Studientag des Komitees für Grundrechte und Demokratie

Armut und Migration – Armutsmigration

von Dirk Vogelskamp

Eingeleitet wurde der Studientag des Komitees für Grundrechte und Demokratie, der am 29. September 2013 stattfand, mit ein paar Angaben zu den aktuellen Migrations- und Fluchtbewegungen, um die Wanderungsdimensionen zu verdeutlichen: etwa 214 Millionen internationale Migranten und Migrantinnen auf der Suche nach Arbeit und Überlebensperspektiven im Jahr 2010; 45, 2 Millionen Menschen auf der Flucht (UNHCR: 2012). Bereits heute geht man davon aus, dass 10-25 % der Wanderungsentscheidungen umweltbedingt erfolgen. Die langfristigen Prognosen über klimabedingte und ökonomisch forcierte Vertreibungen legen zumindest nahe, dass sich Migration und Flucht auch nach Europa in den nächsten Jahrzehnten immens verstärken werden. So prognostiziert auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein hohes Migrationspotential von über 50 Millionen aus Afrika in den nächsten Jahrzehnten.

Karl Kopp, Europareferent von PRO ASYL, erläuterte an drei Stichpunkten (erstens: Tod und Zurückweisung; zweitens: Haft; und drittens: Verantwortungszurückweisung), wie die europäische Flüchtlingsabwehrpolitik am Beispiel der Grenze, die zwischen der Türkei und Griechenland (EU-Europa) verläuft (Ägäis und Evros/Meriç), aussieht. Er berichtete, dass durch die Verriegelung des Grenzabschnitts am Evros/Meriç (Zaun, Patrouillen, FRONTEX) vermehrt wieder (vor allem syrische) Flüchtlinge über das ägäische Meer griechische Inseln zu erreichen versuchten. Dabei kenterten immer wieder Schiffe mit zahlreichen Todesfällen. Selbst wenn Flüchtlinge bereits griechische Inseln erreicht hätten, würden sie von der griechischen Küstenwache wieder in türkisches Hoheitsgewässer zurückgewiesen (push-back). Es käme auch immer wieder zu Verweigerung von Seenotrettung im Mittelmeer auf der Route von Nordafrika (Tunesien/Libyen) nach Lampedusa und Malta. Die Internierung von Flüchtlingen in Haftzentren und Lagern an den Außengrenzen gehöre zum integralen Bestandteil der europäischen Flüchtlingsabwehrpolitik. Die EU finanziert Auffanglager in Nordafrika. Über das Dublin-System, das die Zuständigkeit der Überprüfung der Flüchtlingseigenschaft auf den Staat festlegt, in dem der Flüchtling EU-Europa betreten hat, wird die Verantwortung für die Flüchtlinge (europäische Binnenwanderung) an andere Staaten ab- und zurückgeschoben. Dadurch entstünden neue „Abschiebeverläufe“ und Inhaftierungsgründe (Beispiel: Flüchtlinge aus Italien – Lampedusa in Hamburg). Bis es überhaupt zu einer Überprüfung der Fluchtgründe eines Menschen komme (Asylverfahren), müsse dieser nicht nur todbringende Grenzen, Inhaftierungen, sondern auch noch innereuropäische Zuständigkeitsregelungen überwinden. Erst wenn diese lebend passiert seien, komme es zum eigentlichen Asylverfahren. Deshalb sprach Karl Kopp von der „Systemkrise des europäischen Schutzsystems“.

Daraus könne nur folgen, dass der Zugang nach Europa erleichtert werden müsse. Er sprach sich deshalb für einen legalen und gefahrlosen Zugang nach Europa aus. Dazu müsse u.a. das europäische Visaregime geändert werden, das einen legalen Zugang nach EU-Europa verhindere. Auf die Frage, wie auf die klimabedingte und ökonomisch forcierte Migration, die bislang keine anerkannten Fluchtgründe darstellen, reagiert werden könne, schlug er vor, dass das subsidiäre Schutzsystem für diese Migration erweitert werden könne.

In der Diskussion ging es vor allem um diejenigen, die es bis nach Deutschland schafften, und wie diese einen Aufenthaltsstatus erlangen könnten. Einig war man sich darin, dass die EU-Qualifikationsrichtlinie Flüchtlingen mehr Chancen böte, Schutz zu erlangen. Dazu müssten sie aber anwaltlich vertreten werden. Die Schutzquote läge 2012 bei etwa 28% (subsidiärer und Schutz gemäß Genfer Flüchtlingskonvention). Bei der Diskussion um Armutsmigration ging es auch die Roma-Minderheiten aus Serbien und Mazedonien, die mit rechtlich äußerst fragwürdigen Mitteln in aussichtslose Asylverfahren gedrängt werden, nur um sie umgehend wieder in ihre Herkunftsstaaten zurückzuschieben. Anders gelagert ist der Umgang mit den Roma-Minderheiten aus den EU-Staaten Rumänien und Bulgarien. Für diese beiden EU-Staaten laufen Ende dieses Jahres die Übergangsfristen aus, mit denen die Arbeitnehmerfreizügigkeit beschränkt wurde – die voraussetzungslose dreimonatige Freizügigkeit innerhalb der EU ist davon nicht betroffen.

Offene Grenzen?
Albert Scherr (PH Freiburg und Mitglied im Vorstand des Komitees für Grundrechte und Demokratie) eröffnete seinen Beitrag zu dem Thema mit der Frage, ob die Forderung nach „offenen Grenzen“ ein Beitrag zu der Problematik „Armutsmigration“ darstellen könne. Zuvor stellte er fest, dass das staatliche Migrationsregime zwischen erwünschter und unerwünschter Migration unterscheide. Auf  der einen Seite: hochqualifizierte Arbeitsmigranten, Studierende, Saisonarbeitskräfte und Schutzbedürftige ..., auf der anderen Seite die nicht schutzwürdigen und illegalen Migranten. Zu bedenken sei zudem, dass die weltweite Arbeitsmigration einen immensen Wirtschaftsfaktor auch für die Herkunftsstaaten der MigrantInnen darstelle. Die finanziellen Rücküberweisungen der MigrantInnen (Remittances) betrugen im Jahr 2012 über 500 Mrd. Dollar, weit mehr als die sogenannte Entwicklungshilfe in die entsprechenden Staaten. Zugleich müsse festgehalten werden, dass die souveränen Nationalstaaten über den Zugang zu ihrem Territorium bestimmten, damit also auch darüber, wer ein Recht zum Aufenthalt und ggf. zur Niederlassung erhalte. Werde dieses staatliche Recht in einer immer noch nationalstaatlich (un)geordneten Welt grundsätzlich anerkannt, folge daraus, dass der Staat dann auch das Recht habe, unerwünschte Migration zurückzuweisen oder zurückzuhalten. Die Art und Weise der Migrationskontrolle könne durchaus kritisiert werden.

Scherr machte deutlich, dass mit dem gewöhnlichen und gehobenen Nationalstaatskonzept heute keine expliziten rassistischen oder nationalistischen Überlegenheitseinstellungen einhergehen müssten, da damit die selbstverständlichen nationalen Eigeninteressen der BürgerInnen verbunden werden wie beispielsweise deren soziale Absicherung (rein nationalstaatliche Betroffenheitshorizonte).

Hingegen könnte mit Thomas Pogge (Weltarmut und Menschenrechte, Berlin/New York 2011, de Gruyter) angesichts der Globalisierung und damit der Verantwortung der reichen Industriestaaten für die wirtschaftlichen und klimabedingten Verwerfungen gesagt werden, dass nach menschenrechtlichen und gerechtigkeitstheoretischen Prinzipien die politische Verantwortung der Nationalstaaten nicht mehr ausschließlich auf die eigenen Bürgerinnen und Bürger begrenzt werden kann. (Dies käme einer Feudalisierung der Weltordnung über die Birthright lottery gleich.) Insofern wäre auch der Zugang für Armutsmigranten offen zu halten. Wie lässt sich mit diesem Dilemma umgehen? Mit Bridget Anderson  schlug er eine „No-Border-Politics“ vor, die Handlungsfähigkeiten eröffne, indem die zahlreichen Facetten von „Grenzen“, die gesellschaftlichen Macht- und Ungleichheitsverhältnisse herstellen und immer erneut reproduzieren, angegriffen und verschoben werden können, ohne in die fruchtlose Debatte über „offene Grenzen“ einsteigen zu müssen.

Zudem müsse, so Albert Scherr, eine solidarische Migrationspolitik viel stärker auf ökonomische, politische und militärische Entwicklungen verweisen, die Migrationen auslösten, und Kooperationen mit anderen Nichtregierungsorganisationen eingehen. In den Alltagskämpfen der MigrantInnen gegen Lager, Residenzpflicht und vieles mehr, aber auch der flüchtlingssolidarischen Organisationen könnten Grenzverschiebungen und Rechtsdurchsetzungen erkämpft werden.

Darüber entspann sich eine lange Diskussion aus Beispielen u.a. von Bleiberechtskämpfen an verschiedenen Orten von Gruppen (Dublin-Flüchtlinge, Roma-Minderheiten) und einzelnen Personen. Gleichwohl blieb die Frage offen, ob man in diese Auseinandersetzungen gleich pragmatisch oder menschenrechtlich utopisch hineingeht (alle Flüchtlinge oder diese bestimmte Gruppe). Könnte Deutschland über die 5.000 syrischen Kontingent-Flüchtlinge weitere 10.000 oder gleich 100.000 Menschen aufnehmen? Fordert man einen uneingeschränkten gefahrlosen Zugang nach Europa, oder bringt man die geschürten und gefühlten Ängste der Bürgerinnen und Bürger vor der Einwanderung in die Sozialsysteme gleich relativierend in Anschlag? Wie können die Ungleichheit und Elend produzierenden nationalstaatlichen Grenzen delegitimiert werden? Wie steht es mit dem Existenzrecht der Menschen angesichts von Massenarmut, wenn ein großer Teil der Weltbevölkerung nicht mehr in das kapitalistische Weltsystem integriert werden kann? Fragen, über die weiter nachgedacht werden muss.

Ausgabe

Rubrik

Hintergrund
Dirk Vogelskamp ist Referent des Komitee für Grundrechte und Demokratie.