Redebeitrag für den Ostermarsch in Heidelberg am 30. März 2024

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Liebe Freundinnen und Freunde,

danke an das Friedensbündnis Heidelberg, dass ich hier die Gelegenheit habe zu sprechen. Wenn ich das tue, dann spreche ich erstens als Einzelperson und zweitens als Autor. In beiden Fällen bin ich es nicht so sehr gewohnt, Antworten zu geben, sondern Fragen zu stellen. Fragen kommen vor allem dann auf, wenn man unsicher ist. Und ich muss zugeben, aktuell ist meine politische Position von Unsicherheit geprägt, auch und gerade, was das Thema Frieden angeht. Ich bin hin- und hergerissen zwischen der Solidarität mit den Menschen in der Ukraine und der Angst vor der Eskalation. Ich frage mich, wie man Empathie mit der israelischen und der palästinensischen Bevölkerung äußern kann, ohne sich im Wort, der Formulierung, der Schwerpunktsetzung zu vergreifen. Wer sich in diesen Tagen für Frieden einsetzt, bewegt sich auf verdammt unsicheren Grund.

Nur: Das war schon immer so. Die ersten Friedensdemos, an denen ich teilgenommen habe, waren die der 80er-Jahre, gegen die atomare Aufrüstung, gegen den NATO-Doppelbeschluss und generell gegen das Lagerdenken im Kalten Krieg. Die Älteren unter euch werden sich noch erinnern, wie die Friedensbewegung damals bezeichnet wurde: als naiv, realitätsfremd, gefährlich. Als fünfte Kolonne Moskaus, um mit Heiner Geißler zu sprechen – heute würde man Putinversteher sagen. Das Totschlagargument damals war: Was machst du, wenn der Russe vor der Tür steht? Als Westdeutscher konnte man diese Vorstellung als hypothetisch abtun, aber in Afghanistan hatten es die Menschen erlebt, von den Aufständischen in Ungarn und der Tschechoslowakei ganz zu schweigen.

Heute erleben es die Menschen in der Ukraine, und mit der Forderung nach Frieden hat man wieder einen schweren Stand. Natürlich hat das Land ein Recht auf Selbstverteidigung, vielleicht sogar die Pflicht. Und dass eine militärische Antwort das Gebot der Stunde ist, dem kann ich nicht überzeugend widersprechen. Nur: Wie lange dauert diese Stunde? Wann schlägt die Selbstverteidigung um in einen jahrelangen Stellungs- und Abnutzungskrieg, der keine Gewinne mehr produziert, sondern nur noch Verluste, Traumata, Gewalt und Gegengewalt? Das wäre abzuwägen, ganz nüchtern abzuwägen, und so habe ich auch den Appell des Papstes verstanden: als Aufruf, innezuhalten und sich nach zwei Jahren Krieg genau diese Frage zu stellen. Lohnt es sich noch? Ein Papst muss so fragen, er muss sich um die Opfer sorgen, und wenn Frau Strack-Zimmermann sich als Katholikin dafür zu schämen meint, dann hat sie offenbar ein komplett anderes Verständnis von Christentum als ich.

Noch einmal: Sich mit Waffen gegen eine Aggression zur Wehr zu setzen, wer wollte es einem Land wie der Ukraine verdenken? Aber militärische Gewalt nützt immer nur kurzfristig. Mittel- und langfristig brauchen wir andere Instrumente, andere Strategien, und da geht es vor allem um Diplomatie. Ich will nicht glauben, dass es keine Möglichkeiten gibt, den diplomatischen Hebel anzusetzen. Natürlich nicht von Seiten des Westens; wir sind ja mitten drin im Konflikt. Und hier fällt uns eben auf die Füße, dass wir die Staaten des globalen Südens so lange als Juniorpartner behandelt haben – wenn überhaupt. Jetzt bräuchten wir die Unterstützung von Ländern wie Südafrika, Brasilien, Indien, Türkei usw., die uns bislang eher als Rohstofflieferant, Facharbeiterpool oder als Wellenbrecher gegen Migration gedient haben. Und wir brauchen die Unterstützung der Vereinten Nationen. Natürlich muss sich Russland vor dem Internationalen Gerichtshof rechtfertigen, und Putin muss sich vor dem UN-Tribunal verantworten – unbedingt. Hilfreich wäre es allerdings, wenn die Urteile dieser Gerichte auch weltweit anerkannt würden, zum Beispiel von den Ukraine-Unterstützern. Das ist aber leider nicht der Fall; warum sollten sich also die Russen drum scheren?

Natürlich kann man die Forderung nach mehr diplomatischen Anstrengungen als naiv abtun. Bloß: Wir sind dazu verpflichtet. In der UN-Resolution vom 2. März 2022 stehen als Ziele die Deeskalation der Lage und die Unterstützung sämtlicher Bemühungen durch die Vereinten Nationen. Eingebracht und unterschrieben von der BRD. Warum passiert da nichts? Stattdessen 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr. Ja, verdammt, wenn es denn sein muss! Aber das andere darf doch nicht vernachlässigt werden.

Denn – und das muss ich als Autor einfach sagen – Investitionen in Waffen sind immer ein Misstrauensvotum gegen das friedliche Zusammenleben der Menschen, in einem Wort: gegen Kultur. Zum einen in finanzieller Hinsicht. Wir haben schließlich noch ein paar andere dringende Probleme. Aber wenn die Ausgaben für Rüstung überhand nehmen, kann ich den Kampf gegen den Klimawandel vergessen, liebe Grüne. Und den Kampf gegen das soziale Gefälle in diesem Land auch, liebe SPD.

Was mir aber noch wichtiger scheint: Die Konzentration auf das Militärische beraubt uns der Alternativen, der intellektuellen und emotionalen Alternativen. Es macht uns kleiner, unbeweglicher, mitleidsloser, dümmer. Wir vergessen, welche Möglichkeiten wir noch haben, wie stark wir eigentlich sind: durch unsere Sprachfähigkeit, Kompromissfähigkeit, Empathiefähigkeit, durch unsere Fähigkeit, andere Standpunkte einzunehmen, Entscheidungen zu revidieren, Fremdartigkeit zu akzeptieren. All das fällt für mich unter den Begriff Kultur, zivile Kultur, und sie ist es, die uns stark macht. Weil wir Kulturwesen sind, leben wir mit unseren französischen Nachbarn, den ehemaligen Erzfeinden, friedlich zusammen, ganz ohne Waffen – historisch gesehen, eine Sensation. Weil wir Kulturwesen sind, gibt es hier in der Stadt Moscheen, es gibt eine Synagoge, es gibt afrikanische Studentinnen, indische Forscher, es gibt Transmenschen, Leute, die auf eine Friedensdemo gehen, es gibt sogar Kurpfälzer. Das ist unsere Stärke, und das ist mit Waffen nie zu erreichen. Deshalb, so unsicher mich die aktuelle Weltlage macht, in einer Hinsicht bin ich mir mehr als sicher: Wir müssen auf Kultur setzen, gerade in kriegerischen Zeiten.

Vielen Dank.
 

Marcus Imbsweiler ist Schriftsteller und ölebt in Heidelberg.