NATO-Raketenabwehr

Aufrüstungsspirale mit technischen Problemen

von Jerry Sommer

Seit 1983, als der damalige US-Präsident Ronald Reagan das sogenannte „Krieg der Sterne“-Programm initiierte, haben die USA schon über 200 Milliarden Dollar für Raketenabwehrsysteme ausgegeben. (1) Allerdings sind die Ergebnisse bestenfalls bescheiden. Die Ziele wurden immer wieder nach unten verändert. Wiederholt wurden milliardenteure Projekte abgebrochen, da sich die Technologien als schlicht nicht machbar erwiesen.

Von der Vision eines umfassenden „Schutzschildes“, das die USA vor jeglichem Angriff der Sowjetunion beschützen könnte, ist das Ziel geblieben, zahlenmäßig begrenzte Raketenangriffe von „Schurkenstaaten“ wie Nordkorea oder Iran gegen das Territorium der USA durch eine „homeland defense“, sowie ihrer wichtigsten Bündnispartner in Europa, im Nahen Osten sowie in Asien durch regionale Raketenabwehrarchitekturen abwehren zu können.

Allerdings gab es immer Kräfte unter Neokonservativen in den USA wie auch in Europa, hier vor allem in den neuen osteuropäischen NATO-Ländern, denen die Raketenabwehr auch gegen potentielle Gegner wie Russland und China als nützlich erscheinen. (2) Einige US-PolitikerInnen wie der einflussreiche Republikaner U.S. John McCain haben auch die aktuelle Krise um die Ukraine genutzt, um verstärkte Raketenabwehrbemühungen gegen Russland in Europa zu fordern. (3)

Ein wesentliches Moment der US-Raketenabwehrpläne ist, sich auch für den Fall einer wachsenden Zahl von Staaten mit Raketen und Atomwaffen Handlungsfreiheit zu sichern und militärisch siegen zu können. Raketenabwehr ist für die USA keine rein defensiv ausgerichtete militärische Fähigkeit, sondern muss immer auch als potentielle Voraussetzung für Angriffsoperationen – zum Beispiel gegen Iran oder Nordkorea - angesehen werden.

Die USA haben in Alaska und Kalifornien zwei Raketenabwehrstellungen mit insgesamt 30 Abfangraketen installiert. Weitere 14 sollen in Alaska aufgebaut werden. Zwar behauptet die US-Regierung, damit begrenzte Angriffe abwehren zu können. Aber einmal abgesehen davon, dass weder Nordkorea noch der Iran die technische Fähigkeit besitzen, entsprechende Langstreckenraketen zu produzieren, sind die in den USA stationierten Abwehrsysteme völlig unzuverlässig. Seit 2008 haben sie keinen Test mehr erfolgreich absolviert. Das läge an „mangelhafter Technik“, gibt selbst das Pentagon zu und plant eine Neuentwicklung des Abwehrsprengkopfs. (4)

In der NATO haben die USA 2010 ihr Projekt einer europäischen Raketenabwehr, für die die entscheidenden Komponenten allein von Washington bereitgestellt und bezahlt werden, durchgesetzt. Vorgesehen sind zuerst die Stationierung von sogenannten „Standard Missile(SM) 3-IA“-Abwehrraketen auf US-Aegis-Schiffen im Mittelmeer und Schwarzen Meer – eins von vier Kriegsschiffen ist schon in diesen Gewässern. Ab 2015 sollen modernisierte, weiterreichende US-SM 3-IB-Raketen auf den US-Aegis-Schiffen sowie 24 landgestützte Abfangraketen dieses Typs in Rumänien stationiert werden. Diese sind laut Planungen nur in der Lage, Kurz- und Mittelstreckenraketen abzuwehren.

Weiterentwickelte SM-3-Block-IIA-Abfangraketen sollen ab 2018 in land- sowie seegestützten Versionen in Dienst gestellt werden. Sie werden eine höhere Fluggeschwindigkeit besitzen und somit auch Raketen mit einer Reichweite zwischen 3000 und 5000 km sowie je nach Stationierungsort laut Aussagen des Pentagon auch „eine begrenzte Abfangfähigkeit von Interkontinentalraketen“ besitzen. (5) In dieser Phase sollen auch in Redzikowo in Polen 24 solcher Systeme landgestützt aufgestellt und 100 US-Soldaten zu ihrer Bedienung stationiert werden.

Ursprünglich sollten ab 2020 noch modernere SM 3-IIB-Abwehrraketen in Polen und Rumänien stationiert werden, die wegen ihrer hohen Geschwindigkeit auch in der Lage wären, Interkontinentalraketen abzuschießen. Diese Planung ist allerdings im Frühjahr 2013 aufgegeben worden: Technisch waren zu große Schwierigkeiten aufgetreten. Doch auch die einfacheren Versionen sind mit großen technischen Mängeln behaftet. So hat der US-Rechnungshof in einer Studie kritisiert, dass trotz eines 2013 misslungenen Tests an der Produktion der SM 3-IB-Systeme festgehalten werden soll. Das Ende des Entwicklungsprogramms für die SM 3-IIA-Abfangraketen war wegen technischer Probleme schon 2011 um zwei Jahre auf 2016 nach hinten geschoben worden. Das dürfte auch den für 2018 geplanten Stationierungsbeginn um Jahre verzögern.

Über solche konkreten technischen „Probleme“ hinaus, gehen Kritiker davon aus, dass ein Raketen“schirm“ technisch prinzipiell unmöglich ist. Denn Ländern, die die Fähigkeit haben, Raketen mit Reichweiten von über 1000 Kilometern zu entwickeln, muss auch zugetraut werden, technische Gegenmaßnahmen wie Täuschkörper etc. anzufertigen, die die Raketenabwehr überwinden können. Selbst das „Defense Science Board“ des US-Verteidigungsministeriums urteilte, dass solche Gegenmaßnahmen für das europäische Raketenabwehrsystem „dramatisch und vernichtend“ (6) wären.

Nicht nur die technische Machbarkeit, auch die Bedrohungsszenarien, mit denen US/NATO-Raketenabwehrpläne gerechtfertigt werden, sind mehr als zweifelhaft. So hat der Iran kein atomwaffenfähiges Material und laut Einschätzung der US-Geheimdienste auch kein aktives Nuklearwaffenprogramm. Es wird gegenwärtig sogar über ein umfassendes Abkommen mit dem Iran verhandelt, das potentielle Ausbruchs“gefahren“ zusätzlich einhegen könnte. Auch besitzt der Iran bisher keine Raketen, mit denen es Kerneuropa erreichen könnte. Sein Raketenprogramm ist angesichts einer nicht vorhandenen Luftwaffe gegen die konventionelle Überlegenheit regionaler Konkurrenten wie Israel und Saudi Arabien gerichtet. Zudem hat der Iran „weder Flugtests durchgeführt mit, noch auch nur jemals ein Bedürfnis geäußert nach Mittelstrecken- (Reichweite: 3000 - 5500 km, der Vf.) oder Interkontinentalraketen (Reichweite mehr als 5500 km) – Raketentypen, die für eine Bedrohung von Gebieten NATO-Europas und der USA am wichtigsten wären“,  so Greg Thielmann von der Washingtoner „Arms Control Association“. (7)

Demgegenüber unterschätzen RaketenabwehrbefürworterInnen die potentiellen negativen Folgen für die europäische Sicherheit sowie für Rüstung und Abrüstung erheblich. Neben der Osterweiterung der NATO und dem Kosovo-Krieg sind die einseitige Kündigung des „Anti-Ballistic Missiles“- Vertrages durch George W. Bush sowie die Raketenabwehrpläne der USA für Russland Steine des Anstoßes. Die generellen wie die spezifischen Raketenabwehrpläne der USA würden die nukleare Zweitschlagsfähigkeit Russlands bedrohen. Zwar könnte Moskau sich angesichts der technischen Probleme der US-Systeme eigentlich beruhigt zurücklehnen. Doch wie USA und NATO geht es von „worst case“-Szenarien aus – und nutzt die US-Raketenabwehr, um die Modernisierung seiner Nuklearstreitkräfte zu rechtfertigen und sich gegen weitere nukleare Abrüstung Richtung „Global zero“ zu sperren. 

Westliche ExpertInnen – u.a. von der „Federation of American Scientists“ und vom Hamburger „Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik“ (8) bestätigen die russische Befürchtung, dass die US-Abfangraketen vom Typ SM 3-II, die nach 2018 in Dienst gestellt werden sollten, die technische Fähigkeit besitzen, auch russische Interkontinentalraketen zu erreichen. Von daher ist es alles andere als verwunderlich, wenn Russland seit Jahren von den USA einen rechtlich bindenden Vertrag fordert, mit dem sichergestellt werden soll, dass die US-Raketenabwehr nicht das nukleare Vergeltungspotenzial Moskaus beeinträchtigen kann. In diesem Vertrag müssen nach russischen Vorstellungen zum Beispiel die Geschwindigkeit der Raketenabwehrsysteme auf 3,5 Kilometer pro Sekunde begrenzt werden, da solche langsamen Interzeptoren nicht in der Lage wären, russische Interkontinentalraketen zu treffen. Auch sollte die Zahl der Abfangraketen auf einige wenige hundert begrenzt werden, wie der damalige stellvertretende russische Verteidigungsminister Anatoly Antonow 2011 erläuterte. (9)

Schon 2009 forderten Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Egon Bahr und Hans-Dietrich Genscher  in einem gemeinsamen Aufruf „Für eine atomwaffenfreie Welt“ in Bezug auf US-Raketenabwehrpläne: Ein „Rückfall in die Zeiten der Konfrontation mit den Folgen von Aufrüstung und Spannung kann durch eine einvernehmliche Regelung zum Thema der Raketenabwehr vermieden werden, die auch den Interessen von Nato und EU entspricht - am besten durch die Wiederherstellung des Anti-Ballistic-Missiles-Vertrages“. (10)

Solche Übereinkünfte, die den USA die Freiheit ließen, eine vermeintliche iranische oder nordkoreanische „Gefahr“ durch eine begrenzte Anzahl von Abfangraketen abzuwehren, aber die zugleich keine Bedrohung für Russlands Zweitschlagsfähigkeit darstellen, wären prinzipiell sicher möglich. Allerdings sind sie gegenwärtig im US-Kongress wegen der Haltung der RepublikanerInnen wie auch eines großen Teils der DemokratInnen nicht durchsetzbar.

Solange eine solche Übereinkunft nicht erreicht wird, drohen die US/NATO-Raketenabwehrpläne – die ohnehin technisch unausgereift und gegen heute nicht vorhandene Bedrohungen gerichtet sind -, Aufrüstungsspiralen in Gang zu setzen. Das gilt sowohl in Europa, zwischen den USA und Russland, im Nahen Osten sowie in Asien und zwischen USA und China. Insbesondere ist eine weitere Reduzierung der Atomwaffen wohl unmöglich.

Gerade im gegenwärtig aufgeheizten Klima zwischen Russland und den NATO-Staaten wegen der Ukraine, in dem der Ruf nach neuer Aufrüstung lauter wird, wäre es hingegen sinnvoll, eine De-Militarisierung des Konflikts zu erreichen. Ein Beitrag dazu wäre auch, die US/NATO-Raketenabwehrpläne für Europa einzufrieren, nicht wie geplant weitere US-Aegis-Schiffe ins Mittelmeer und Schwarze Meer zu schicken, den Bau der Raketenabwehrbasen in Rumänien und Polen zu beginnen oder gar neue deutsche Beiträge zu beschließen. Eine „Denkpause bei der NATO-Raketenabwehr“, wie sie im vergangenen November in einer Denkschrift von MitarbeiterInnen der Berliner „Stiftung Wissenschaft und Politik“ gefordert wurde (11), macht umso mehr Sinn, als die an die Wand gemalte „iranische  Gefahr“ möglicherweise durch die laufenden Genfer Verhandlungen eingehegt werden kann. Und Barack Obama hatte ja mal 2009 gesagt: „Wenn die iranische Bedrohung eliminiert ist, …wird die Triebkraft für den Aufbau eines Raketenabwehrsystems in Europa beseitigt sein.“ (12)

Anmerkungen
1 S. US-„Missile Defense Agency“: “Historical Funding for MDA FY85-14*” http://www.mda.mil/global/documents/pdf/histfunds.pdf. Zu den dort angegebenen 164 Mrd. US-Dollar, die für die Missile Defense Agency budgetiert sind, kommen noch weitere Milliarden hinzu, die anderen Haushaltsposten zugeordnet sind. Vgl. u.a. Susanna Wankmüller (ISFH):

„US-Ausgaben für Raketenabwehr im Haushaltsjahr 2014“, 2014; file:///C:/Users/home%20pc/Documents/proliferation%20+%20A-M%C3%A4chte/BMD/ABM-Europa%2011-2011/ISFH%202014-1-Fact_Sheet_US-Ausgaben_Raketenabwehr.pdf

2 Vgl. zu diesen wie allen anderen Aspekten der Raketenabwehr: Jerry Sommer: „Streitpunkt Raketenabwehr in Europa. Stand und Perspektiven vor dem NATO-Gipfel 2012“, 2012; http://www.paulschaefer.info/PDFs/1202_raketenabwehr.pdf

3 Global Security Newswire”: “GOP Lawmakers Call for Reviving Bush-Era Antimissile Plan”, 12.3.2014.

4 Global Security Newswire“: U.S. Missile Defense System Stymied by 'Bad Engineering': Official; 2. 2.2014

5 Hicks Alan B., Aegis BMD Program Director: “Aegis Ballistic Missile Defense – Status, Integration and Interoperability”, 18.6.2008, S. 21; http://www.ndia.org/Divisions/Divisions/MissileDefense/Documents/Content...

6 US Defense Science Board Task Force Report: “Science and Technology Issues of Early Intercept Ballistic Missile Defense Feasibility”, September 2011, S. 11, http://www.acq.osd.mil/dsb/reports/2011-09-Early_Intercept.pdf (html-Version)

7 Arms Control Association, Greg Thielmann: “Iranian Missile Messages:
Reading Between the Lines of ‘Great Prophet 6’”, Washington, 12.7.2010; http://www.armscontrol.org/issuebriefs/Iranian-Missile-Messages

8 FAS Special Report No. 1, Yousaf Butt and Theodore Postol: ”Upsetting the Reset: The Technical Basis of Russian Concern Over NATO Missile Defense“, 2011, S.19ff; http://www.fas.org/pubs/_docs/2011%20Missile%20Defense%20Report%20-%20lo..., und: Christian Alwardt, Hans Christian Gils und Götz Neuneck: “Raketenabwehr in Europa.Theaterdonner oder Rückkehr des Kalten Krieges?“ in: “Wissenschaft & Frieden”, Heft 1, 2012, S. 36ff.

9 S. Tom Collina, „Arms Control Today“ 7/8-2011: „Missile Defense Cooperation Stalls”; http://www.armscontrol.org/act/2011_%2007-08/Russia_Missile_Defense_Coop...

10 Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Egon Bahr und Hans-Dietrich Genscher: „Berliner Aufruf: Für eine atomwaffenfreie Welt“, 9.1.2009; http://www.ag-friedensforschung.de/themen/Atomwaffen/ehemalige.pdf

11 Für eine Denkpause bei der Nato-Raketenabwehr“, Berlin, 15.11.2013; Stiftung Wissenschaft und Politik; http://www.swp-berlin.org/de/publikationen/kurz-gesagt/fuer-eine-denkpau...

12 The White House: Remarks by President Barack Obama, Prag, 5.4.2009; http://www.whitehouse.gov/the_press_office/Remarks-By-President-Barack-O...

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Jerry Sommer ist Journalist und Research Associate am Internationalen Konversionszentrum Bonn (BICC).