Pflicht zur Verweigerung eines Angriffskrieges

Asyl für russische Kriegsdienstverweigerer

von Connection
Krisen und Kriege
Krisen und Kriege

Seit Februar 2022 haben etwa 5.100 russische Männer im Alter zwischen 18 und 65 Jahren in Deutschland Asylanträge gestellt. (1) Der Großteil von ihnen wurde abgelehnt. Dabei entziehen sie sich einem völkerrechtswidrigen Kriegseinsatz und müssten daher Schutz vor einer möglichen Verfolgung erhalten.
Aus dem Römischen Statut für den Internationalen Gerichtshof (2) ergibt sich eine individuelle Verantwortung bei Begehung von Kriegsverbrechen, insbesondere Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Nun ist ein Krieg immer damit verbunden, dass Soldat*innen von den Vorgesetzten dazu aufgefordert werden, z.B. zivile Ziele zu beschießen und so in der Tat ein Kriegsverbrechen zu begehen. Noch offensichtlicher ist es, wenn wie im Falle des Krieges Russlands gegen die Ukraine der Krieg an sich ein Angriffskrieg und damit völkerrechtswidrig ist. In Artikel 25 (2) des Römischen Statuts heißt es dazu: „Wer ein der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegendes Verbrechen begeht, ist dafür in Übereinstimmung mit diesem Statut individuell verantwortlich und strafbar.“

Soldat*innen hätten also die Pflicht, rechtswidrige Anordnungen der Vorgesetzten zu verweigern. Das ist im Falle eines Kriegseinsatzes praktisch nicht möglich, da ein Einsatz an der Front immer bedeutet, in einer von militärischer Gewalt bestimmten Hierarchie- und Werteordnung, in einem von militärischer Gewalt bestimmten Umfeld eine Entscheidung gegen einen Einsatz zu treffen, der von Vorgesetzten angeordnet ist. Wer das tut, riskiert damit oft sein Leben. Und wer es nicht tun will, dem bleibt letztlich nur die Flucht aus dem Militär, also die Desertion. Wer aber gar nicht erst in solch eine Situation kommen will, dem bleibt nur die Kriegsdienstverweigerung oder die Flucht vor der Rekrutierung, also eine Militärdienstentziehung.

Nun sprechen wir bei der Invasion von Russland in der Ukraine anerkanntermaßen von einem Angriffskrieg, der völkerrechtlich verurteilt ist. Es kommt bei einer Einschätzung der Verantwortlichkeit von Soldat*innen also nicht mehr zwingend darum, dass völkerrechtswidrige Handlungen in einem Krieg begangen werden könnten. Der Krieg an sich, also auch die Beteiligung daran, ist als völkerrechtswidrig zu werten.

Strafrechtliche Verantwortlichkeit bei einer Beihilfe
Das Römische Statut definiert in Artikel 25 (3) c) auch die strafrechtliche Verantwortung bei einer Beihilfe. Es heißt dort: „In Übereinstimmung mit diesem Statut ist für ein (…) Verbrechen strafrechtlich verantwortlich und strafbar, wer (…) c) zur Erleichterung eines solchen Verbrechens Beihilfe oder sonstige Unterstützung bei seiner Begehung oder versuchten Begehung leistet, einschließlich der Bereitstellung der Mittel für die Begehung.“ Das bedeutet also, dass nicht nur die Soldat*innen im Kampf zur Verantwortung gezogen werden können, sondern sehr wohl auch Personen, die dazu beitragen, also dazu Beihilfe leisten, dass solch ein Krieg überhaupt geführt werden kann.

Mit dieser Frage hatte sich der Europäische Gerichtshof im Fall des US-Deserteurs André Shepherd befasst. André Shepherd, US-Soldat und 2004 als Mechaniker für Kampfhubschrauber im Irak-Einsatz, hatte sich bei einem Deutschlandaufenthalt der Fortsetzung seines Einsatzes entzogen und 2008 einen Asylantrag gestellt. Er berief sich dabei auf die Qualifikationsrichtlinie der Europäischen Union. Mit ihr sollen nach Artikel 9 unter anderen die geschützt werden, die sich einem völkerrechtswidrigen Krieg oder völkerrechtswidrigen Handlungen entziehen und mit Verfolgung rechnen müssen. In dem Urteil kommt der Europäische Gerichtshof in Absatz 46 zu dem Schluss: „Die Bestimmungen von Art. 9 Abs. 2 Buchst. E der Richtlinie 2004/83 sind dahin auszulegen, dass sie alle Militärangehörigen einschließlich des logistischen und unterstützenden Personals erfassen.“ (3)

Rechtsprechung: „Beachtliche Wahrscheinlichkeit“ versus Völkerrechtskonformes Handeln
In mehreren uns vorliegenden Bescheiden des Bundesamtes für Migration wird schon deshalb eine Verfolgung ausgeschlossen, weil „nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit“ davon auszugehen sei, dass die Antragstellenden zu den Streitkräften oder zum Krieg in der Ukraine einberufen werden würden. Hier aus einem Bescheid vom 24. September 2024: „Schon aufgrund der schieren Zahl potenziell mobilisierbarer Reservisten (wäre eine künftige Einberufung des Antragstellers) nicht beachtlich wahrscheinlich. Schließlich läge das statistische Risiko einer Einberufung angesichts von rund 25 Millionen Reserveangehörigen in Russland, davon rund 5,5 Millionen in der Altersgruppe bis 35 Jahre (erste Mobilisierungspriorität), selbst im Falle einer neuerlichen Mobilisierung im Umfang von 300.000 Mann bei unter zwei bzw. unter sechs Prozent.“ (AZ 10114310 – 160)

Es wird dabei im Wesentlichen mit Wahrscheinlichkeiten argumentiert. Ist es also wahrscheinlich, dass eine Person bei einer Rückkehr tatsächlich zum Militär einberufen und in den Krieg geschickt wird? Das ist für die Betroffenen zwar eine wichtige Frage, aber sicher nicht die alles Entscheidende. Sie hatten angesichts einer Situation das Land verlassen, als es im Zuge der Teilmobilmachung im Oktober 2022 weitverbreitete Razzien gab, Einberufungen auf willkürlicher Basis erfolgten und es mehrere Tausend Fälle gab, in denen Personen zu Unrecht rekrutiert (4) wurden. Nun wird in den Bescheiden argumentiert, dass dies ja in absehbarer Zeit nicht mehr zu erwarten sei, es also nicht „beachtlich wahrscheinlich“ ist.

Überlegen wir kurz, was das konkret bedeutet. Selbstverständlich gibt es für Antragstellende die Möglichkeit, gegen solche Bescheide des Bundesamtes zu klagen und damit eine Verhandlung vor einem Verwaltungsgericht zu erzwingen. Es ist allerdings davon auszugehen, dass auch die Verwaltungsgerichte nicht anders urteilen werden. Nach einer Ablehnung durch ein Verwaltungsgericht gibt es zwar noch Rechtswege. Letzten Endes ist aber früher oder später von der Rechtskraft des Urteils auszugehen. Und das kann eine Abschiebung bedeuten. Dass es erste Abschiebungen gibt, hatte zuletzt die Tagesschau am 1. Oktober 2024 gemeldet. (5)

Anerkennung in der Regel nur bei Desertion
Grundsätzlich ist festzustellen, dass die Verfolgung von Kriegsdienstverweigerung und Desertion im Allgemeinen nicht als Asylgrund gewertet (6) wird. Die obergerichtliche Rechtsprechung verweist darauf, dass es sich bei der Militärdienstpflicht um eine allgemeine staatliche Pflicht handelt, die alle Bürger*innen (oder jedenfalls alle Bürger*innen im militärdienstpflichtigen Alter und gegebenenfalls männlichen Geschlechts) gleichermaßen trifft. Strafverfolgung und Bestrafung für eine Verweigerung wird daher als legitimes staatliches Handeln eingestuft. Obwohl der Europäische Gerichtshof 2011 die Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht anerkannt hat (7), wird die Verfolgung von Kriegsdienstverweigerung nur in Einzelfällen als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention gewertet, womit lediglich ein Abschiebeschutz in Frage kommt.

Allein im Falle russischer Deserteur*innen sieht das Bundesinnenministerium das anders. Im Mai 2022 wurde dies in einer Mitteilung (8) erklärt. Zugleich wurde aber ausgeführt, dass russische „Wehrdienstflüchtlinge von den Ausführungen nicht umfasst“ sind.

Im Grundsatz schließt sich nun seit neuestem auch das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg der Auffassung des BAMF an (AZ 12 B 17/23). In einem Urteil zu einem tschetschenischen jungen Mann, der bislang keinen Militärdienst in Russland abgeleistet hat, geht das Gericht zwar davon aus, dass er zum Militärdienst rekrutiert werden könnte, das stelle aber keine Gefährdung dar. Er würde als Militärdienstpflichtiger „nicht beachtlich wahrscheinlich in der Ukraine und damit in einem völkerrechtswidrigen Krieg eingesetzt“ werden. Ein Einsatz gegen den Einmarsch der Ukraine in der Region Kursk finde „auf russischem Territorium statt“ und diene „der Abwehr der ukrainischen Offensive“. Das Gericht kommt zu dem Schluss: „Der Kampfeinsatz der Wehrpflichtigen findet nicht statt, um das Gebiet der Ukraine oder Teile davon völkerrechtswidrig zu erobern, zu besetzen oder zu annektieren.“ Dem Kläger drohe daher keine „Verstrickung in den Angriffskrieg gegen die Ukraine.“ Dies Urteil ist in der Tat sehr ernüchternd, zeigt es doch auf, dass das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg die Militäraktionen Russlands in fahrlässiger Weise aufspaltet und auch eine Beihilfe völlig außer Acht lässt, nur um damit jeden Schutz zu verweigern.

Gegen die Logik von Zahlenspielereien
Es gibt über die Qualifikationsrichtlinie der Europäischen Union zwar den Ansatz, dass Personen geschützt werden sollen, die sich völkerrechtswidrigen Handlungen verweigern und Verfolgung befürchten müssen. Die Rechtspraxis sieht dies aber nur als Ausnahmeregelung, die vom Flüchtling selbst nachgewiesen werden muss. In besonders offensichtlicher Art und Weise wird dies über die Definition der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ umgesetzt.

Das ist nicht hinnehmbar. Aus dem Völkerrecht ergibt sich eine Verpflichtung – sowohl von Staaten wie auch von Einzelpersonen – sich völkerrechtskonform zu verhalten, sich also nicht an Kriegsverbrechen, völkerrechtswidrigen Handlungen oder einem Angriffskrieg zu beteiligen. Wenn es diese Pflicht zur Verweigerung und Entziehung gibt, dann müssen diese Personen auch Schutz erhalten, wenn ihnen mit welcher Wahrscheinlichkeit auch immer eine Verfolgung droht.

Anmerkungen
1 https://ec.europa.eu/eurostat/databrowser/view/MIGR_ASYAPPCTZM__custom_1...
2 https://www.un.org/depts/german/internatrecht/roemstat1.html
3 https://www.connection-ev.org/pdfs/2015-02-26_UrteilEuGH.pdf
4 https://www.zdf.de/nachrichten/politik/putin-teilmobilmachung-ukraine-kr...
5 https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/abschiebungen-russland-kr...
6 https://de.connection-ev.org/article:kriegsdienstverweigerung-und-asyl-m...
7 https://de.connection-ev.org/article-2001
8 https://de.connection-ev.org/pdfs/2022-05-17_IM.pdf

Ausführlich geht Connection e.V. auf dieses Thema ein unter www.Connection-eV.org/article-4305
Weitere Informationen stellt Connection e.V. regelmäßig im Rahmen der #ObjectWarCampaign zur Verfügung, mit der sich ein Verbund von europaweit mehr als 100 Organisationen für den Schutz und Asyl für Kriegsdienstverweiger*innen und Deserteur*innen aus Russland, Belarus und der Ukraine einsetzt: https://de.Connection-eV.org/ObjectWarCampaign und https://objectwarcampaign.org.

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