Buchbesprechung

Alles Gandhi – oder was?

von Christine Schweitzer
Hintergrund
Hintergrund

Am 2. Oktober 2019 jährte sich der Geburtstag von Mohandas K. Gandhi, oft ehrfurchtsvoll „Mahatma“ (der Große) genannt, zum 150. Male. Anlass für mehrere neue Bücher über Gandhi. Drei von ihnen sollen hier vorgestellt werden.

Es mangelt nicht an Publikationen von und über Gandhi. Gandhi war kein Wissenschaftler oder Theoretiker. Er benutzte in erster Linie das Medium der Zeitungen, um seine AnhängerInnen und die breite Öffentlichkeit zu erreichen. Entsprechend zeitgebunden und vielleicht manchmal auch taktisch war, was er schrieb. Und damit gab er reichlich Futter dem, was man heute nur als Gandhi-Exegese bezeichnen kann. AnhängerInnen wie KritikerInnen greifen dabei auf Schriften von ihm zurück, um ihre jeweiligen Thesen zu bestätigen oder das zu widerlegen, was andere schreiben.

Gandhi – ein Anarchist einer anderen Art
Von Lou Marin und Horst Blume, zwei der gewaltfrei-anarchistischen „Graswurzelrevolution“ verbundenen Autoren, erschien 2019 das Buch „Gandhi. ‘Ich selbst bin Anarchist, aber von einer anderen Art‘“. Gandhi machte diese Äußerung bei der Einweihung der Hindu-Universität von Benares 1916. Mit dem Ausdruck „der anderen Art“ wollte er sich von dem abgrenzen, wie Anarchisten in dieser Zeit gewöhnlich wahrgenommen worden: Als Bombenleger, die eine herrschaftslose Gesellschaft herbeibomben wollten. Die beiden Autoren haben Gandhis Schriften darauf durchgeforstet, wo er sich staats- und herrschaftskritisch äußerte, und dokumentieren einiger dieser Schriften. Hierbei wird deutlich, dass Gandhis Gesellschaftsmodell das eines agrarisch geprägten multikulturellen und multireligiösen Zusammenlebens ohne Militär und mit wenig Zentralregierung war.
Daneben setzen sich die Autoren auch mit den heutigen Vorwürfen auseinander, Gandhi sei ein Rassist und ein Verteidiger des Kastensystems gewesen, wie es ihm z.B. Arundhati Roy vorhält. In ihren Augen sind diese Vorwürfe haltlos, wenn Gandhis Leben als Ganzes betrachtet wird. Sie zeigen anhand von Textzitaten, wie sich Gandhis Positionen entwickelten und radikalisierten: bereits ab 1908 in Südafrika im Kollektiv mit jüdischen gewaltfreien AktivistInnen, ganz besonders aber während der drei Jahrzehnte des anti-kolonialen Kampfes in Indien.

Gandhi der Organisator
Dieses englischsprachige Buch des englischen, den War Resisters‘ International verbundenen Pazifisten Bob Overy beruht auf einer unpublizierten Dissertation des Autors von 1982, wurde vom Autor aber aktualisiert. Anhand von sieben Fallstudien aus den Jahren 1915 bis 1922 – den Jahren nach der Rückkehr Gandhis aus Südafrika nach Indien – beschreibt der Autor detailliert, wie es Gandhi gelang, gewaltfreie Kampagnen erfolgreich zu organisieren. Gandhi begann dabei mit eher lokalen, begrenzten Kampagnen, bis er schließlich anfing, indienweite große Kampagnen zu organisieren. Doch auf nationaler Ebene gelang es Gandhi nicht, auf Anhieb die politische Elite und die breite Masse von seinem Ansatz des gewaltfreien Widerstands zu überzeugen. Deshalb begann er, konstruktive Mittel einzusetzen und die Bedeutung des zivilen Ungehorsams zurückzuschrauben. Besonders wichtig in der Frühzeit war die Herstellung einheimischer Kleidung als Symbol für die Selbstbehauptung Indiens und die Ablehnung der englischen Fremdherrschaft.
Der Autor möchte mit seinem Buch auch erreichen, eine Brücke zu schlagen zwischen zwei Interpretationen der Bedeutung Gandhis –eine, die sich auf seine Verbreitung von Gewaltfreiheit als “Lebensweise“ konzentriert, die andere, die ihn als Strategen der gewaltfreien Aktion sieht, d.h. dem Einsatz von Gewaltfreiheit als „Konflikttechnik".

Gandhis politische Ethik
Auch bei diesem Buch handelt es sich um eine ältere Schrift, die das erste Mal umfassend in deutscher Sprache erscheint. Die bekannten Friedensforscher Johan Galtung und Arne Næss hatten 1955 aus Gandhis Schriften 25 sog. Satyagraha-Normen destilliert. (1) Es handelt sich um Regeln für den unbewaffneten Kampf. Die Regeln selbst sind schon früher ins Deutsche übersetzt und u.a. von Andreas Buro der deutschen Friedensbewegung zugänglich gemacht worden, aber der Gesamttext ist nie übersetzt worden. Die deutsche Ausgabe von Reiner Steinweg bietet die zentralen Kapitel des Buches von 1955 und gibt einen Überblick über das Gesamtwerk.

Alle drei Bücher können uneingeschränkt empfohlen werden. Sie geben einen Einblick, der nicht nur das ‚Phänomen Gandhi‘ einem besseren Verständnis zuführt, sondern enthalten zahlreiche Hinweise, die auch für gewaltfreie Kampagnen heute wesentlich sind.

Lou Marin, Horst Blume (2019): Gandhi. "Ich selbst bin Anarchist, aber von einer anderen Art", Heidelberg: Verlag Graswurzelrevolution, 140 Seiten, ISBN: 978-3-939045-38-0, 13,90 Euro
Bob Overy (2019): Gandhi the Organiser. How he shaped a nationwide rebellion: India 1915-1922, Ed: Irene Publishing, 436 Seiten, ISBN 9789188061324, 22,09 Euro
Johan Galtung, Arne Næss (2019): Gandhis politische Ethik. Herausgegeben von Dr. Reiner Steinweg. Nomos, 2019, 188 S., Klappenbroschur, ISBN 978-3-8487-6050-3, 34 Euro

Anmerkung
1 Wem das Buch zu teuer ist oder wer sich erstmal informieren möchte, worum es bei den Regeln geht: Eine Zusammenfassung der Normen findet sich hier: https://www.buergergesellschaft.de/praxishilfen/konfliktloesung/hintergr.... Aber wer es kann, sollte in das Buch investieren, denn sonst verpasst sie oder er die Einordnung dieser Normen in die heutige Situation, wie sie von dem Herausgeber Reiner Steinweg vorgenommen wurde.

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Christine Schweitzer ist Co-Geschäftsführerin beim Bund für Soziale Verteidigung und Redakteurin des Friedensforums.