Alles, nur keinen neuen Verein!

von Peter Strutynski

Sowohl anlässlich der Vor- und Nachbereitung der bundesweiten Demonstrationen in Berlin und Stuttgart am 13. Oktober 2001 (an beiden Orten damals immerhin rund 80.000 Teilnehmer/innen), der bundesweiten Demonstration in Berlin im Vorfeld des Bush-Besuchs (100.000 Teilnehmer/innen am 21. Mai) und des dezentralen, aber bundesweit abgesprochenen Bush-Trommelns (am 22. Mai 2002) tauchten Stimmen in der Friedensbewegung auf, die meinten, es müsse so etwas wie eine Gesamtvertretung der Friedensbewegung, ein Dachverband oder eben ein fester Zusammenschluss aller wesentlichen Spektren, Milieus usw. der Friedensbewegung geschaffen werden. Ein Gremium, das sich nicht nur von Fall zu Fall zusammenfindet, wenn es um die Vorbereitung großer gemeinsamer Aktionen geht, sondern das sich kontinuierlich über analytische Fragen und strategische Orientierungen der Bewegung austauscht und nach außen "mit einer Stimme spricht". Einige Vertreter/innen bundesweiter Friedensorganisationen haben in der Zwischenzeit aus diesem Bedürfnis heraus eine neue "Kooperation für den Frieden" gegründet. Der Bundesausschuss Friedensratschlag hat sich dieser "Kooperation" bisher nicht angeschlossen. Warum?

Der erste Grund ist rein praktischer Natur: Es ist für einen Zusammenschluss wie den Friedensratschlag, der sich ausschließlich auf die Mitarbeit von Basisfriedensinitiativen und ehrenamtlichen Friedensaktivisten stützt, außerordentlich schwer, zusätzlich zu den ohnehin belastenden Koordinierungstreffen (der Bundesausschuss war bei allen drei genannten Großaktionen aktiv beteiligt) noch Personen und Zeit für eine zusätzliche Gremien-Ebene bereitzustellen. Friedensarbeit erfordert auch so schon ungeheuer viel Engagement in der Freizeit und entsprechende Abstriche an persönlichen oder familiären Aktivitäten. Und es wäre fatal, wenn bestimmte Bereiche der Friedensarbeit zu einer quasi exklusiven Domäne hauptamtlicher Funktionäre würden. Damit soll nichts gegen hauptamtliche Friedensfunktionäre oder gegen Organisationen gesagt werden, die sich solche Funktionäre halten können. Ich wünschte, der Friedensratschlag wäre auch in der Lage, eine hauptamtliche Kraft zu finanzieren. (Insofern baut Kathrin Vogler in ihrem Beitrag, in dem sie eine "unredliche Diffamierungskampagne" gegen "FunktionärInnen" am Werk sieht, einen Popanz auf.) Der Punkt ist vielmehr, dass die politischen Entscheidungsprozesse von den "Ehrenamtlichen" (wenig Ehre, kein Amt!) getragen werden müssen, denn sie sind es, die eine Bewegung ausmachen.

Der zweite Grund für die Zurückhaltung des Bundesausschusses in Sachen "Vereinsgründung" beruht auf einer Wahrnehmung, die dem subjektiven Empfinden der "Kooperationswilligen" diametral entgegengesetzt ist. Das, was von ihnen als besonders bedrückendes Defizit beschrieben wird, der Mangel an kontinuierlicher strategischer Diskussion nämlich, davon, so behaupte ich, gibt es in der Friedensbewegung reichlich. Jede bundesweite Friedensorganisation, die etwas auf sich hält, veranstaltet regelmäßig oder zumindest sporadisch friedenspolitische Kongresse oder Tagungen, auf denen welt-, kriegs-, rüstungs- und friedenspolitische Fragen diskutiert werden. Viele dieser Organisationen verfügen auch über entsprechende Kommunikationsorgane (Zeitungen, Schriftenreihen), mittels derer theoretische Fragen transportiert werden. Regionale Friedensbündnisse oder Netzwerke beraten sich in gewissen Abständen über ihre gemeinsamen Arbeitsschwerpunkte; da geht es auch inhaltlich zur Sache! Daneben gibt es eine Fülle von professionellen Tagungsangeboten (an Hochschulen, Evangelischen Akademien usw.), die nachweislich von vielen Friedensaktivisten zu spezifischen politischen Weiterbildungszwecken genutzt werden. Und nicht zuletzt sei auch an die jährlichen "Friedenspolitischen Ratschläge" in Kassel erinnert, die in konzentrierter Form friedenswissenschaftliche Analysen und aktuelle friedenspolitische Orientierungen zur Diskussion stellen.

Unstrittig dürfte sein, dass die Einheitlichkeit einer Bewegung umso größer ist, je "minimaler" das gemeinsame Ziel ist. Die breite Bewegung gegen den Irakkrieg als dem gemeinsamen Nenner ist ein gutes Beispiel hierfür. Je mehr Komplexität und Differenziertheit der Argumentation zunehmen (was bei der Formulierung von über eine Antikriegshaltung hinaus gehenden positiven Vorstellungen eines nachhaltigen Friedens unvermeidbar ist), desto weniger kann diese Aufgabe von einem breiten Bündnis unterschiedlichster sozialer und politischer Bewegungen bzw. Organisationen erfüllt werden. Gerade die Ausarbeitung weiter reichender friedens- und gesellschaftspolitischer Ziele gehört in die "Zuständigkeit" der jeweiligen Organisationen und Vereinigungen der Friedensbewegung (einschließlich ihr verbundener Bewegungen anderen Zuschnitts). Sicherzustellen ist allerdings ein lebendiger Austausch dieser verschiedenen Ansätze durch Seminare, Kongresse, "Ratschläge" sowie durch Veröffentlichungen in den diversen Publikationsorganen. Aus diesem Diskussionsprozess wird sich im Laufe der Zeit möglicherweise eine immer größere Schnittmenge gemeinsamer Überzeugungen und politischer Orientierungen ergeben. "Vereinheitlichung" also von unten und als Prozess, nicht von oben und in einem - letztlich statischem - Gremium!

So wie man zur Theorie- und Strategiebildung der Friedensbewegung heutzutage immer weniger eines (neuen) zentralen (Koordinierungs-)Gremiums bedarf, ist die aktions- oder kampagnenbezogene Koordinierung der Friedensbewegung (oder einzelner ihrer Teile) weiterhin dringend notwendig. Zum Bush-Besuch im Mai 2002 hatte sich relativ unkompliziert ein bundesweiter Aktionskreis ("Achse des Friedens") gebildet, der knapp zwei Monate lang aktiv war. Ähnlich verhielt es sich mit der Vorbereitung zum 15. Februar 2003. In beiden Fällen erwies es sich als notwendig, ein breites gesellschaftspolitisches Bündnis herzustellen, das weit über die Friedensbewegung (im engeren Sinn) hinaus ging. Solche Bündnisse werden künftig übrigens auch dann nötig sein - und entsprechende zusätzliche Aktivitäten der Friedensbewegung verlangen -, wenn es das neue Übergremium der Friedensbewegung (etwa im Sinne der "Kooperation für den Frieden") gibt. Und was Kathrin Vogler in ihrem Beitrag als besonderen Gewinn der "Kooperation" herausstellt, dass nämlich über die "Verteiler der 33 Mitgliedsgruppen ... schätzungsweise 100.000 unmittelbar angesprochen" werden könnten, ist etwas, was doch auch schon ohne diesen neuen Verein bestens funktioniert.

Ein verblüffendes Argument der Befürworter einer neuen "Zentrale" der Friedensbewegung wurde mir während einer Podiumsdiskussion der Petra-Kelly-Stiftung im Februar 2003 (die Tagung fand parallel zur Münchner Sicherheitskonferenz statt) von einem Mitdiskutanten präsentiert: Wenn die Friedensbewegung "mit einer Stimme" sprechen würde, hätte sie endlich auch eine Chance in die großen Talkshows (z.B. Sabine Christiansen) eingeladen zu werden. Dazu fielen mir damals und fallen mir auch heute nur zwei Antworten ein: Erstens wäre es grundsätzlich falsch, wenn die Friedensbewegung ihre Organisation nach den Wünschen der Medien, und nicht nach den Bedürfnissen der Bewegungsakteure ausrichten würde. Und zweitens dürfte der Zutritt der Friedensbewegung zu bisher nur schwer zugänglichen Medien/Sendungen weniger von ihrer "Einheitlichkeit" abhängen, sondern viel mehr mit ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz und "Schlagkraft" zu tun haben. Man mag es bedauern, aber es wird in absehbarer Zeit so bleiben, dass die Medienberichterstattung über die Friedensbewegung unmittelbar an ihre Mobilisierungsfähigkeit gekoppelt ist. Für einen Bundestagsabgeordneten ist es völlig ausreichend, wenn er (oder sie) von seinem Büro aus seine täglichen Presseaussendungen absondert; sie werden gedruckt - zumindest von den Regionalteilen der Zeitungen, bei arrivierteren Abgeordneten auch von den überregionalen Zeitungen. Die Friedensbewegung muss hinter jede Meinungsäußerung das Gewicht einer mittelgroßen Demonstration oder einer sonstwie spektakulären Aktion setzen, damit sich die Medien ihrer annehmen. Diese strukturelle Ungleichheit gehört zu den Funktionsmechanismen der modernen, den Marktgesetzen gehorchenden Mediengesellschaft.

Auch mit einem anderen "Argument" kann ich mich nur schwer anfreunden: Die neue "Kooperation" der Friedensbewegung könnte, da sie die strategischen Orientierungen und die jeweils nächsten praktischen Schritte vorausdenkt, der gesamten Friedensbewegung rechtzeitig den "richtigen" Weg weisen. Auch dieses Argument verkennt den Eigensinn und die Autonomie der vielgestaltigen Friedensbewegung. Autorität vermittelt sich in der Friedensbewegung nicht durch Gremien, Vorsitzende, Sprecher oder prominente Einzelkämpfer, sondern durch die Überzeugungskraft von Argumenten und Vorschlägen. Die Erfahrung mit dem "Friedensratschlagsprozess" zeigt, dass die Akteure der lokalen Basisinitiativen (die übrigens in der Konstruktion der "Kooperation für den Frieden" überhaupt nicht vorkommen, da dort vor allem die "Großorganisationen" der Friedensbewegung vertreten sein sollen) sehr wohl in der Lage sind, sich ihre eigenen strategischen Gedanken zu machen und auf Angebote anderer (auch die "Ratschläge" des Friedensratschlags sind ja nur Angebote) sehr differenziert reagieren. Ob bundesweite gemeinsame Kampagnen oder Aktionen, welche wirklich "die Massen zu ergreifen" vermögen, in der Luft liegen, spüren am ehesten die aktiven Friedensinitiativen vor Ort.

Ein letztes Argument sei noch erwähnt. Es wurde im Rahmen einer Diskussion auf dem IPPNW-Kongress "Kultur des Friedens" Anfang Mai 2003 in Berlin von einem Teilnehmer vorgebracht: Der miserable organisatorische Zustand der Friedensbewegung zeige sich u.a. darin, dass sie nicht einmal über ein gemeinsames Mitteilungsblatt verfüge. Die Beobachtung ist richtig. Es gibt nicht ein Mitteilungsblatt, sondern mindestens ein paar Dutzend. Aber was ist daran so schlimm? Sind wir denn nicht in der Lage, aus einer Vielfalt von Informationen das für uns Interessante oder Wichtige herauszufiltern? Ein gemeinsames Mitteilungsblatt, herausgegeben von einer neuen Zentrale der Friedensbewegung, würde doch die bereits vorhandenen Informationsmöglichkeiten nicht ersetzen, sondern bedeutete zunächst nur ein weiteres Angebot im Friedensblätterwald. Oder sollen die bestehenden Zeitungen und Infobriefe ihr Erscheinen einstellen? Das kann ernsthaft niemand wollen, weil sonst gerade das beschädigt würde, was das Wesen der Friedensbewegung ausmacht: ihre Vielfalt.

Diese Vielfalt wird auch künftig dazu beitragen, dass die Friedensbewegung auch in Zeiten abflauender Massenaktivitäten (die "Mühen der Ebene") eine größere Palette unterschiedlicher friedenspolitischer Projekte und Kampagnen bewältigt. Der Bundesausschuss Friedensratschlag hat vor kurzem "Acht Schwerpunkte für die Friedensarbeit" verabschiedet, die im wesentlichen den Diskussionsstand in den verschiedenen Friedensbewegungen wiedergeben. Sie tragen den Titel "Alternativen zur weltweiten Kriegspolitik" und befassen sich u.a. mit den völkerrechtlichen Aspekten des Irakkriegs, mit dem Nahostkonflikt, dem Zusammenhang von Aufrüstung und Sozialabbau, der "neuen" Bundeswehr, der Entwicklung der EU, der Beseitigung von Massenvernichtungswaffen und der "neoliberalen Globalisierung". Vorgeschlagen werden beispielsweise:

 
      ein Irak-Tribunal, in dem die Öffentlichkeit an Stelle der Vereinten Nationen Völkerrechtsbruch und Kriegsverbrechen anklagt,
 
 
      Initiativen für einen gerechten Frieden im Nahen Osten,  
      eine Kampagne gegen weiteren Sozialabbau und für drastische Abrüstungsschritte,
 
 
      Widerstand gegen die grundgesetzwidrige Umwandlung der Bundeswehr in eine "Armee im Einsatz",
 
 
      Beeinflussung des europäischen Einigungsprozess in Richtung eines zivilen "Europas des Friedens",  
      die Ersetzung der von den USA entwickelten "Präventivkriegs-Doktrin" durch eine nicht-militärische zivile Prävention,
 
 
      eine Kampagne zur Aufspürung und Ächtung von Massenvernichtungswaffen durch symbolische Waffeninspektionen,  
      die verstärkte Zusammenarbeit zwischen Friedensbewegung und anderen sozialen, globalisierungskritischen Bewegungen.
 
 
    Zu diesen Themen und Aufgaben werden sich aller Erfahrung nach verschiedene Bündnisse der Friedensbewegung herauskristallisieren - je nach Interesse und politischer Schwerpunktsetzung der jeweiligen Organisationen/Initiativen. Welcher der genannten Problembereiche sich wieder zu einem nationalen "Megathema" entwickeln wird, lässt sich im Augenblick sehr schwer sagen. Einige Gründe sprechen dafür, den Zusammenhang von Aufrüstung, Militarisierung und Krieg auf der einen Seite, Sozialabbau, Arbeitslosigkeit und öffentliche Armut auf der anderen Seite ins Zentrum der Überlegungen der Friedensbewegung zu rücken. Die während des Kampfes gegen den Irakkrieg vielfach geknüpften Bande zwischen Friedens- und Gewerkschaftsbewegung, zwischen Friedensbewegung und Attac könnten auf diese Weise verstärkt werden.

Kurzum: Was die Friedensbewegung zur Zeit am wenigsten braucht, ist eine Organisationsdebatte und ein neues "Gremium". Nötig sind vielmehr eine intensive Informations- und Aufklärungsarbeit vor Ort, die Diskussion mit jungen Menschen, die sich so beispielhaft gegen den Krieg engagiert haben, und die Fortsetzung der Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen "Großgruppen" wie den Gewerkschaften. Für bestimmte Kampagnen oder Projekte werden sich unterschiedlich zusammengesetzte bundesweite Koalitionen bilden. Falls absehbar und erforderlich, wird sich beim nächsten "Großereignis" wieder eine breites gesellschaftlichen Bündnis konstituieren.

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Peter Strutynski, AG Friedensforschung, Kassel, ist Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag.