehr diplomatisches Bemühen auch von deutscher Seite. Die Befürworter einer Lieferung von Taurus sind in der Minderheit!

Wir sind also gar nicht so wenige. Wir sind eigentlich schon die Mehrheit. Warum werden wir so wenig gehört? Es ist an der Zeit, dass die Mehrheit auch zu sehen ist. Genauso wie wir könnten hier auch viele andere mit uns stehen…Wer könnte noch dabei sein?

Zum Beispiel diejenigen, die finden: „Man kann ja eh nichts tun.“ Das hören wir immer wieder freitags bei unseren Mahnwachen. Verhandeln wäre schön, aber in dem Fall sei es sinnlos. Ihnen kann man einiges entgegenhalten:

Die Abkommen von Minsk belegen, was möglich gewesen wäre, um den Konflikt zu vermeiden. Vor allem gab es im März 2022 eine Einigung beider Seiten auf Wiederherstellung des Status vor dem Krieg, den Rückzug der russischen Truppen gegen den ukrainischen Verzicht auf einen Nato-Beitritt. Damit hätte der Krieg nach einem Monat zu Ende sein können, hätte der Westen nicht die Unterschrift der Ukraine verhindert.

Der Krieg hätte sehr wahrscheinlich überhaupt vermieden werden können, wenn die Nato nicht im Dezember 2021 und noch im Februar 2022 Verhandlungen mit Russland über den Nato-Beitritt der Ukraine abgelehnt hätte.

Auch heute liegen etliche Vorschläge für Verhandlungslösungen vor. Der Ukraine-Konflikt ist von der Sache her sogar weit einfacher lösbar als der Jahrzehnte schwelende Israel-Palästina-Konflikt.

Wer will nicht verhandeln? Putin hat seine Verhandlungsbereitschaft mehrfach erklärt, man sollte ihn beim Wort nehmen. Und Zelensky könnte sehr leicht an den Verhandlungstisch gebracht werden indem der Westen seine weitere Unterstützung davon abhängig machen würde.

Wer sollte noch bei uns stehen?

Ich meine: alle, die für unlängst für Demokratie und gegen rechts auf die Straße gegangen sind, manche überhaupt zum ersten Mal. „Nie wieder Faschismus“ war gesellschaftlicher Konsens aber auch, im gleichen Atemzug: „Nie wieder Krieg !“

Was denken diese Menschen wohl darüber, dass Verteidigungsminister Pistorius verlangte, dass wir kriegstüchtig werden müssen. Damals war ein Aufschrei zu hören – heute ist das Wort schon in aller Munde.

Kinder sollen in den Schulen kriegstüchtig gemacht werden, und es geht schon los: in der Kindersendung logo des ZDF beklagte sich unlängst ein süßer Taurus-Marschflugkörper mit Kussmund bei seinen britischen und französischen Kollegen dass er in der Ukraine nicht mitspielen dürfe, nur weil der blöde Bundeskanzler es ihm unverständlicherweise verbietet…

Wer unsere offene Gesellschaft erhalten will, kann sich doch nicht an so etwas gewöhnen wollen!

Und kann jemand, der für westliche Werte eintritt, wirklich der Meinung sein, dass Streumunition schon in Ordnung geht, wenn grade nichts anderes zur Verfügung steht? Obwohl die Bundesrepublik das Abkommen über das Verbot von Streumunition unterzeichnet hat?

Wenn ich daran denke, komme ich nicht umhin mir vorzustellen, dass die Kinder - in Russland oder in der Ukraine, oder sonstwo, egal! - die diese Munition später mal für Spielzeug halten und davon zerfetzt werden, heute grade laufen lernen. Der Gedanke verfolgt mich, wahrscheinlich, weil ich Enkelkinder habe.

Müssten nicht alle Eltern, alle Omas und Opas dagegen aktiv werden?

Und was ist mit den Gewerkschaften? Im Oktober 1983, auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen um den Nato-Doppelbeschluss forderte der DGB-Bundesvorstand dazu auf, für fünf Minuten die Arbeit niederzulegen als Zeichen gegen weltweite Aufrüstung.

Ja, es gibt jetzt den Friedensaufruf von prominenten früheren SPD-Politiker-inne-n und ehemaligen Gewerkschaftsvorsitzenden, aber es braucht noch mehr. Kolleginnen und Kollegen, aufrechte Sozialdemokraten, wir vermissen euch an unserer Seite!

Auch wirkliche Liberale müssten eigentlich hier stehen. Frieden war einmal ein zentraler Begriff in der Begründung des Liberalismus. Heute gehört die FDP zu den schlimmsten Bellizisten, allen voran Marie-Agnes Strack-Zimmermann, die nicht einmal einen Hehl aus ihrer engen Verbindung zu Rheinmetall macht.

Und was ist mit den Christen? Steinmeier erntete Applaus auf dem 38. Evangelischen Kirchentag in Nürnberg, Motto „Es ist an der Zeit“, als er ergänzte: „an der Zeit für Waffen“. Vom Papst war schon die Rede. Müssten nicht alle Christen für Frieden auf Erden aktiv werden? Jesus empfiehlt in der Bergpredigt, unsere Feinde zu lieben.

Aber so weit muss man ja gar nicht gehen. Man muss noch nicht einmal Pazifist sein, finde ich. Sogar die, die am Anfang dafür waren, die angegriffene Ukraine zu unterstützen, damit sie aus einer Position der Stärke verhandeln könnte, müssten doch spätestens jetzt erkennen, dass die Zeit für Verhandlungen gekommen ist, damit nicht völlig umsonst noch weitere Hunderttausende sterben. Es herrscht ein militärisches Patt, nur die Zahl der Toten steigt ständig.

Und wenn die Russen dann nach dem Baltikum greifen und das alte Zarenreich wiederauferstehen lassen wollen?

Abgesehen davon, dass sich Russland dann ganz allein mit der Nato anlegen würde, was spricht für eine solche Mutmaßung? Umgekehrt wird ein Schuh draus. Eugen Drewermann erklärt dazu: „Manches spricht dafür, dass manche in den USA gar nicht DEN Russen fürchten, sondern den Plan des Russen Gorbatschow, dem wir die Wiedervereinigung verdanken: Entmilitarisierung vom Ural bis zum Atlantik. Im Jahre 1989 lag der Friede fertig auf dem Tisch. Aber ein Wirtschaftsraum von Lissabon bis Wladiwostok, Frieden zwischen Deutschland und Russland hätte das Ziel einer unipolaren amerikanischen Weltherrschaft gefährdet. Das galt es zu verhindern, mit immer neuen Kriegen, die vom Westen ausgingen und Millionen Menschen in Tod und Elend stürzten, die Zahl der Nato-Staaten aber von 16 auf inzwischen 32 erhöhten und die Militärausgaben, 800 Milliarden Dollar allein in den USA, das Zehnfache des Rüstungshaushalts Russlands, in allen Mitgliedsstaaten ins Astronomische emportrieben.“

Wer hat denn eigentlich ein Interesse daran, dass die Kriege immer weiter gehen? Wer gewinnt dabei? Wenn wir dann sagen: die Rüstungsindustrie, winken manche Leute ab: pure linke Ideologie.
Aber man braucht ja nur beim Lesen der Nachrichten eigene Schlüsse zu ziehen. Die gerade im Bau befindliche Munitionsfabrik von Rheinmetall in Unterlüss im Landkreis Celle soll ab nächstem Jahr
zunächst 50.000 Artillerie-Granaten herstellen, 2026 dann 100.000, später 200.000 pro Jahr. Und natürlich nur unter der Bedingung von staatlichen Abnahmegarantien. Denn es wäre ja nicht auszudenken,
wenn auf einmal Frieden ausbricht und die Dinger nicht mehr gebraucht werden!

Und das bringt mich zu einer weiteren Gruppe Menschen, die eigentlich auch alle hier sein sollten: diejenigen, die sich um die Erde sorgen. Das Militär ist, sogar wenn kein Krieg ist, der größte Klimakiller. Mit 5 % der globalen Wirtschaftsleistung könnte man die Klimakatastrophe noch verhindern. Man müsste aber die Militärausgaben deutlich senken.

Wir brauchen unsere Ressourcen, unsere Energie, unser Wissen für die globalen Herausforderungen: Klima, Umwelt, soziale Gerechtigkeit im globalen Maßstab!

Es ist vielleicht das Schwierigste, aber es hilft nichts, wir müssen auch unsere grünen Freund-inn-e-n an ihre eigenen Überzeugungen erinnern!

Waffen nicht in Krisengebiete zu liefern, dafür warb Baerbock noch im Bundestags-Wahlkampf. Aber in Kriegsgebiete offenbar schon…Petra Kelly dreht sich im Grabe herum!

Antje Vollmer bringt es in ihrem Vermächtnis „Was ich noch zu sagen hätte“ auf den Punkt: “Wer die Welt wirklich retten will, diesen kostbaren einzigartigen wunderbaren Planeten, der muss den Hass und den Krieg gründlich verlernen. Wir haben nur diese Zukunftsoption.“

Grüne, ihr kommt aus der Friedensbewegung. Ihr seid auf dem falschen Dampfer. Kommt zurück!

Sind wir Kriegspartei? Schauen wir kurz zurück. Der Westen hatte in der Ukraine schon vor dem Krieg längst die Finger im Spiel, bereits 2014 mit der Forderung, sich zwischen Russland und der EU zu entscheiden, dann beim Putsch auf dem Maidan. Westliche Waffen wurden im Donbas eingesetzt, Blackwater war beim Angriff der ukrainischen Armee auf den Flughafen in Donezk im Mai 2014 beteiligt. Allein 2021 wurden 6 Militärmanöver mit ausländischer Beteiligung in der Ukraine abgehalten und die Präsenz von bis zu 4000 US- und Nato-Soldaten zugelassen.

Nach dem russischen Angriff stand die Frage: Gelingt es der Ukraine, die Nato mit in den Konflikt zu ziehen, eine Eskalation, die Kanzler Scholz vermeiden möchte - sagt er jedenfalls. Stattdessen erklärte unsere Außenministerin Annalena Baerbock im Januar 2023: „Wir sind im Krieg mit Russland.“ Unfassbar!

Vollends verantwortungslos sind die Spekulationen aus Frankreich, Tschechien und dem Baltikum über den Einsatz von Bodentruppen. Erst dieser Tage hieß es vom polnischen Außenminister, die Präsenz von Nato-Militärs sei ein offenes Geheimnis. Der ehemalige EU-Kommissar Günther Verheugen dazu: „Es ist doch offensichtlich, dass die Ukraine verzweifelt versucht, dass das Engagement des Westens und der Nato die Grenze zur direkten Intervention überschreitet. Das hätte die direkte Auseinandersetzung der beiden Super-Atommächte zur Folge und wäre der Schritt in den Abgrund.“

Gibt es eine Steigerung von brandgefährlich?

Das Bulletin of atomic scientists stellt die Uhr zum allerersten Mal auf 90 Sekunden vor 12. Das heißt: wir sind einem Atomkrieg so nahe wie nie zuvor. Diejenigen, die in dieser Situation vor lauter Angst gelähmt sind, haben absolut Recht mit ihrer Angst, aber es gibt nur den einen Ausweg: jetzt zu handeln.

Wir können nicht bis zum nächsten Ostermarsch warten, bis wir endlich wieder mehr sind, die nicht nur eine Meinung haben, sondern sie auch lautstark äußern und Einfluss nehmen.

Wir müssen, auch wenn es Mut verlangt, die noch schweigende Mehrheit um uns herum dazu bringen, laut zu werden.

Aufrechte Demokraten, engagierte Gewerkschafter-innen, überzeugte Sozialdemokraten, ehrliche Liberale, gläubige Christen, kritische Köpfe, Menschen, denen etwas an der Erde und dem Überleben der Menschheit liegt, und auch diejenigen, die sich völlig zu Recht fürchten, wir brauchen euch!

Denn es gilt das Wort von Erich Fried: „Solange nicht der Untergang der Menschheit hundertprozentig feststeht, lohnt es sich, dagegen zu arbeiten.“

 

Helga Bories-Sawala, Bremerhaven