Transitional Justice und Friedensförderung

Alter Wein in neuen Schläuchen?

von Natascha Zupan

Ob Elfenbeinküste und Osttimor, Sierra Leone, Burundi, Peru und Nepal, oder Tunesien und Libyen: Kaum ein Übergang von Krieg und autoritärer Herrschaft der letzten Dekade kam ohne „Transitional Justice“ Maßnahmen aus. Sie sind heute integraler Bestandteil von international geförderten Friedens- und Demokratisierungsprozessen. Was verbirgt sich hinter dem Begriff „Transitional Justice“ und welche Herausforderungen bestehen in der Praxis? Diesen Fragen geht der Artikel nach.

 „Transitional Justice“ ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Zwar wurde das Konzept erst zur Jahrtausendwende populär, junge Demokratien haben aber schon sehr viel früher Maßnahmen ergriffen, um in der Phase des Übergangs Verbrechen repressiver Vorgängerregime aufzuarbeiten und zu ahnden. Schwere Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen wurden strafrechtlich verfolgt, wie etwa durch den Nürnberger Gerichtshof, staatliche Funktionsträger durch Lustration ihrer Ämter enthoben, Opfer materiell wie symbolisch entschädigt, und Anfang der 80er Jahre wurden erste Wahrheitskommissionen in Chile und Argentinien etabliert.

Bei aller historischen Erfahrung war allerdings die Idee neu, diese juristischen wie nicht-juristischen Maßnahmen im Bewusstsein ihrer wechselseitigen Wirkung auf – und Bedeutung für - politische Reformprozesse zu einem Paket zusammenzuschnüren. Neu war auch die Vorstellung, das Maßnahmenpaket in einer zeitlich begrenzten Transitionsphase umzusetzen, um so im Entstehen begriffene demokratische Institutionen zu konsolidieren und erneuten Menschenrechtsverletzungen vorzubeugen.

Für VertreterInnen des „Transitional Justice“ Konzeptes sind Gerechtigkeit, im Sinne einer strafrechtlichen Rechenschaft, Rechtstaatlichkeit und Demokratie sowie die Aufarbeitung und öffentliche Anerkennung vergangenen Unrechts vorrangige Ziele. Die Neugestaltung gesellschaftlicher Beziehungen auf Basis grundlegender Werte wie Menschenwürde und Gewaltfreiheit bleibt diesen Zielen nachgeordnet, obwohl in der Forschung und in der Praxis, wie etwa dem Mandat des Internationalen Strafgerichtshofs für Jugoslawien, immer wieder auf Versöhnung oder Vertrauensaufbau zwischen staatlichen Institutionen und Bevölkerung verwiesen wird. Hier verläuft eine schmale Trennlinie zwischen „Transitional Justice“ und „Versöhnung“ bzw. „Versöhnungsarbeit“, auch wenn beide Konzepte - folgt man der Definition von Lederach – eng miteinander verbunden sind. Ähnliches gilt für „Transitional Justice“ und „Erinnerungspolitik“, die – konstruktiv und friedensfördernd verstanden - erst Jahre nach Ende eines Gewaltkonfliktes einsetzt. „Erinnerungspolitik“ zählte nie zum Kern des Maßnahmenpaketes und erst in jüngster Zeit öffnet sich der von JuristInnen und PolitologInnen dominierte Transitional Justice Kreis erinnerungs- und bildungspolitischen Aktivitäten, wie etwa Historikerkommissionen, museumspädagogischen Maßnahmen, Erinnerungsorten für Opfer oder Geschichtscurricula.

Transitional Justice und Friedensförderung
Diese konzeptionellen Unterschiede, welche nicht zuletzt mit der Komplexität und Langfristigkeit von Vergangenheitsarbeitsprozessen zusammenhängen, geben erste Hinweise auf Herausforderungen, mit denen die heutige Praxis von „Transitional Justice“ im Rahmen von international geförderten Friedensprozessen konfrontiert ist.

So ist es noch in keinem Fall gelungen, die unterschiedlichen Maßnahmen in einem begrenzten Zeitraum umzusetzen. Meist dauert es Jahrzehnte, bis eine Kultur und Politik des Schweigens und der Straflosigkeit durch eine verantwortungsbewusste Erinnerungspolitik, Strafverfolgung und Opferentschädigung abgelöst wird. Interessen alter politischer Eliten und Funktionsträger und/oder schwache, durch den Gewaltkonflikt fragmentierte (zivil)gesellschaftliche Strukturen ohne effektive Druckmittel verhindern frühzeitige und umfassende Maßnahmen. Deutschland bildet hier keine Ausnahme.

Darüber hinaus werden politische und gesellschaftliche Aufarbeitungsprozesse seit Beginn dieses Jahrtausends nicht mehr überwiegend von nationalen Akteuren getragen, sondern stark von internationalen Akteuren mitbestimmt. Dies schwächt nicht nur die Legitimität und Nachhaltigkeit solcher Prozesse in den betroffenen Gesellschaften. Vielmehr werden von außen hohe, in einem begrenzten Zeitraum kaum zu erfüllende Anforderungen an Nachkriegsgesellschaften herangetragen.

Theorie und Praxis
Auch die im „Transitional Justice“ Konzept theoretisch existierende Maßnahmenvielfalt reduziert sich in der Praxis deutlich. International genießen Wahrheitskommissionen und Strafverfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof bzw. ad hoc-Tribunale, wie sie für Ruanda, Jugoslawien, Sierra Leone, Kambodscha und den Libanon eingerichtet wurden, erste Priorität. Dabei bergen beide Mechanismen viele Probleme und Dilemmata: Im Kontext innerstaatlicher, ethnopolitischer Konflikte und generalisierter Gewaltanwendung greifen formaljuristische Prozesse nur sehr bedingt und werden von einer Bevölkerungsgruppe meist als „Siegerjustiz“ wahrgenommen. Dies behindert die Auseinandersetzung mit der eigenen Verantwortung. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass sich die Strafverfolgung stark auf mutmaßliche TäterInnen konzentriert und dabei die Opfer von Krieg und Verbrechen all zu häufig aus dem Blick geraten. Während große Summen in internationale Gerichtshöfe fließen oder in die Demobilisierung von ehemaligen KombattantInnen, bleiben Entschädigungszahlungen und Reparationsprogramme für Opfergruppen immer noch die Ausnahme. Nationale Wahrheitskommissionen wiederum können in stark fragmentierten Gesellschaften die unterschiedlichen Narrative und "Wahrheiten" über die gewaltträchtige Vergangenheit kaum überwinden, Operidentitäten manifestieren und zu einer Hierarchisierung von Opfergruppen führen.

Trotz der hohen Aufmerksamkeit, die „Transitional Justice“ im Rahmen von Friedensförderungsprozessen erhält, haben nur wenige internationale Organisationen, bilaterale Geber und zivilgesellschaftliche Organisationen Konzepte, längerfristige Förderstrategien und Partnerschaften in diesem Bereich entwickelt. Dies führt dazu, dass angestoßene Prozesse nicht weiterverfolgt werden, beispielsweise die Umsetzung von Empfehlungen von Wahrheitskommissionen, Schnittstellen zu anderen Programmen, etwa im Bildungs- oder Gesundheitsbereich, nicht genutzt werden oder wichtige Akteure – insbesondere Opfergruppen – wenig Gehör finden.

Kontextverschiebung
Eine besondere Herausforderung für die Umsetzungspraxis ist die in den letzten Jahren vollzogene „Kontextverschiebung“: Während „Transitional Justice“ Maßnahmen, von Ausnahmen abgesehen, in der Vergangenheit in Kontexten begrenzter Gewaltanwendung und/oder starker (europäisch-christlich geprägter) Staatlichkeit umgesetzt wurden, finden sie zunehmend Anwendung in Ländern, die nicht nur von lange andauernder Gewalt, Armut sowie schwachen staatlichen Institutionen geprägt sind, sondern auch andere Werte und sozio-kulturelle Strukturen aufweisen. Hier greift das bisherige Konzept von Gerechtigkeit und Rechtssicherheit zu kurz, denn es fokussiert auf den Schutz politischer Menschenrechte und die Ahndung von Kriegsverbrechen, während die tiefer liegenden Gründe für Gewalt weitgehend ausgeklammert bleiben.

Diese Tatsache wirft zahlreiche Fragen für die Entwicklung, Umsetzung und nachhaltige gesellschaftspolitische Wirkung von „Transitional Justice“ Maßnahmen auf: Welche strukturellen und normativen Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit diese Maßnahmen ihre angestrebte positive Wirkung auf einen gesellschaftlichen Veränderungsprozess entfalten können? Und: Wie müssten einzelne – oder miteinander kombinierte – „Transitional Justice“ Maßnahmen gestaltet sein, um angesichts meist tief verwurzelter sozialer und politischer Ungleichheit und umfassender Gewaltanwendung nicht nur den „Blick zurück“ auf Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen zu werfen, sondern auch einen Grundstein für bessere Lebensbedingungen und mehr Chancengleicheit zu legen?

Die Erfahrungen der letzten Jahre haben dazu geführt, dass die bestehende Praxis zunehmend kritisch hinterfragt wird und weitere kontextspezifische Anpassungen von „Transitional Justice“ Maßnahmen gefordert werden. Orientiert an der Unteilbarkeit der Menschenrechte und den von Rama Mani entwickelten unterschiedlichen Dimensionen von Gerechtigkeit – rectificatory, legal und redistributive justice -, die es in Nachkonfliktgesellschaften gleichermaßen zu berücksichtigen gilt, beziehen sich diese Forderungen insbesondere auf zwei Aspekte: 1. Eine stärkere Integration von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten in die Mandate von Wahrheitskommissionen und Tribunalen, sowie 2. Eine stärkere Abstimmung und Zusammenführung von Arbeitsansätzen, Erfahrungen und Kompetenzen aus dem Bereich der Entwicklungszusammenarbeit, der Friedensförderung und „Transitional Justice“.

Der Weg dort hin ist jedoch noch weit. Er erfordert von internationalen Akteuren nicht nur eine stärkere, selbstkritische Reflexion der eigenen Erfahrungen mit gewaltträchtiger Vergangenheit, sondern auch eine deutlich konzeptionellere Ausrichtung der Arbeit, die der Langfristigkeit von Vergangenheitsarbeitsprozessen, den Kontexten, den unterschiedlichen Dimensionen von Gerechtigkeit – und nicht zuletzt den unterschiedlichen Maßnahmen von „Transitional Justice“ - Rechnung trägt.

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Natascha Zupan arbeitete für friedens- und entwicklungspolitische Organisationen in der Schweiz, Ländern des ehemaligen Jugoslawiens und Palästina und ist seit 2004 Teamleiterin der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung(www.frient.de).