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vom:
15.09.2001


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Hintergrundinfos Terroranschläge / Afghanistan:

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Quelle: Frankfurter Rundschau 15.09.2001

Nationale Scham und ihre Folgen

Micha Hilgers

Die Anschläge in den USA haben nicht nur tausende Opfer gekostet. Getroffen wurden vor allem Symbole. World Trade Center, Pentagon und die geplanten Ziele Weißes Haus und Präsidentenmaschine verkörpern die besonders in der arabischen Welt unbesiegbar erscheinende Supermacht. Neben der verheerenden zivilen und militärischen Wirkung der Anschläge besitzen sie eine massenpsychologische Funktion für Opfer wie Täter: Bezweckt wurde eine nachhaltige und globale Demütigung der einzig verbleibenden Weltmacht. Dementsprechend betrifft der Schock der US-Amerikaner nicht nur die Brutalität der Taten selbst, ihrer bisher unübersehbaren Zahl der Opfer, sondern auch die plötzliche Erkenntnis, den Angriffen eines weitgehend unsichtbaren Gegners ohnmächtig ausgeliefert zu sein. Die kränkende Hilflosigkeit birgt die Erkenntnis, entweder die gesamte Infrastruktur des Landes aus Sicherheitsgründen zum Erliegen bringen zu müssen oder in extremer Weise für Anschläge verletzlich zu bleiben. Mehr noch: Mit dem Einsturz des World Trade Center zerbrach auch die schützende Illusion eines Raketenschutzschildes, der wie die Zaubermittel in Mythen und Märchen unverletzbar gegen die Mächte des Bösen machen sollte. Aus massenpsychologischer Sicht erreichen damit die Anschläge gleich mehrere Ziele für die Täter: Die Verbreitung von Angst und Schrecken, die Auslösung von Ohnmacht und Hilflosigkeitsgefühlen und der drohende Gesichtsverlust der Supermacht.

Nationale Symbole spielen für die nationale Identität und die Identifikation ihrer Mitglieder eine wichtige Rolle. Wer man als Nation ist oder zu sein glaubt, worauf ein Land und seine Bevölkerung stolz sind, schafft ein verbindendes, unsichtbares Band zwischen den unterschiedlichsten Bürgern. Denn unabhängig von Bildungsgrad, Wohlstand, sozialer Position, religiöser Zugehörigkeit oder regionaler Differenz fühlen sich die Bürger loyal gegenüber einer gemeinsamen Großgruppe. Der aus der Türkei stammende US-Psychoanalytiker Vamik Volkan erläutert den Unterschied zwischen persönlicher und Großgruppenidentität: "Stellen Sie sich vor, man würde von Kindheit an lernen, zwei Lagen Kleider zu tragen. Die erste Lage, die zu dem Individuum gehört, das sie trägt, sitzt passgenau. Sie ist die persönliche Kernidentität, die dem Individuum das Gefühl von einem dauernden inneren Gleichsein gibt. Die zweite Lage, die eigene Großgruppenidentität, ist ein lose sitzender, weiter Überzug, der es dem Einzelnen ermöglicht, unter demselben Großgruppenzelt ein fortwährendes Gefühl des Gleichseins mit anderen zu teilen."

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Demzufolge treffen Angriffe auf nationale Symbole besonders empfindlich und führen potenziell zu Identitätsverunsicherungen, wie Scham über den erlittenen Gesichtsverlust. Entsprechend martialisch werden Reparaturversuche ausfallen: Die Versicherung der eigenen Identität und Größe sowie die Rückgewinnung des Nationalstolzes, der gekränkt wurde, muss in jedem Fall mächtig genug erscheinen, um jeden eigenen oder fremden Zweifel an der Nation zu beseitigen. Damit droht die angegriffene Nation jedoch ungewollt zur Marionette der Angreifer zu werden: Jeder weitere Anschlag wird unter dem Gesichtspunkt der Reparatur des nationalen Stolzes zu einer weiteren, noch schlimmeren Demütigung, die noch drastischer beantwortet werden muss. Einmal in einem solchen Handlungszwang, ist es kaum noch möglich, aus der Rotation der Beschämungen ohne endgültigen Verlust der Würde und Selbstachtung auszusteigen.

Bevor es zu einer solchen unheilvollen, geradezu zwanghaften Eskalation kommen könnte, durchläuft eine Nation verschiedene Phasen: Nach der kurzen Leugnungsphase mit einem Gefühl der Unwirklichkeit ("wie im Katastrophenfilm") und der emotional geprägten Realisierung des Geschehens (Schmerz, Entsetzen, Trauer, Abscheu) in der Schockphase kommt es zu einer eher stillen Orientierungsphase, bevor in der Handlungsphase Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Abhängig von der Massivität des tatsächlichen oder gefürchteten Gesichtsverlusts wird sich ein Land eine kürzere oder längere Zeit der Orientierung und des vernunftgesteuerten Nachdenkens leisten können. Denn je höher der Handlungs- und Erwartungsdruck zur Wiederherstellung des Identitätsgleichgewichts ist, desto wahrscheinlicher wird blanker Aktionismus als Abwehr von Ohnmacht und nationaler Scham.

Rationalität und Angemessenheit der Gegenmaßnahmen auf die jüngsten Ereignisse hängen also davon ab, inwieweit Zeit für eine vernunftgeleitete Debatte bleibt. Deeskalierend wirkt der Eindruck, nicht auf sich allein gestellt zu bleiben, sondern Verbündete zu haben, die daher auch mäßigenden Einfluss ausüben können. Für das Binnenklima des sozialen Friedens nicht nur in den USA, sondern auch in Europa, wird es von entscheidender Bedeutung sein, inwieweit sich die Täter identifizieren lassen und aus der Anonymität einer Ethnie oder Religionsgemeinschaft heraustreten. Denn um Übergriffe gegen "die Araber" zu verhindern, bedarf es konkreter Feinde statt emotionalisierender allgemeiner Feindbilder. Die Worte des US-Präsidenten vom "monumentalen Kampf des Guten gegen das Böse" könnten hingegen eine massenpsychologische Situation einleiten, bei der in einem paranoiden Klima nach einfachen Gut-Böse- und Freund-Feind-Rastern überall Feinde geortet werden. Die zivilen und militärischen Reaktionen werden in einem solchen Klima besonders irrational ausfallen.


Der Autor ist Psychoanalytiker in Aachen.
Internet: http://www.fr-aktuell.de
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