Bundeswehr in Afghanistan

Aufstockung oder Abzug?

Das verheerende Bombardement auf zwei gekaperte Tanklastzüge am 4.9. in der Nähe von Kundus stellt eine Zäsur im deutschen Bundeswehreinsatz am Hindukusch dar. Schlagartig wird klar, dass die Bundeswehr dort Krieg führt. Die Debatte um den NATO-Krieg in Afghanistan ist im vollen Gang. Die Grundfrage lautet: Abzug oder noch mehr Bundeswehrsoldaten?

Die Friedensbewegung hat bereits am ersten Kriegstag, dem 7. Oktober 2001, öffentlich den Kriegsbeginn durch Bush und Blair verurteilt und davor gewarnt, dass mit Krieg der internationale Terrorismus nicht besiegt werden kann, sondern -  ganz im Gegenteil - gestärkt wird. Leider hat sich diese Prognose bewahrheitet. Die Anschläge und Anschlagsversuche nahmen seitdem hierzulande und in Europa zu und der militärische Widerstand in Afghanistan ist heute so stark wie nie seit 2002. Das militärische Vorgehen des Westens in Afghanistan hatte also überhaupt keinen Erfolg. Die afghanische Regierung kontrolliert gerade mal noch ein Drittel des Landes (NZZ 4.8.2009). Nachhaltige Aufbauarbeit im Krieg ist unmöglich. Die Strategie eines zivil-militärischen Ansatzes ist komplett gescheitert. Den Blutzoll in Afghanistan beziffert der renommierte pakistanische Autor Tariq Ali auf fast 300.000 getöteter Zivilpersonen, dem Hundertfachen der Anschläge vom 11.9.2001.

Daraus kann nur die Schlussfolgerung gezogen werden, dass jeder Tag mehr NATO-Krieg die Lage verschlimmert. Deshalb müssen die ausländischen Truppen so schnell wie möglich abgezogen werden. Die NATO-Besatzung ist das Problem und nicht Teil der Lösung. Erst der Abzug schafft die Voraussetzung für einen friedlichen Aufbau. Der Abzug steht somit am Anfang und nicht am Ende.

Mehr US-Truppen
Für die USA steht der Abzug am Ende – wenn überhaupt. Sie erhöhen in diesem Jahr ihre Truppenzahl in Afghanistan auf mehr als das Doppelte und stellen damit über zwei Drittel der 114.000 ausländischen Soldaten in Afghanistan. Die Exit-Strategie der NATO sieht vor, dass die afghanischen Sicherheitskräfte (Militär und Polizei) allein die Bekämpfung des Aufstands übernehmen sollen. Dafür soll die afghanische Armee zunächst bis Oktober 2010 auf 134.000 Soldaten aufgestockt werden (www.nato.int). Wie realistisch sind diese Pläne? Mitte September verfügte die afghanische Armee (ANA) nach NATO-Angaben über 94.000 Soldaten. Allerdings sind nur „weniger als die Hälfte“ der Einheiten „wirklich einsatzbereit“ (NZZ 24.7.2009). Also nur rund 45.000. Somit fehlen zu den 134.000 noch rund 90.000. Die Frage bleibt unbeantwortet, wie man binnen eines Jahres 90.000 Soldaten ausbilden will, wenn zuvor in acht Jahren nur 45.000 ausgebildet wurden. Es handelt sich hier offensichtlich um den Versuch, der Öffentlichkeit eine Machbarkeit in überschaubaren Zeiträumen vorzugaukeln. Bei der Polizeiausbildung sieht es nicht weniger düster aus. Die Klagen über schleppende Fortschritte füllen Bände. 82.000 Polizisten sollten es heute sein. Es stehen jedoch erst „zwischen 40.000 und 60.000 dienstbereite Polizisten zur Verfügung“ (FAZ 10.9.2009). Damit ist klar, dass die häufig angegebene Zahl von derzeit 175.000 vorhandenen afghanischen Sicherheitskräften geschönt ist. Es sind höchstens 80.000 bis 100.000.

NATO-Sieg unwahrscheinlich
Allerdings ist US-Militärstrategen inzwischen eingefallen, dass sie den afghanischen Aufstand selbst mit den für 2011 angestrebten etwa 225.000 afghanischen Sicherheitskräften gar nicht besiegen könnten. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist das Feldhandbuch der US-Armee zur Aufstandsbekämpfung. Demnach sind pro 1000 Einwohner 20 bis 25 Sicherheitskräfte nötig, um einen Aufstand niederzuschlagen. Auf Afghanistan umgesetzt, würden „570.000 bis eher 710.000 Sicherheitskräfte erforderlich“ (FAZ 14.10.09). Deshalb kursiert seit März der Plan, in den nächsten sechs bis sieben Jahren die afghanischen Sicherheitskräfte auf 400.000 zu erhöhen (FAZ 20.3.09). Dieser Plan ist erst recht unrealistisch, weil es ein Ding der Unmöglichkeit ist, in diesem kurzen Zeitraum das Vorhaben umzusetzen. Trotzdem wirbt NATO-Generalsekretär Rasmussen bereits öffentlich für diesen Plan. Damit wird – wider besseres Wissen - suggeriert, dass man den Aufstand in den Griff bekommen kann. In zwölf, spätestens jedoch in 24 Monaten will die US-Militärführung die Wende in Afghanistan herbeigeführt haben, denn im Herbst 2011 beginnt der Wahlkampf um die US-Präsidentschaft 2012. Der ISAF-Kommandeur McChrystal drängt auf mindestens 40.000 zusätzliche US-Truppen, die sowohl den Aufstand bekämpfen als auch die ANA ausbilden sollen. Das Ziel klar vor Augen: Mit einem militärischen Großeinsatz sollen die Aufständischen besiegt werden. Eines Tages. Dabei wird die zehnjährige Sowjet-Invasion in Afghanistan als abschreckendes Beispiel ausgeblendet. Doch die Parallelen sind unübersehbar. 1988 zählten die afghanischen Sicherheitskräfte auf Seiten der Sowjetarmee 460.000 Mann; mit der Roten Armee zusammen waren es 580.000. Das Ergebnis ist bekannt. Der Krieg ging verloren. Ihm fielen 1 bis 1,3 Millionen Afghanen zum Opfer. Dass der NATO-Krieg, mit einer vergleichbaren Zahl von Soldaten geführt wie damals, kostspielig und blutig würde, wird verschwiegen. Und dass der Ausgang dieses Krieges sehr ungewiss ist, auch. Denn Studien haben ergeben, dass Aufstandsbekämpfungen nur eine Erfolgsquote von 25 Prozent haben. Und die Schäden wären immens und stünden in überhaupt keinem Verhältnis zum Anlass.

Ziviler Aufbau vernachlässigt
Korruption, Hunger, Recht- und Perspektivlosigkeit sind wesentliche Merkmale des afghanischen Alltags. Der zivile Aufbau wurde stark vernachlässigt. Während für den zivilen Aufbau täglich etwa sieben Millionen Dollar ausgegeben werden, sind es für den Krieg täglich mehr als 100 Millionen. 300 Milliarden Dollar kostete dieser Krieg die US-Steuerzahler bisher und Deutschland 3,1 Milliarden Euro. Was ist es angeblich wert, diese immensen Summen für die Kriegsführung in dieses Land zu investieren? Die Rohstoffe können es nicht sein. Die gibt es dort kaum. Nein, es ist die Geografie. Der Westen will Afghanistan als Transitland für den Erdöl- und Erdgastransport aus Zentralasien an Russland, China und dem Iran vorbei zum Indischen Ozean nutzen. Von Afghanistan aus lassen sich zudem diese Länder und Pakistan kontrollieren. Afghanistan ist ein unsinkbarer Flugzeugträger, aber auch Raketen ließen sich dort stationieren. In der Großregion lagern 80 Prozent des Erdöls und drei Viertel allen Erdgases. Afghanistan ist von geostrategischer Bedeutung.

Die Regierung Obama hat den Krieg von Afghanistan nach Pakistan ausgeweitet. Ihr Begriff „Afpak“ bezeichnet ein einheitliches Kampfgebiet. Mit der Drohung, ihr die Militärhilfe zu entziehen, nötigt Obama die pakistanische Regierung, ihre Angriffe nicht nur im Paschtunengebiet in Pakistans Westen, sondern auf das ganze Land auszudehnen. Dies provoziert terroristische Gegenschläge, so dass sich die Gewaltspirale weiter dreht. Dem nuklear bewaffneten Pakistan droht die Destabilisierung.

Die Rolle der Bundeswehr
Der zivil-militärische Ansatz steht aus zwei Gründen vor dem Scheitern: a) Die zivilen Aufbauorganisationen lehnen die Nähe zur Bundeswehr aus Sicherheitsgründen ab und fühlen sich fernab vom Militär sicherer. b) Der zivile Aufbau wirkt sich nicht mäßigend auf den militärischen Widerstand aus – ganz im Gegenteil. Letzterer nimmt seit dem Frühjahr neue Dimensionen an, so dass die deutschen Aufbau- und Hilfsprojekte nur noch auf Sparflamme laufen. Die Taliban begnügen sich nicht mehr mit Attacken nach der Methode „hit and run“, sondern sind in der Lage, die Bundeswehr in offenen Gefechten zu stellen. Diese geht zunehmend zur offensiven Kriegsführung über. Das Massaker vom 4. September wird von den Kriegsbefürwortern genutzt, um eine Truppenaufstockung und mehr Kriegsgerät für den Norden Afghanistans zu fordern. Zuletzt ist von einer Erhöhung der Mandatsobergrenze von zur Zeit 4.500 auf bis zu 8.000 die Rede. Die Begründung von Ex-Generalinspekteur Kujat „Wir müssen initiativ vorgehen und die Kampfkraft stärken.“ (AFP 1.10.09). Ein Plädoyer für offensive Kriegsführung!

Für Kanada und die Niederlande gilt dies nicht. Sie ziehen ihre Truppen (mit zusammen mehr Soldaten als das deutsche Kontingent) bis Ende 2011 ab. Der konservative kanadische Ministerpräsident Harper dazu: „Um ehrlich zu sein, wir werden den Aufstand niemals niederschlagen“ (Lt. CNN, Hamburger Abendblatt 2.3.09). Warum hält die deutsche Regierung eisern am Einsatz fest, ja, baut ihn wohl möglich noch aus? Das sei man der Bündnissolidarität schuldig. So die Antwort. Warum steht die bei den ausstiegswilligen NATO-Partnern weniger hoch im Kurs? Ganz einfach: Die deutschen Eliten haben höhere Ziele. Es geht ihnen um die militärische Führungsposition in Europa  - in NATO und EU. Dafür die Auslandseinsätze, dafür die Aufrüstung.

Fazit: Keine Mandatsverlängerung und Abzug der Bundeswehr
Die USA führen am Hindukusch, von der NATO und anderen Staaten unterstützt, einen Krieg um die strategische Vorherrschaft in einer rohstoffreichen Region. Dies geschieht unter dem Deckmantel der Terroristenbekämpfung. Der NATO-Krieg fördert Hass. Er bildet den Nährboden für den militärischen Dschihad unter den Abermillionen perspektivloser Jugendlicher inmitten der 1,2 Milliarden Muslime auf der Erde. Der „War on Terror“ ist ein Terroristenförderungsprogramm und ist militärisch nicht zu gewinnen. Je eher das erkannt wird, desto besser. Dringend ist der zivile Aufbau Afghanistans. Ihn mit NATO-Militär absichern zu können, ist ein Irrglaube. 25 Künstler und Intellektuelle haben sich erfreulicherweise öffentlich „für einen Abzug“ (der Freitag 8.9.09) der Bundeswehr aus Afghanistan ausgesprochen. Weshalb sie der Bundeswehr für den Übergang noch zwei Jahre Aufenthaltsrecht bis zu ihrem Abzug zuerkennen wollen, ist allerdings nicht nachvollziehbar. Ein Abzug wäre binnen weniger Monate zu bewerkstelligen. Also lauten die Forderungen: Keine Mandatsverlängerung im Bundestag im Dezember und unverzüglicher Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan!

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