Immer kürzere Vorwarnzeiten

Abrüsten! Oder die Atomwaffen schaffen uns ab.

von Otmar Steinbicker
Hintergrund
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Der knapp 25.000 Zeichen lange Beitrag der namhaften US-Militärwissenschaftler Adam Lowther und Curtis McGiffin vom 16. August 2019 im Fachmedium warontherocks.com argumentiert kühl, sachlich und prägnant und plädiert am Schluss für nicht mehr und nicht weniger, als das Schicksal der Menschheit im Falle eines drohenden Atomkrieges in die Hände von Computern mit „künstlicher Intelligenz“ zu legen.

Adam Lowther lehrt am Louisiana Tech Research Institute und arbeitete lange als Regierungsberater in Fragen der Atomkriegsstrategie, Curtis McGiffin lehrt am Air Force Institute of Technology und an der Missouri State University strategische atomare Abschreckungstheorie. Beide sind anerkannte Experten.

Ihre These ist so simpel wie überzeugend: Brauchten in den 1950er Jahren Flugzeuge mit Atombomben noch Stunden Flugzeit zwischen den USA und der UdSSR, so waren es im Raketenzeitalter nur 30 Minuten bei landgestützten und 15 Minuten bei U-Boot-gestützten Atomraketen. Doch das sei längst Schnee von gestern. Künftig bräuchten atomare Hyperschallwaffen nur noch wenige Minuten zwischen Start und todbringendem Einschlag. Da gäbe es keinerlei Möglichkeiten mehr zu verifizieren, ob die Gegenseite überhaupt einen Angriff mit Atomwaffen gestartet hat und dann vom Präsidenten entscheiden zu lassen, ob mit einem atomaren Gegenschlag geantwortet werden soll. Also bliebe nur die Möglichkeit, auf künstliche Intelligenz zu setzen, die schnell genug prüfen und dann auch über einen Kriegseinsatz mit Atomwaffen entscheiden kann. Dass eine solche Computerentscheidung auch eine Fehlentscheidung sein kann, wird von den Autoren ausdrücklich gesehen und anerkannt.

Dass ein durch Fehlalarm ausgelöster vermeintlicher Zweitschlag de facto ein Erstschlag wäre, der von der Gegenseite mit einem Zweitschlag beantwortet würde, bleibt ebenso unerwähnt wie die Tatsache, dass ein Atomkrieg bei einem folgenden Einsatz aller in den USA und Russland vorhandenen Atomwaffen die Erde für Menschen unbewohnbar machen könnte.

Die bisher bekanntesten Fehlalarme waren 1979 ein Bedienungsfehler beim US-Warnsystem, das den Anflug von sowjetischen Raketen meldete und erst nach 90 Minuten gefunden wurde. Und 1983 eine extrem seltene Sonnenspiegelung, die das sowjetische Warnsystem als Serie von US-Raketenstarts interpretierte. In beiden Fällen waren es Menschen, deren Zweifel an den Alarmmeldungen einen vermeintlichen Gegenschlag verhinderten.

Vorwarnzeit sinkt drastisch
Recht haben Lowther und McGiffin mit ihrer Feststellung der drastisch verkürzten Vorwarnzeiten, die rationale Entscheidungen kaum noch möglich macht. Diese Problematik liegt aber in der Logik der aufgekündigten Rüstungskontrollabkommen. Der Eckstein aller Abkommen zwischen den USA und der UdSSR war der 1972 abgeschlossene ABM-Vertrag, der eine Raketenabwehr weitgehend verbot und damit die gegenseitige Verwundbarkeit garantierte. Die Kündigung dieses Vertrages 2002 und der Aufbau eines großen Raketenabwehrsystems durch die USA führten in Russland zum Entschluss, mit ultraschnellen Hyperschallwaffen doch noch einen Zweitschlag als glaubwürdige Abschreckung androhen zu können. Dass in den USA die russischen Hyperschallwaffen aber auch als Waffen für einen überraschenden Erstschlag gesehen werden können und müssen, liegt auf der Hand.

Angesichts der durch die asymmetrische Atomwaffenmodernisierung beider Seiten erschwerte Rüstungskontrolle und der atomaren Aufrüstung weiterer Staaten kommt einem weltweiten Verbot aller Atomwaffen entscheidende Bedeutung zu. Der Verbotsvertrag wurde bisher von 79 Staaten unterzeichnet und von 32 ratifiziert. Neben den Atomwaffenstaaten verweigert auch Deutschland bisher die Unterschrift.

Doch angesichts der von Lowther und McGiffin aufgezeigten und empfohlenen Perspektive, die Atomkriegsentscheidung „künstlicher Intelligenz“ und damit Computern zu überlassen, gilt als Alternative in aller Schärfe: Entweder schafft die Menschheit die Atomwaffen ab. Oder die Atomwaffen schaffen die Menschheit ab.

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Otmar Steinbicker ist Redakteur des FriedensForums und von aixpaix.de