Ökumenische Initiative

Abschaffung der Militärseelsorge

von Michael Schmidt

Am 22. September 2012 wurde auf einer Tagung des Dietrich-Bonhoeffer-Vereins in Halle/Saale eine Initiative zur Abschaffung der Militärseelsorge gegründet. Sie wird unter anderem vom Versöhnungsbund und von der BAG "Christen und Christinnen bei den Grünen" unterstützt. Anfragen bei weiteren Organisationen laufen. Wir dokumentieren im Folgenden den Aufruf, der den Titel trägt: „Gegen die Zusammenarbeit von Kirche und Militär! Für kirchlich-pazifistische Angebote an Soldaten! Gegen eine Institution! Aber nicht gegen Personen!“

(I.) Informationen
1. Es gibt in Deutschland circa 100 evangelische und 100 katholische Militärpfarrämter, dazu 5 evangelische und 4 katholische Militärdekanate und je einen Militärbischof.

2. Der Staat gibt circa 30 Millionen Euro / Jahr für die Militärseelsorge aus. Was wünscht sich der Staat dafür – ausgesprochen oder unausgesprochen – als Gegenleistung?

3. Der Militärpfarrer hat unter anderem die Aufgabe der "Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen". Das heißt: Der Militärpfarrer soll helfen, dass ein Soldat nach einem belastenden Einsatz bald wieder funktioniert.

4. Der Militärpfarrer ist zwar offiziell exemt, das heißt der militärischen Hierarchie enthoben. Er bleibt offiziell seinem kirchlichen Bekenntnis verpflichtet. Er sieht sich selbst nicht als Teil der Bundeswehr.

5. Aber die Praxis sieht anders aus:

Der Militärpfarrer wird von seinem kirchlichen Arbeitgeber freigestellt (beurlaubt). Er wird Bundesbeamter auf Zeit.

Er wird vom Staat bezahlt. (Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.)

Er bekommt in der Regel ein höheres Gehalt als der Gemeindepfarrer.

Er legt einen Beamteneid ab.

Er unterliegt der Pflicht, militärische Informationen geheim zu halten.

Er wird vor der Anstellung vom Militärischen Abschirmdienst (MAD) überprüft.

Er bekommt ein Dienstfahrzeug von der Bundeswehr.

Er bekommt einen Pfarrhelfer (100% Dienstauftrag) an die Seite gestellt.

Die mail-Adressen der Militärpfarrämter enden auf "bundeswehr.org".

Er trägt im Ausland immer militärische Kleidung. Ebenfalls auf Kriegsschiffen. Im Inland trägt er bisweilen militärische Kleidung. Auf der Schulterklappe befindet sich kein Rangabzeichen, sondern das Logo der Militärseelsorge.

6. Laut einer Umfrage des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr, finden zwar 95,7 % der Soldaten „gut, dass ein Pfarrer im Lager ist“, aber auf die Frage: „Mit wem sprechen Sie über ihre persönlichen Ängste und Gefühle?“ antworten 54,8 % „mit den Kameraden“, 46,4 % „mit der Partner/in“, 6,7 % „mit dem Vorgesetzten“, 22,6 % „mit niemandem“ und nur 1,3 % „mit dem Militärpfarrer“. Mehrfachnennungen waren möglich. Spätere Untersuchungen werden von der Bundeswehr geheim gehalten.

7. In den Fortbildungsangeboten der Militärpfarrer für Soldaten und deren Angehörige und im Lebenskundlichen Unterricht spielt die Auseinandersetzung mit der Gewaltfreiheit Jesu Christi und mit gewaltfreien Methoden der Konfliktlösung so gut wie keine Rolle.

8. Die obersten Behörden der Militärseelsorge, das Evangelische Kirchenamt für die Bundeswehr (EKA) und das Katholische Militärbischofsamt (KMBA), sind - anders als es die Namen sagen möchten - keine Organe der Kirche, sondern es sind Behörden des Verteidigungsministeriums (nachgeordnete Behörden).

9. Oft wird gesagt, die Militärseelsorge sei mit der Gefängnisseelsorge vergleichbar. Aber es gibt wesentliche Unterschiede: Der Gefängnispfarrer begleitet seine "Klienten" in der Regel nicht bei gewalttätigen (oder Gewalt androhenden) Ausfahrten. Er ist auch nicht bei der Vorbereitung auf diese Ausfahrten dabei. Außerdem ist er nicht Mitglied derselben gewalttätigen Organisation/en wie seine Klienten. Der Gefangene kann während der Verbüßung seiner Strafe das Gefängnis nicht verlassen, deshalb muss der Seelsorger in das Gefängnis. Ein Soldat kann seine Kaserne verlassen.

(II.) Wahrnehmungen
1. Die Militärseelsorge erfüllt in der Praxis, ähnlich wie der Truppenpsychologe, die Militärmusik, die Feldküche und der Sanitätsdienst, eine Rolle innerhalb des Militärs. Sie ist ein kleines Rad in der großen Militärmaschine.

2. Eine Fürbitte für die Feinde hört man in Militärgottesdiensten eher selten. Beispielsweise hat im TV-Militärgottesdienst am 15.05.2011 diese Fürbitte gefehlt. Ebenso wie die Bitte um den Frieden zwischen den Kulturen. Auch an die Getöteten der Gegenseite wurde nicht in gleicher Weise gedacht wie an die Getöteten der eigenen Seite.

3. Laut einer Untersuchung des Sozialwissenschaftlichen Institutes der Bundeswehr ist die Funktion der Militärpfarrer in der Praxis nur selten das persönliche Gespräch mit den Soldaten (Militärpfarrer-Paradoxon). Unsere Wahrnehmung: Die Hauptfunktion der Militärpfarrer ist die Begleitung, und damit die moralische Legitimation der Auslandseinsätze. Der Soldat hat den Eindruck: Wenn sogar der Pfarrer mitkommt, dann kann das, was wir hier tun, nicht verwerflich sein.

4. Wenn ein Pfarrer immer wieder Kasernen betritt oder Soldaten begleitet, färbt dies auf ihn ab. Die meisten Militärpfarrer übernehmen mit der Zeit die Verhaltensweisen, die Gewohnheiten und die Gedanken des Militärs.

5. Der Militärpfarrer wird von den Soldaten entsprechend seiner Bezahlung wie ein Oberstleutnant wahrgenommen und auch so behandelt.

6. Wir haben den Eindruck: Auf die Militärseelsorgestellen bewerben sich - nicht immer, aber oft - solche Pfarrer, die eine Affinität zu militärischen Strukturen und Verhaltensweisen haben.

7. In der Zivilgesellschaft ist es ein Tabu, einen Menschen zu töten. Im Militär ist das Töten eines Menschen kein Tabu, wenn im Kriegsfall auf Befehl gehandelt wird. Die Grenze von der einen zur anderen Welt ist deutlich markiert: durch das Gelöbnis, durch militärische Kleidung, durch die militärische Fachsprache, durch die militärische Rangordnung, durch das militärische Grüßen. Der Militärpfarrer überschreitet diese Grenze. Er entfernt sich auf diese Weise aus der Zivilgesellschaft. Er entfernt sich auch von dem gewaltfreien Jesus Christus.

8. Es ist zwar theoretisch denkbar, dass ein Militärpfarrer zu Soldaten im Auslandseinsatz sagt: „Dieser Krieg, den wir hier führen, ist Unrecht. Verweigert die Befehle, legt eure Waffen ab und geht nach Hause!“ Aber hat das jemals ein Militärpfarrer gesagt?

9. In Trauerfeiern für "gefallene Kameraden" verleihen Militärpfarrer diesem sinnlosen Tod nicht selten doch einen Sinn: Der Soldat sei gestorben, damit die Zivilbevölkerung (z.B. in Afghanistan) im Frieden leben kann. Der Kamerad ist darum gestorben, damit wir weitermachen.

10. Die Militärseelsorge hat eine große Nähe zum Militär. Sie wirkt auf die Truppe beruhigend und stabilisierend.

(III.) Folgerungen
1. Die Militärseelsorge ist ein Überrest aus der Zeit, als Thron und Altar, weltliche und geistliche Macht noch gemeinsame Sache gemacht haben. (Konstantinische Wende, 4. Jh.)

2. Eine "Religion des Friedens" macht sich unglaubwürdig, wenn sie Kriegspfarrer (Militärpfarrer) entsendet.

3. Jesus Christus hat nicht das Dilemma gepredigt, dass man "schuldig wird, ob man eingreift oder ob man nicht eingreift". Er hat nicht gepredigt, dass man in einer "unerlösten Welt nicht anders kann, als sich bisweilen die Hände schmutzig zu machen". Sondern Jesus hat eine kreative Gewaltfreiheit gepredigt und gelebt. In seinem Geist dürfen wir leben.

4. Die Kirche hat nicht nur die Aufgabe, zu trösten (Seelsorge), zu helfen (Diakonie) und andere Aufgaben, sondern die Kirche hat auch den Auftrag, Unrecht beim Namen zu nennen und - in Wort und Tat - zu widersprechen (prophetischer Auftrag). Die Militärseelsorge ist zu sehr mit dem Militär verflochten. Deshalb kann sie das prophetische Amt gegenüber dem Militär nicht wahrnehmen. Das Wächteramt der Kirche kommt zu kurz.

5. Die Kirche, auch die Volkskirchen, haben einen Herrn: Jesus Christus. Er hat nicht gesagt: "Selig sind, die Gewalt anwenden." Er hat nicht gesagt: "Selig sind, die Gewalt androhen." Sondern er hat gesagt: "Selig sind, die (auf gewaltfreie Weise) Frieden stiften." (Mt 5,5+9)

(IV.) Forderungen
1. Die Militärseelsorge soll zeitnah abgeschafft werden. Die entsprechenden Verträge und Vereinbarungen mit dem Staat müssen gekündigt werden.

2. Die Kirche soll den Soldaten Möglichkeiten zur Seelsorge und zum Gespräch anbieten. Wichtig ist dabei, dass dies in gemeindeeigenen Räumen geschieht, im Auftrag der Kirche und bezahlt von der Kirche. Möglich sind beispielsweise Kontakt-Cafés und Beratungsstellen für Aussteiger. Ebenso möglich: Seelsorge für Soldaten per Telefon und Internet.

3. Die Kirchen sollen sich aus dieser unseligen Allianz lösen und dem gewaltfreien Jesus Christus nachfolgen. Die entsprechenden Lehrtexte müssen revidiert werden, zum Beispiel im Augsburger Bekenntnis der Artikel 16.

4. Die Milliarden, die in Deutschland für das Militär ausgegeben werden, und die Millionen, die für die Militärseelsorge ausgegeben werden, sollen für Maßnahmen der frühzeitigen Konflikterkennung (Friedensforschungsinstitute) und der zivilen Konfliktbearbeitung (internationale Streitschlichtung) ausgegeben werden.

(V.) AUFRUF
Unterstützen Sie den folgenden Aufruf und unsere Forderungen (Abschnitt IV) durch Ihren Namen! Schreiben Sie uns an folgende Kontakt-Adresse:  kontakt [dot] berlin [at] militaerseelsorge-abschaffen [dot] de
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