Neuer Gedenktag

8.Mai 1945: „Morgenrot der Menschheit“*

von Matthias Jochheim

*(Peter Gingold, jüdischer Antifaschist und Widerstandskämpfer)

Erinnerung ist ein wesentliches Element unseres Bewusstseins – erst sie erlaubt uns, Ereignisse in ihrer Kontinuität zu erfassen und damit in ihrem Zusammenhang zu verstehen – wie vorläufig und unvollkommen auch immer. Die Erinnerung stellt also ein wichtiges Mittel dar, unsere Lebenswelt für uns handhabbar zu machen. Es ist eindrucksvoll und bestürzend, wie hilflos Menschen werden, denen diese Ressource auf Grund einer Erkrankung nicht mehr zur Verfügung steht.

Dieses Grundbedürfnis gilt auch für menschliche Kollektive. Das gesellschaftliche Geschehen in seinem geschichtlichen Kontext zu erfassen, ist eine wesentliche Voraussetzung, sinnvoll und effektiv auf soziale Prozesse einzuwirken. Dabei gehen die Zusammenhänge, die unsere soziale Daseinsform aktuell bestimmen, natürlich über die individuelle Lebensspanne hinaus – das Verständnis des Aktuellen erfordert die Beschäftigung mit unserer Geschichte, mit der historischen Genese des Status quo.

Im politischen Raum ist die geschichtliche Erinnerung umkämpftes Terrain, geprägt von den unterschiedlichen Sichtweisen der gesellschaftlichen Fraktionen, von kulturellen Einflüssen, von Traditionen, religiösen Überzeugungen ebenso wie von den materiellen Interessenslagen.

Die Befassung mit Geschichte ist kein beliebiges Thema für Schöngeister, sondern hat eine sehr wichtige Funktion in der Auseinandersetzung mit aktueller politischer Praxis. Der Widerstand dagegen kann seinerseits aufschlussreicher Gegenstand für das politische Erkenntnisinteresse sein.

Nationaler Gedenktag zum 8. Mai 1945

Nach diesen Bemerkungen möchte ich mein Votum für einen nationalen Gedenktag zum 8.Mai 1945, dem Tag der Befreiung vom 2.Weltkrieg in Europa und von dessen Verursacher, dem deutschen Nazi-Regime, skizzenhaft darstellen, und dabei auf Gegenargumente eingehen.

Wir haben in Deutschland, und darüber sind wir alle froh, eine Erinnerungskultur in Bezug auf den Genozid an der jüdischen Bevölkerung Europas entwickelt. Dies ist bedeutsam, und wir  müssen alle dafür Sorge tragen, dass dies auch so bleibt.  In Frankfurt gab es als wichtigen Beitrag den Auschwitz-Prozess der 1960er Jahre, der nicht ohne starke Widerstände durchzusetzen war.

Wie aber sah der Umgang mit den Massenmördern der Wehrmacht aus? Mit wenigen Ausnahmen wurden deren hohe Offiziersränge, Akteure  des deutschen Vernichtungskrieges, insbesondere in Osteuropa,  schon ab 1948 reaktiviert, um die „neue“ deutsche Armee in Abstimmung mit den US-Strategen gegen die sowjetische Siegermacht in Stellung zu bringen, entgegen dem Potsdamer Abkommen von 1945. Bundeswehr-Kasernen, ab 1956 wieder vom Militär bezogen, wurden nach „verdienten“ Nazi-Kriegshelden benannt; die deutsche Machtelite betrachtete den 8. Mai keineswegs als „Tag der Befreiung“, sondern strebte nach Wiedererrichtung ihrer Militärmacht, im Windschatten und als Juniorpartner der westlichen Sieger. 
Diese Entwicklung - die Restauration von Großmachtansprüchen auch im Militärischen -  ist ein Kontinuum (west-)deutscher Politik geworden. Ausgerechnet ein sozialdemokratischer Kanzler Gerhard Schröder und sein grüner Vize Fischer haben dann 1999 ein weiteres Mal (diesmal im Rahmen der NATO) Jugoslawien mit Krieg überzogen. „Enttabuisierung des Militärischen“  nannte Schröder das, stolz ob dieser Leistung  - die Devise war eben der Abschied von jedem hinderlichen Scham- und Schuldgefühl, das nach 1945 noch verblieben war.

Die Entwicklung ist weitergegangen: Die deutsche Armee wird zum weltweit operierenden Kriegsinstrument aufgebaut, souverän das Völkerrecht ignorierend. Kräfte, die sich direkt auf Nazi-Tradition beziehen oder entsprechende geistige Wurzeln nur mühsam verbergen, setzen hier bei uns Flüchtlinge lebensgefährlichen Angriffen und Brandschatzungen aus - Menschen, die zum großen Teil aus eben solchen Regionen stammen, die westliche Militärangriffe unter Beteiligung Deutschlands erlebt haben und erleben. 

Es ist an der Zeit, daran zu erinnern, welche Folgen Militarismus, die Verachtung des Völkerrechts, Arroganz und Rassismus 1939 bis 1945 in Europa und weltweit  gehabt haben. Es ist wahr: Viele Deutsche verstanden den 8.Mai 1945 nicht als Tag der Befreiung. Für uns bedeutet er aber im Rückblick ein Datum der Hoffnung  auf die Möglichkeit einer friedlicheren Welt. Er bedeutet die Erinnerung an den entsetzlichsten Krieg der bisherigen Menschheitsgeschichte und ein Ansporn, dem Schwur der Häftlinge von Buchenwald bei ihrer Selbstbefreiung zu folgen:

Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.

Zum Aufruf: http://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Frieden/Vorschlag__Initiative_08_Ma...

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Matthias Jochheim ist ist Arzt für Allgemeinmedizin und Psychotherapeut und wirkt im AK Süd / Nord der IPPNW mit.