Äthiopien - Eritrea

von Helmut Falkenstörfer
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Diese Dokumentation ist aus einer Reise durch Äthiopien vom 12. Januar bis zum 14. Februar hervorgegangen. In diese Zeit fiel der Neuausbruch des äthiopisch-eritreischen Krieges in den ersten Tagen des Februar. Vor diesen Tagen lag eine Zeit letzter Hoffnung, dass Eritrea doch noch einlenken und sich aus den besetzten Gebieten zurückziehen werde; danach ein Staunen darüber, dass der Krieg tatsächlich eingetreten war.

Warum dieser Krieg?
Dass es tatsächlich zum Kriegsausbruch kam, war schließlich für Äthiopien selbst ebenso wie für ausländische Beobachter im Grunde unbegreiflich. Warum hat Eritrea, warum hat dessen Präsident, Isaias Afwerki (dies ist die Schreibung des Namens in der eritreische Presse), trotz aller Vermittlungsversuche einzelner Staaten, der OAU und schließlich einer Aufforderung des Weltsicherheitsrats der UNO, sich gemäß dem Vorschlag der OAU aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen, nicht nachgegeben? Was steht überhaupt hinter dem Krieg?

Von Anfang an hieß es in Diskussionen unter Fachleuten und Interessierten, es gehe eigentlich nicht um die Grenzen, sondern um etwas anderes. Was dieses "andere" sei, kann freilich niemand präzise sagen. Als einer, der den Lauf der Dinge aus Europa und aus der Nähe (jetzt in Äthiopien und im September 1998 in Eritrea) miterlebt hat, möchte ich folgende Hypothese zur Entwicklung der Dinge wagen:

Zuerst die Fakten:
Im August 1997 gab es einen Grenzkonflikt um ein Gebiet bei Adi Murug im Gebiet von Dallol in der Danakilwüste. Daraus entstand ein Briefwechsel zwischen den beiden Präsidenten Isayas Afwerki und Meles Zenawi. Eine gemeinsame Kommission zur Regelung der Grenzfragen wurde eingesetzt.
 

Im November 1997 führte Eritrea eine eigene Währung, den Nakfa, ein. Die Einführung der eigenen Währung für ein souveränes Land ist an sich ein normaler Vorgang und keineswegs ein unfreundlicher Akt. Wie die Einführung in diesem Falle geschah, führte zu Irritationen. Bei Absprachen aus dem guten Willen beider Seiten hätte die Einführung der eigenen Währung den Weg zu einer Art äthiopisch-eritreischer Wirtschaftsgemeinschaft, die aus sachlichen Gründen sehr nahe liegt, nicht behindern müssen. Solche Absprachen aber fehlten.

Auf diese Weise gab es Unklarheiten und Konflikte, welche das Verhältnis zwischen beiden Ländern trübten. Um das Jahresende 1997/98 rief die eritreische Regierung eine Entwicklungskampagne aus, zu der für Ende April 50.000 Reservistinnen und Reservisten einberufen wurden. Der National Service in Eritrea umfasst militärische Ausbildung ebenso wie Dienst bei öffentlichen Arbeiten. Folglich können Reservisten sowohl für militärische wie für zivile Aufgaben eingesetzt werden. Ende April wurden 50.000 Reservistinnen und Reservisten einberufen, die dann unmittelbar an die Front umgeleitet werden konnten. Dies sind die Tatsachen.

Nun die Hypothese:
Um in den begonnenen Verhandlungen über Grenzfragen besser dazustehen, wollte Eritrea sich Faustpfänder schaffen und besetzte deshalb im Mai 1998 verschiedene Grenzgebiete. In laufenden Kriegen ist dies vor Waffenstillstandsverhandlungen ein durchaus übliches Verfahren. Da es zwischen Eritrea und Äthiopien zwar Spannungen gab, aber keinen Krieg, wurde diese Aktion von der Gegenseite nicht als üblicher Akt, sondern als einseitiger Beginn eines Krieges und damit als nicht tolerierbare Provokation aufgefasst. So sah es auch die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU), für die es ein Schreckensszenario sein muss, wenn Grenzdispute zwischen afrikanischen Staaten künftig mit der Eroberung von Faustpfändern gewürzt werden. Dementsprechend lief der Vermittlungsvorschlag der OAU, dem sich im Januar auch der Weltsicherheitsrat der UNO anschloss, darauf hinaus, dass Eritrea sich vor allen Grenzklärungen aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen habe.

Verständlich wird das Verhalten Eritreas am ehesten, wenn man bedenkt, dass Eritrea ein aus 30jährigen Kämpfen hervorgegangener Kriegerstaat ist. Auch heute noch legitimiert sich die Macht aus dem Sieg von 1991. Es regiert die siegreiche Aufstandsbewegung. Wie schnell Eritrea zu den Waffen greift, hat es davor schon in Konflikten mit seinen Nachbarn Sudan, Jemen und Djibouti bewiesen.

Aber eben: So üblich es bei laufenden Kriegen ist, sich militärisch Faustpfänder für Verhandlungen zu beschaffen, so unüblich ist dies außerhalb von Kriegen. Diesen Unterschied hat Eritrea offenbar unterschätzt und damit auch die Reaktion Äthiopiens, der OAU, des UN-Sicherheitsrates und zunehmend auch der Weltöffentlichkeit.
 

Heute steht Eritrea politisch wie diplomatisch völlig isoliert da, oder jedenfalls fast völlig, wenn man von ganz wenigen Verbündeten wie z.B. Muammar al-Qaddafi absieht. Will man die Frage beantworten, warum Eritrea daraus nicht die vernünftige Konsequenz des Nachgebens gezogen hat, gerät man erst recht in den Bereich der Hypothese. Aber auch hier lässt sich immerhin nachvollziehbar argumentieren:

Naturgemäß spielt die Person des entscheidenden Mannes, das heißt hier von Isaias Afwerki, eine Rolle. Wie vielfach bei langgedienten Diktatoren, sind seine Entscheidungen nicht mehr mit den Maßstäben der allgemeinen Vernunft zu messen. Nach solchen Maßstäben wäre es nicht zu rechtfertigen, dass ein Mann sein Volk in den wirtschaftlichen Ruin treibt, von den Opfern eines überflüssigen Krieges ganz zu schweigen. Aber Isaias gehört inzwischen zu den skurrilsten Gestalten in seinem Berufszweig und hat die höchste Stufe diktatorialer Selbstzentrierung erreicht. Diplomatischen Quellen zufolge hat er gesagt, Eritrea brauche weder ein Mehrparteiensystem noch eine Demokratie; denn er verkörpere den Willen des Volkes.

Aber auch in diesem System gibt es eine Logik, und in diesem Sinne sei die Hypothese fortgeführt. Nachdem Eritrea alle Vermittlungsversuche hatte auflaufen lassen, blieb Äthiopien kaum anderes übrig, als schließlich zu versuchen, die besetzten Gebiete zurückzuerobern. Diese Kämpfe begannen am 5. Februar, von Äthiopien als "Gegenangriff der Verteidigungskräfte" deklariert.

Aber eben diese Rückeroberung ist jedenfalls im ersten Zug nicht gelungen. Der Krieg erschöpft sich in wechselseitigem Töten und Verwunden, ohne dass sich in den Verhältnissen Wesentliches ändert. Gemessen am Erfolg sieht die Bilanz aber ganz anders aus. Eritrea verteidigt nur das zur Zeit von ihm gehaltene Territorium; ist also bereits erfolgreich, wenn Äthiopien dies nicht nimmt. Äthiopien will das Territorium zurückerobern; es ist also eine Niederlage, wenn ihm dies nicht gelingt.

Es wäre denkbar, dass eben dieses Szenario in der Absicht von Isaias Afwerki liegt. Das große Äthiopien beißt sich noch einmal die Zähne an dem kleinen Eritrea aus und steht am Ende gedemütigt da. Das ist im Rahmen des Normalen, auf Frieden oder doch wenigstens Abwesenheit von Krieg bedachten Denkens absurd. Im Referenzsystem eines abgehobenen Diktators braucht es das aber keineswegs zu sein.

Je mehr man sich mit Eritrea befasst, desto öfter fällt einem der Irak ein. In gewisser Weise ist Eritrea ein Mini-Irak. Ein Diktator hält seine Bevölkerung durch Informationsverweigerung und Propaganda unmündig und schart sie hinter sich, indem er behauptet, die ganze Welt habe sich gegen sie verschworen. Weitgehend gelingt ihm das auch. Dass in dieser Sache Eritrea der Aggressor ist, ist im öffentlichen Bewusstsein Eritreas überhaupt nicht vorhanden, und jeder Angriff spaltet die Menschen nicht vom Diktator ab, sondern schweißt sie mit ihm zusammen.
 

Die Sicht der Äthiopier
Für viele Menschen Äthiopiens ist der Krieg zugleich ein fast unbegreifliches Verhängnis und eine narzistische Kränkung.

"Es gab Kriege, die hatten Gründe; aber dieses Krieges müssen wir uns schämen", sagt ein alter Mitarbeiter der Orthodoxen Kirche. Ein Ingenieur, pensionierter Beamter im erstklassigen Anzug, der sich heute bei einer Autovermietung etwas dazuverdient: "Es ist furchtbar, wir Afrikaner schießen aufeinander, während Europa in Frieden und Wohlstand lebt." Andere meinen, man müsse Eritrea endlich stoppen. Auf die Frage, ob es denn so wichtig sei, um ein relativ kleines Gebiet zu kämpfen: "Ja, das ist wichtig. Also: die eritreische Regierung hat mit ihren Nachbarländern immer gekämpft; die hatten immer mit dem Sudan Probleme gehabt, mit dem Jemen und mit Djibouti. Wenn wir dieses Stück ihnen überlassen, kann es nach bestimmter Zeit sein, dass sie dann noch mehr Gebiete haben möchten."

Ein Äthiopier, der lange in Deutschland gelebt hat, bringt Trauer und Kränkung zusammen: "Ja, der Krieg ist ein Scheißding; die Leute in Äthiopien fühlen sich geteilt: mal traurig, mal aggressiv: weil sie gegenüber Eritrea alles getan haben, was getan werden konnte". Ganz ähnlich spricht der Patriarch im Interview: Äthiopien sei Eritrea gegenüber bei der Abtrennung sehr gütig, "kind", gewesen; denn ohne die Zustimmung Äthiopiens hätte es kein Referendum und keine Unabhängigkeit Eritreas geben können. Nun fühlt man sich ins Gesicht geschlagen, in seiner Ehre verletzt. Wie aber soll die Ehre wiederhergestellt werden in einem Krieg, der irgendwo an der 800 km langen Grenze hin- und herwogt, militärisch aber von keiner Seite gewonnen werden kann?

Die staatliche Propaganda Äthiopiens beruft sich nicht ohne Grund auf die große Geschichte des Landes. Das Fernsehen bringt Ausschnitte von Aufführungen historischer Stücke im Nationaltheater. Ein Feature zeigt Tewodros, Yohannes IV. und Menelik II., die großen Kaiser, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das äthiopische Reich neu gegründet und gegen alle Versuche der Kolonisierung verteidigt haben.

Natürlich ist das Propaganda; aber eine Propaganda, die sich auf die Geschichte berufen kann. Äthiopiens historische Wurzeln reichen zweitausend Jahre zurück und somit ist das Land einer der ältesten Staaten der Welt. Die Legende, und an die glauben auch heute noch viele Äthiopier, führt den Staat dreitausend Jahre weit zurück, nämlich auf Menelik I., den sagenhaften Sohn Salomons und der Königin von Saba. Diese Legende schwebt nicht einfach herum; sie steht in einem greifbaren Buch, dem Kebra Negast, dem Buch von der Größe der Könige. Dieses ist, um ihm noch mehr Dignität zu geben, als Beschluss des Konzils von Nicäa im Jahre 325 stilisiert.
 

Dagegen ist Eritrea ein Parvenü; ein 1890 durch italienische Kolonialeroberung abgebrochener Splitter, der sich nun aus dem Erfolg eines fast 30jährigen Krieges definiert.

Für viele Äthiopier war die Abtrennung Eritreas so etwas wie die deutsche Teilung vor 50 Jahren: ein Schmerz, den man hinnehmen musste, weil man einen Krieg verloren hatte. Oder genauer: einen Krieg, den die Zentralregierung gegen die gemeinsamen Truppen der Eritreer und der Tigre-Aufstandsbewegung verloren hatte, die nun in Addis die Macht übernommen haben. Die beiden Sieger, Isayas Afwerki aus Eritrea, und der Tigre Meles Zenawi erklommen die Herrscherstühle in Asmara und Addis Abeba. Den Völkern verordneten sie eine eher künstliche Freundschaft. Das macht den Zorn gegen die eritreische Aggression noch bitterer.
 

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Krisen und Kriege
Helmut Falkenstörfer ist Journalist und langjähriger Kenner der Verhältnisse am Horn von Afrika.