Redebeitrag für die Veranstaltung zum Antikriegstag in Freiburg am 1. September 2018

 

- Es gilt das gesprochene Wort -

 

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,

Am Freitagmorgen, 1.9., kam der junge Schlächtergeselle und berichtete: Rundfunk erkläre, wir hielten bereits Danzig und Korridor besetzt, der Krieg mit Polen sei im Gang, England und Frankreich blieben neutral. Ich sagte zu Eva, dann sei für uns eine Morphiumspritze oder etwas Entsprechendes das Beste, unser Leben sei zu Ende. Dann wieder sagten wir uns beide, so könnten die Dinge unmöglich liegen, der Junge habe schon oft tolles Zeug berichtet (er sei ein Musterbeispiel für die Art, wie das Volk Berichte auffaßt). Eine Weile später hörte man Hitlers gehetzte Stimme, dann das übliche Gebrüll, verstand aber nichts. Wir sagten uns, es müßten schon Fahnen erscheinen, wenn der Bericht auch nur halbwegs stimmte.(1)

Gar nicht so einfach, im Dresdner September 1939 festzustellen, ob nun Deutschland den Krieg mit Polen begonnen hat oder nicht. Victor Klemperer und seine Ehefrau Eva haben die Nachricht zunächst von einem Metzergjungen erfahren. Wahrheit oder Fake News? Der Junge sei ein Beispiel dafür, wie das Volk Berichte auffasse. Ja, wie denn? Wie nimmt „das Volk“ Informationen auf und wie gibt es das Gehörte weiter? Und: wer ist das Volk? Der Rundfunkempfänger wird eingestellt.

Doch die krächzende Stimme des Führers hilft da nicht weiter. Die Klemperers vertrauen auf die Bilder in den Straßen, warten auf Fahnen und Kriegseuphorie. Aber erst eine nüchterne Depesche, dann die Gespräche mit der Kioskverkäuferin am Chemnitzer Platz und dem Bäcker über die angebliche Neutralität Frankreichs und Englands machen die Ahnung zur Wahrheit.

Warum ich mit diesem Zitat aus den berühmten Tagebuchaufzeichnungen Victor Klemperers meine Rede zum Antikriegstag 2018 beginne? Weil Krieg und die Frage nach der Wahrheit ganz eng zusammengehören. Weil die Wahrheit das erste Opfer des Krieges ist. Weil wir heute 73 Jahre nach der Befreiung vom Nazi-Terror und 79 Jahre nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs tagtäglich erleben, wie die Wahrheit zum Spielball wird. In Zeiten und Räumen des Krieges, aber auch dort, wo angeblich Frieden herrscht, aber unterschwellige Gewalt spürbar ist. Stimmungen werden als Argument vorgebracht, wenn sogenannte Fakten, Fake News, als Blitzlichter in den Sozialen Medien auftauchen. Ich sage, was ich denke und was ich fühle. Ich habe das Recht dazu. So die Argumentation.

Aktuelles Beispiel: Mehr als 400.000 haben diesen einen You Tube-Clip gesehen. Ich muss versuchen, objektiv meine Meinung kundzutun skandiert da der 26-Jährige in die Kamera. Direkt im Auto. Und der anschwellende Bockgesang entlädt sich zur Hetzrede. Voller Wut und Aggression.

Drei Deutsche seien in Chemnitz abgestochen worden. Der Nazi-Rapper, der da alles von sich gibt, nennt sich nach dem griechischen Kriegsgott Ares, Chris Ares. Jeder von uns hat inzwischen mitbekommen, was da in Chemnitz geschehen ist. Ein Tötungsdelikt und anschließende Krawalle aufgepeitschter Menschen, darunter Hooligans, rechtsnationale Gruppen, Schläger. Eine überforderte Polizei. Die Wahrheit blieb Anfang der Woche auf der Strecke, die Ereignisse waren schneller als eine nüchterne Aufarbeitung des Tötungsdelikts.

Gewalt zwischen einzelnen Menschen wie zwischen Staaten beginnt nicht mit einer Waffe. Sie beginnt mit Worten, mit Hass, der sich in Sätze eingräbt. Beginnt mit Stimmungen, in denen das Ego alle anderen Stimmen übertönt. Und unsere digitalen Medien befördern diese Stimmungsmache. Die Kamera am Laptop oder Handy sind wie ein Mikro auf einer Bühne. Hier kann ich alles sagen, was ich will. Und das, was ich von mir gebe, zieht Kreise. Endlich bin ich der Mittelpunkt der Welt und verbreite mich auf digitalem Wege.

Nicht nur die Polizei ist von den Dynamiken der sogenannten Social Media – wie sozial sind diese Medien? – überfordert. Auch die Zivilgesellschaft. In wenigen Stunden können Demos aus dem Boden gestampft und Menschen aufgepeitscht werden. Wie können wir solchen Agitationen vorbeugen? Wie muss das Netz organisiert werden, dass Hetze unterbunden und strafrechtlich verfolgt wird?

Das, was das Netz transportiert, ist Teil einer durch und durch globalisierten Welt. Jeden Tag prasseln Tausende von Informationen auf uns ein. In der Regel Bad News, Nachrichten von Erdbeben und Klimakatastrophen, Reportagen vom Chaos der Kriege in Damaskus, Myanmar oder dem Donez. Das prasselt auf uns ein und wird mit der Situation der Geflüchteten in unseren Städten und Dörfern direkt verknüpft. Und das überfordert, fast alle. Mit Folgen für die Wahrheit, die zerdehnt, verzerrt wird.

Sündenböcke werden ausgerufen, Antisemitismus als ungebremste Banalität. Manchmal sogar in Schulen, zu oft im Netz. Was tun?

Für mich als Theologen ist ein Satz in diesen wilden, schweren Zeiten besonders stark, ausdrucksstark. Er ist in Sandstein gemeißelt. Hier über dem Eingang der Uni in Freiburg. Er stammt aus der Bibel, von Johannes. Jesus sagt: Die Wahrheit wird euch frei machen.

Wer ist der Akteur auf der Suche nach der Wahrheit? Wer gibt den Ton an? Ist es die Stimme, meine Stimme, die ins Mikro spricht? Ist es mein Gesicht, das im Video Clip eine message von sich gibt?

Die Bibel dreht den Spieß herum, stellt unsere Wahrnehmung auf den Kopf. Nicht ich habe das Sagen, nicht ich habe Recht, das Recht gepachtet. Die Wahrheit agiert, sie spricht, sie handelt und sie macht frei. Ich selber kann mich nicht befreien, auch nicht, wenn ich all´ meine Wut herauslasse. Die Wahrheit wird euch freimachen – das heißt: nie habe ich die Wahrheit im Griff. Die Wahrheit kommt buchstäblich von außen auf mich zu und öffnet mich, befreit mich, macht mich zu einem anderen. Diese Wahrheit kann nicht besessen, aber geteilt werden. Im griechischen Original dieser Worte wird deutlich, dass wir uns an die Wahrheit immer nur annähern können. Sie ist nicht offensichtlich da, sondern muss aus ihrer Verbergung geholt werden. Aus diesem Grund erhoben die Theolog*innen das gemeinsame Gespräch zu Zentrum. Nur wenn ich auf einen anderen höre und meine Stimme schweigt, komme ich dem näher, was Wahrheit ist. Übertragen auf das Debattenchaos bei uns bedeutet dies: Wir dürfen uns nicht in unseren eigenen Diskussionen-Milieus einbetonieren, sondern müssen genau dahingehen, wo die stehen, die anders denken, anders reden und anders fühlen als wir. Eine Gesellschaft bricht auseinander, wo nur die eigenen Urteile bestätigt werden. Deswegen muss über Parteigrenzen hinweg diskutiert und gestritten werden. Unsere Zivilgesellschaft braucht Zivilcourage, um sich für die Geflüchteten einzusetzen. Sie darf nicht schweigen, wenn Mauern gezogen werden. In Ungarn oder Spanien. Wir brauchen aber auch Zivilcourage, um mit den Menschen unter uns das Gespräch zu suchen, die von sich behaupten, sie wären verängstigt und abgehängt.

Doch das alles fällt nicht vom Himmel. Kommunikation muss erlernt werden. Kommunikation als pazifizierende Haltung in der Zivilgesellschaft. Lernräume für diese Gespräche über die Milieugrenzen hinweg sind unsere Kindertageseinrichtungen und vor allem die Schulen. Es ist ein Skandal, wie wenig unsere Gesellschaft in Schulen und Bildung investiert. In dem Maße, wie innergesellschaftliche Spannungen steigen, muss in den Sozialraum Schule investiert werden. In Lehrer*innen, in Psycholog*innen, in Sozialarbeiter*innen. Und: die Debatte über den Islamischen Religionsunterricht muss so beendet werden, dass er endlich als ordentliches Unterrichtsfach kommt.

Unsere Badische Landeskirche hat sich zu Recht dem Frieden und der Friedenserziehung verschrieben. Weil wir so am besten an Denjenigen erinnern, der uns überliefert hat: Die Wahrheit wird euch freimachen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

 

Christian Stahmann ist Evang. Schuldekanat für Freiburg.

 

Anmerkungen:

(1) Viktor Klemperer, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten, Tagebücher 1933-1941, Aufbau Verlag 19954, S.482.