Antimilitarismus in Russland

von Bernhard Clasen
Hintergrund
Hintergrund

"Dienst am Frieden - Ja!
Bausoldaten für Generalsdatschen - Nein!"

ARA - Die Antimilitaristische Radikale Assoziation

Am 25. Januar 1996 wird Vadim Hesse zu Hause, in einem Dorf nicht weit von Moskau, von der Miliz verhaftet. Sein Vergehen: der 18-jährige hatte sich an seine Wehrbehörde gewandt und unter Berufung auf die russische Verfassung darum gebeten, statt des Militärdienstes einen Zivildienst ableisten zu dürfen. Als er ungeachtet dessen trotzdem zur Armee einberufen wurde, erschien er nicht in der Kaserne. Kurz darauf wurde er verhaftet. Im Untersuchungsgefäng­nis von Noginsk wartet er nun auf sei­nen Prozess.

Der etwa gleichaltrige Soldat Dimitrij Vorobjov hat einen ähnlichen Prozess schon hinter sich. Als er im Januar 1995 erfuhr, daß seine Einheit in Tschetsche­nien eingesetzt werden solle, verließ er die Truppe. Obwohl er sich nach einiger Zeit wieder in der Kaserne gemeldet und mitgeteilt hatte, daß er sich nicht prinzipiell weigern würde, in der Armee zu dienen, allerdings nicht bereit wäre, in Tschetschenien zu kämpfen, machte man ihm den Prozess. Ende Januar 96 wurde er von einem Militärgericht zu einem anderthalbjährigen Dienst im Strafbataillon verurteilt (Das "Strafbataillon" ist nichts anderes als ein Knast für Soldaten).

Die hier geschilderten Vorgänge sind nur einige von sehr vielen, wohl in kei­ner Statistik erfassten. Die wenigsten be­kennen sich so offen zu ihrer Kriegs­dienstverweigerung wie die oben ge­schilderten Personen.

Die Antimilitaristische Radikale As­soziation (ARA)

Vor diesem Hintergrund hat sich am 13. Mai 1995 die "Antimilitaristische Radi­kale Assoziation" (ARA) gegründet, die den wachsenden Militarismus in der postsowjetischen Gesellschaft bekämp­fen will. Die noch recht kleine Vereini­gung hat mittlerweile Mitglieder in vielen Regionen Russlands, in Aserbaid­schan, Belgien, Georgien, Italien und der Ukraine. Als ihre Hauptaufgabe sieht sie den Kampf für die - von der Verfassung vorgesehene - Wehrdienst­verweigerung und eine Einführung des Zivildienstes an. Zusammen mit anderen Gruppen, wie dem "Komitee der Solda­tenmütter", brachte ARA über Abgeord­nete einen Gesetzentwurf zur Einfüh­rung des Rechtes auf Kriegsdienstver­weigerung im letzten russischen Parla­ment ein. Mit einer landesweiten Unter­schriftenaktion "Für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung - gegen Mi­litarismus" wurde dieser parlamentari­sche Antrag unterstützt. Auch wenn der Erfolg zahlenmäßig recht bescheiden gewesen ist - es kamen gerade mal 9000 Unterschriften zusammen - ist man doch stolz darüber, daß es über die Unter­schriftensammlung gelungen sei, eine Vernetzung der vielen kleinen antimili­taristischen Initiativen in ganz Russland zu erreichen.

Am 11. Juli 1995 treten neunzehn ARA-Mitglieder vor die Presse und erklären gemeinsam, daß sie den Kriegsdienst verweigern werden, weil sie an Gewalt­freiheit im Sinne von Gandhi glauben. Wenige Tage später erklären zehn wei­tere junge Männer öffentlich, daß sie den Kriegsdienst ebenfalls verweigern werden.

Am 6. Dezember 1995, eine Woche vor den Parlamentswahlen, ist der Ge­setzentwurf zur Kriegsdienstverweige­rung im Parlament in der zweiten Le­sung. ARA führt aus diesem Anlass zu­sammen mit anderen Gruppierungen, wie der Radikalen Partei, dem Komitee der Soldatenmütter, der "Antifaschistischen Jugendaktion" mit Plakaten wie: "Für die sofortige Einfüh­rung des Rechtes auf Kriegsdienstver­weigerung",  "Dienst am Frieden - Ja! Bausoldaten für Generalsdatschen - Nein!" vor der Staatsduma eine Mahn­wache durch. An dieser Aktion beteili­gen sich 50 Personen. Im Parlament selbst fand der Entwurf keine Mehrheit. Kommunisten und Schirinowski-Frak­tion und auch eine Mehrheit der regie­rungsnahen Abgeordneten stimmten da­gegen.

Eine Volksabstimmung zum Recht auf Kriegsdienstverweigerung?

Die Aktivisten von ARA geben sich keinen Illusionen hin: im neuen, am 17. Dezember 1995 gewählten, Parlament wird es noch schwerer sein, für einen Gesetzentwurf zum Recht auf Kriegs­dienstverweigerung eine Mehrheit zu finden. Der militärisch-industrielle Komplex ist dort wesentlich einflussreicher als im alten Parlament.

Da weder von Regierung noch Parla­mentsmehrheit die Einführung des Rechtes auf Kriegsdienstverweigerung zu erwarten sind, wird in ARA zur Zeit diskutiert, ob ein Referendum ein Aus­weg aus dieser Situation böte. Das Ge­setz schreibt zur Einleitung eines Volksbegehrens zwei Millionen Unter­schriften vor.

Im März findet ein Mitgliederkongress von ARA statt, auf dem über eine mög­liche Kampagne für eine Volksabstim­mung eine Entscheidung getroffen wer­den soll.

Bleibt nur zu hoffen, daß die russischen PazifistInnen nicht weiter von uns al­leine gelassen werden in ihrem Kampf.

Adresse ARA: ul. Trubnaja 25, str. 2, kv. 49, 103051 Moskau, Tel./Fax: 007/­095/9239127, E-mail: ara [at] glas [dot] apc [dot] org

Eine Mutter will die Wahrheit wissen

Nur einen Monat hatte der 18-jährige Andrej Sergatschkow in Lomonosow, einem Städtchen in der Nähe von St. Petersburg, bei der Marine seinen Wehrdienst abgeleistet. Am 2. Januar 96 fand man den Wehrpflichtigen, der erst Anfang Dezember 1995 eingezogen worden war, morgens in der Toilette - erhängt.

Wenig später erhält seine Mutter Si­naida ein Telegramm aus Lomonosow. Doch statt der erwarteten Neujahrswün­sche ihres Sohnes heißt es darin lapidar: "Ihr Sohn ist gestorben. Bitte teilen Sie mit, an welchem Ort Sie seine Beerdi­gung wünschen. Hochachtungsvoll - Hauptmann A. Menschojkin".

Sinaida Sergatschkowa, Mutter von drei Kindern, läßt alles stehen und liegen und fährt sofort nach Sankt Petersburg. In der Kaserne ihres Sohnes angekom­men, wird ihr von den Militärs mitge­teilt, daß ihr Sohn durch Erhängen ums Leben gekommen sei. "Selbstmord" sagt man ihr.

Sinaida Sergatschkowa glaubt die offi­zielle Version nicht. Woher, so fragt sie sich, kommen dann die Verletzungen an Rücken und Kopf?

Und so wird sie keine Ruhe geben, bis sie die Wahrheit erfahren hat. Mit Hilfe des "Komitees der Soldatenmütter von St. Petersburg" hofft sie, etwas mehr über das Schicksal ihres Sohnes heraus­zufinden.

Am 10. Januar 96 brachte sie ihren Sohn in einem Zinksarg (im Militärjargon "Ladung 200") in die Heimatstadt am Ural. Doch die Soldatenmütter von St. Petersburg wollen keine Ruhe geben und sich weiter um Aufklärung der tatsächlichen Todesursachen von Andrej Sergatschkow bemühen.

Quelle: Rundbrief des Moskauer Men­schenrechtszentrums (Herausgeber: Sergej Smirnow) (bitte auch bei Kür­zungen diese Quellenangabe nicht strei­chen, BC)

Vadim Hesse freigelassen.

Am 15. März teilt die Antimilitari­stische Radikale Aktion (ARA) und die "Bewegung gegen Gewalt" die Freilassung des Pazifisten Vadim Hesse aus der Untersuchungshaft mit. In einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz führen die Veran­stalter die Freilassung von Hesse auf den Druck der Öffentlichkeit zurück.

Auf der Pressekonferenz berichtete Vadim Hesse, daß er in seiner Aus­einandersetzung mit dem Militär bewusst darauf verzichtet hatte, sich der bevorstehenden Verhaftung durch Flucht oder Verfahrenstricks zu entziehen. "Mir war es wichtig, durch meinen Fall der Gesellschaft noch einmal zu verdeutlichen, wie unhaltbar der Zustand ist, daß zum einen die russische Verfassung zwar das Recht auf Kriegsdienstverweige­rung garantiert, andererseits es aber keine Gesetze gibt, die dieses Recht konkret umsetzen.

Die Entlassung aus der U-Haft ist für Hesse und die russischen Pazifi­stInnen nur ein Etappensieg. Am 3. Mai wird der Prozess gegen den Pazi­fisten Hesse, der sich geweigert hatte, der Einberufung zu folgen.

Bleibt zu hoffen, daß Hesse auch weiterhin von einer kritischen Öf­fentlichkeit unterstützt wird. Und vielleicht findet sich ja jemand aus Deutschland, der bereit ist, als Pro­zessbeobachter an diesem Prozess teilzunehmen.

Weitere Infos: Bernhard Clasen

Auch in "Friedenszeiten": tausende russischer Soldaten verlieren ihr Le­ben

Der Tod von Andrej Sergatschkow ist leider kein Einzelfall. Nach offiziellen Angaben, erstellt von einer vom Präsi­denten beauftragten Untersuchungs­kommission, gibt es jährlich 6000 bis 8000 Todesopfer. Die Dunkelziffer, so schätzen die Soldatenmütter von St. Petersburg, liegt um ein Vielfaches hö­her.

Schuld daran ist das alte Rangordnungs­system der "Dedowtschina", nach dem die älteren Militärjahrgänge, die soge­nannten "Dedy" (=Großväter), die "Neulinge" vor allem in den ersten Mo­naten des Militärdienstes durch regel­mäßige Gewaltanwendung zu bedin­gungsloser Ergebenheit und Unterord­nung zwingen dürfen. Auch wenn die "Dedowtschina" jedem Russen bekannt ist - es gibt kaum gesellschaftliche Kräfte, die diesen Missstand bekämpfen. Eine erfreuliche Ausnahme sind die Komitees der Soldatenmütter, die sich in sehr vielen Städten Russlands bemü­hen, derartige Mißstände aufzudecken.

Den betroffenen Soldaten helfen sie mit juristischer Unterstützung, Beratung und Öffentlichkeitsarbeit.

Der Deutsch-Russische Austausch e.V. hat in Zusammenarbeit mit der Hein­rich-Böll-Stiftung eine Broschüre "Die Soldatenmütter von St. Petersburg" her­ausgegeben, die bei der Heinrich-Böll-Stiftung, Brückenstr. 5-11, 50667 Köln, angefordert werden kann (bitte 2 DM in Briefmarken beilegen).

Protestfaxe an den Militärstaats­anwalt:

Schickt Faxe an den Chefmilitär­staatsanwalt (An den Chefmilitär­staatsanwalt, Herrn V.N. Pa­nitschew, Moskau, Fax: 007 / 095 / 247 50 60 - manueller Betrieb).

Schreibt ihm, daß Ihr sehr beunru­higt seid über das Schicksal der Sol­daten Jewgenij Kowaljow (Truppenteil Nr. 18590) und Dimitrij Vorobjow (Truppenteil Nr. 40961). Beide sind zu jeweils anderthalb Jahren Strafbataillon (= Gefängnis in der Kaserne) verurteilt worden, weil sie sich von der Truppe entfernt hatten, nachdem sie erfahren hatten, daß ihre Einheit nach Tschetsche­nien verlegt werden solle)

Ausgabe

Rubrik

Hintergrund