Initiativen für eine demokratische Republik - Gedankensplitter

Ausbruch aus dem Wahlkrampf?

von Mani Stenner
Initiativen
Initiativen

Viele Verbände und Initiativen wollen sich mit ihren Forderungen und Themen in die Wahlauseinandersetzungen des Jahres einmischen - Wahlprüfsteine zuhauf. Aber auch jeweils die Aufforderung an die Men­schen, sich engagiert einzumischen und die Gestaltung von Politik und Gesellschaft nicht den Politikern zu überlassen: dies ist auch unser Land! Die Haltung zum Parteienk(r)ampf ist unterschiedlich. Werbung für eine (rot-grüne) "Reformalternative" oder Aufbau eines BürgerIn­nenengagements für von populistischen Parteien nicht formulierbare "Alternativen von unten"?

 

Ob die Funktionäre ganz und gar verrosten -

is ja janz ejal!

Ob der schöne Rudi den Ministerposten

endlich kriegt - (das wird nicht billig kosten):

is ja janz ejal!

Dein Geschick, Deutschland, machen Industrien,

Banken und die Schiffahrtskompagnien -

welch ein Bumstheater ist die Wahl!

Reg dich auf und reg dich ab im Grimme!

Wähle, wähle! Doch des Volkes Stimme

is ja janz ejal!

        is ja janz ejal!

                     is ja janz ejal -!

Kurt Tucholsky 1929

In den bevorstehenden Wahlschlachten werden die Parteien Themen hochko­chen, die an den wirklichen Problemen vorbei­gehen und von den notwendigen radikalen, an der Wurzel ansetzenden, Änderungen der Politik und des Wirt­schaftens ablenken. Viele Initiativen wollen sich "von unten" einmischen, planen Aktionen und Kampagnen und geben Wahlprüf­steine zu "ihren" The­men heraus. Gleichzeitig steigt das Bewußtsein darüber, daß "unsere" Themen eng miteinander verknüpft sind und sich eine engere Zusam­menarbeit der Basisinitiativen lohnt: Gemeinsam sind wir unausstehlich, besonders, wenn wir unser Engage­ment weniger als kurzfristige Wahl­kampfeinmischung, sondern als Per­spektive begreifen, von unten for­mulierte Alternativen quer zu aller Parteipolitik in der Gesellschaft mehrheitsfähig zu machen. Es gibt viele Menschen in der Republik, die, politiker- aber nicht politikver­drossen, zu einschneidenderen Veränderungen bereit sind als die auf vermeintlich populistische Wege orien­tierten und am Gängelband von Lob­byinteressen hängenden Parteien. Es muß nur Sinn machen.

Eine Reihe von Diskussionen zur stärke­ren Vernetzung außerparla­mentarischer Gruppen finden unter dem Arbeitstitel "Initiative für eine demokratische Repu­blik" statt - ein durchaus mühsamer Prozess, der ganz bescheiden beginnt.

Inhaltlich geht es nicht um ein alternati­ves Parteiprogramm und or­ganisatorisch nicht um die Grün­dung eines gemein­samen (Dach-)Verbandes oder einer "APO 94". Aber wir wollen diskutieren, ob und wie sich die Mosaiksteine alter­nativer Ansätze in der Menschen- und Bürgerrechts-, Flüchtlings-, Sozial-, Frauen- und Friedens-, Eine-Welt- und Umweltpolitik zusammenfü­gen lassen und als "Initiative der Initia­tiven" durch Informationsservice und Vernet­zung dazu beitragen, daß sich die Basisakti­vitäten der verschiedenen Be­wegungen stärker aufeinander beziehen und die Wahrnehmung allgemein wächst, daß unser Engagement über die Themen­felder hinweg eng miteinander verbun­den ist.

Organisationen und Initiativen sind al­lerdings de facto schon mehr als überla­stet mit den Aktivitäten zu ihren jewei­ligen Themenbereichen. Flüchtlingsbe­treuung und -beratung z.B. ist äußerst arbeitsintensiv. Die in Flüchtlingsräten oder Men­schenrechtsorganisationen en­gagierten Menschen haben sich ein großes juristisches, soziales und die Si­tuation in den Her­kunftsländern betref­fendes Fachwissen aneignen müssen, sind mit vielen Einzelschicksalen kon­frontiert, leisten Öffent­lichkeitsarbeit, Veranstaltungen, Aufklärung und be­reiten Aktionen zum 1. Oktober (Tag des Flüchtlings) und dem Tag der Men­schenrechte im Dezember vor. Mit den umfangreichen Aktivitäten zum "Streiktag" 8. März haben die Frauen­gruppen eine ganz ermutigende Vorlage für gemeinsames Engagement über viele Gruppengrenzen hinweg gegeben.

Gruppen aus der Friedensbewe­gung und Solidaritätsbewegung sind stark ge­bunden durch die vielfältigen politi­schen und humanitären Aktivitäten zum Krieg im ehemaligen Jugosla­wien, zu Rüstungsexporten, zu Kur­distan, zu Landminen, zum Nicht­verbreitungsvertrag (NPT), zum Jä­ger 2000, zu "out-of-area" und nichtmilitärischen Konfliktregelun­gen, zu Zivilem Friedensdienst, zur Kriegsdientverweigerung usw.. Für alle diese Themen gibt es Aktivitä­ten und Kampagnen für 1994. Be­sonders gegen Fremdenfeindlich­keit, Rassismus und Neofaschismus arbeiten gerade auf lokaler Ebene oft Menschen aus politisch unterschied­lichen Lagern eng zusammen und treten u.a. für das Wahlrecht für AusländerIn­nen, grundlegende Veränderungen des Ausländerrechts, die doppelte Staats­bürgerschaft und Maßnahmen gegen Diskriminierung ein. Rechtsanwälte und kritische Polizisten warnen wie Bürger­rechtler vor weiterem Abbau von Bür­ger- und Freiheitsrechten, der Verquic­kung von Polizei und Geheimdiensten, dem Missbrauch der aufgeheizten Kri­minalitätsdebatte zum weiteren Rechts­ruck in der Innenpolitik. Es gibt ver­schiedenste Initiativen gegen soziale Demontage mit Stichworten wie bedarf­sorientierte Mindestsicherung, Um­schichtung, Steuerreform, solidarische Abgabenpolitik, etc.. Umweltverbände forcieren eine "ökologische Doppel­strategie für Umwelt und Arbeitsplätze", die Ausstiegspläne aus der Kernkraft, ökologische Umorientierung der Ver­kehrspolitik, Steuern und Wirtschaft verbindet. Mit dem Siemens-Boykott wird dazu versucht, sich die Macht der KonsumentInnen hierzulande als politi­sches Instrument anzueignen. Wahlprüf­steine liegen zu verschiedenen Themen­bereichen vor (Rüstungsexporte, Schwulenpolitik/Antidiskriminierung, Friedenskonzepte (Pax Christi),  Ökolo­gie, ...). Umwelt- und Nord-Süd-Ver­bände  haben mit der "Wahlcharta 94" schon die Themen Entwicklung und Ökologie (Rio), Frieden, Abrüstung, Gerechtigkeit und Demokratisierung in Beziehung gebracht.

Gemeinsam ist die Einsicht, daß diese Themen eng mit­einander verflochten sind. Alle Initiativen ge­meinsam wollen viele Menschen in der Gesellschaft dazu anstiften, die Gestal­tung unserer Zu­kunft nicht den Politi­kern zu überlassen, sondern einen "demokratischen Auf­bruch von unten" zu wagen und mehr Mitgestaltungs- und Mitentscheidungs­rechte der Bürge­rinnen und Bürger ein­zufordern. Die reale Politik in der Bun­desrepublik ist nicht (nur) davon abhän­gig, welche Ko­alition gerade regiert, sondern wesent­lich davon, welche Ein­sichten in der Gesellschaft getragen werden und ob sich die Bürgerin­nen und Bürger in ei­ner lebendigen, demokrati­schen Gesell­schaft selbst engagieren.

Vernetzung - Informationsfluss - Zusammenarbeit

Wir wollen einerseits alle über unseren jeweiligen Tellerrand hinaussehen, aber können uns bei endlicher zur Verfü­gung stehender Energie und Zeit nur weniger Schwerpunkte wirklich annehmen. Gleichzeitig soll durch kontinuierli­chen Informationsfluss und punktuelle gegen­seitige Unterstützung das Bewußtsein gestärkt werden, daß wir bei unseren Aktivitäten an einem Strang ziehen. Si­cherlich läßt sich der gewünschte Informationsfluss nicht dadurch bewerkstelli­gen, daß wir alle gegensei­tig alle unsere Veröffentlichungen abonnieren. Idealiter sollten die wichti­gen Dinge durch eine Redaktionsgruppe exzerpiert und regelmäßig in einem leicht verdaulichen Infodienst zusammengefasst werden, der z.B. Kampa­gnen, Materiallisten und Aktionstermine enthält und per Post, Fax und Mailbox abrufbar ist. Die Service-Büros sollten darüberhinaus entsprechende Interes­sentInnen-Verteiler aufbauen und für aktuelle Infos, evtl. auch für ReferentIn­nen-Vermittlung u.ä. ansprechbar sein. Viele Aktivitäten sind von regionaler Bedeutung, andere dürften im ganzen Bundesgebiet interessieren, so daß wir auch Strukturen regionaler Zusam­menarbeit aufbauen müssten.

Wer macht welche Arbeit? Wir können keine neuen gemeinsamen Strukturen und Büros schaffen, sondern müssen vor­handene für die bessere Vernetzung nutzen. Für bundesweit interessierende Dinge können wir uns zunächst im Bon­ner Büro des "Netzwerk Friedenskoope­rative" (das schon seit langem für die Kooperation von Initiativen weit über den Friedensbereich hinaus steht) be­mühen, ein verbessertes Infonetz aufzu­bauen, haben aber durchaus Schwierig­keiten mit den vorhandenen Arbeitska­pazitäten. Im Aufbau ist (bei WIR e.V. in Köln) auch eine alternative, antirassi­stische Nachrichtenagentur. Wichtig sind jedenfalls regionale Netzwerk-Zu­sammenschlüsse. Inwieweit leisten Or­ganisationen aus Bürgerrechts-, Frauen-, Nord/Süd-, Umwelt, Sozial, Flüchtlings- und Menschenrechtsbewegung für ihren Themenbereich dafür zusammenfas­sende nutzbare Vorar­beit? Seid Ihr, sind Basisinitiativen daran interessiert, den informationsverarbeitenden Servicebü­ros regelmäßig inhalt­liche und aktions­bezogene Infos zuzuleiten?

Gemeinsame übergreifende Initiativen?

Die Diskussion um ein "Manifest für eine demokratische Republik" hat bei den bisherigen Treffen eine große Rolle gespielt. Einige versprechen sich von einer solchen gemeinsamen Plattform einen ähnlich mobilisierenden Effekt wie weiland vom "Krefelder Appell". Bisher hat allerdings noch niemand einen ansteckend-begeisternden Entwurf vorge­legt. Wir stellen uns das Ganze z.Zt. als offenen Diskussionsprozess vor. Fast unabhängig davon, wie weit dieser Diskussionsprozess gediehen ist, könn­ten wir gemeinsame Materialien und Veröffentlichungen planen - wenn der Grundgedanke akzeptiert ist: Verknüp­fung der Themen, Mitwirkungs- und Mit­entscheidungsmöglichkeiten in einer lebendigen demokratischen Gesell­schaft. Mit einer Zeitung könnten wir die Grundgedanken und den Diskussi­onsprozess um Veränderungen an der Wurzel verbreiten, Broschüre kann ver­tiefen, ein Aktionsleitfaden Tipps und Mut zum Einmischen geben, ein Buch zum Standardwerk für Politikansätze von unten wer­den, Aufkleber, Postkar­ten etc. das übergreifende Motto, Sym­bol oder Label transportieren .... Auch dies "Label" muß allerdings noch ge­funden werden.

Einige Aktionstage zu bestimmten Themen werden bereits geplant z.B. zum 1. September (Antikriegstag), zum 1. Oktober (Tag des Flüchtlings), vor­aussichtlich zum Jahrestag der Pogrom­nacht 9. November und dem 10. De­zember (Tag der Menschenrechte) .... Wenn solche Aktions­tage gemeinsam propagiert werden, können sie sich ge­genseitig stärken, besonders wenn sie sich jeweils bewusst auf den übergrei­fenden Rahmen der Politik von unten beziehen und sich darin einordnen.

Eine größere Herbstaktion kann Sinn machen, wenn in den nächsten Monaten eine Dynamik sozialer Bewegung ent­steht. M.E. täten wir alle gut daran, dazu beizutragen, daß Engagement mit alter­nativen Politikentwürfen verbunden ist und sich nicht "nur" auf den Protest ge­gen einen Rechtsruck beschränkt. Bei einem hohen Stimmenanteil für Reps und neonazistische Parteien in der Landtagswahl Niedersachsen oder der Europawahl könnte durchaus eine Ab­wehr-Bewe­gung entstehen, die sich bis zur Bundestagswahl auf die Formel "Keine Rechtsradikalen in die Parla­mente" verengt.

Manche unter uns träumen von einer Großkundgebung auf der Bonner Hof­gartenwiese am 8. Oktober. Sollte so etwas möglich werden, müsste der Ver­anstalterkreis einer Kundgebung 1 Wo­che vor der Bundestagswahl extrem un­abhängig von allen parteipolitischen Interessen handeln, die Kundgebung an­hand der Inhalte alternativer Politik vor­bereiten und gerade nicht als Wahl­kampfeinmischung für irgendein Re­form-Regierungsbündnis ů la rot-grün gestalten. Die "Botschaft" müsste darin bestehen, daß wir "Politiker­verdrossenen" die Politik ge­rade nicht den Parteien überlassen wol­len, daß "von unten" Vorschläge für tiefg­reifende Veränderungen getragen werden, und daß gesellschaftliche Mehr­heiten für Politikinhalte und das Enga­gement der Bürgerinnen und Bürger da­für wichtiger für tatsächliche Verände­run­gen sind als die Zusammen­setzung der Regierung und eigenes En­gagement sich lohnt. Die Diskussion um eine solche Veranstaltung brauchen wir aber im Moment noch nicht zu führen.

Es kann auch sinnvoll sein, Wahlter­mine für inhaltlich Einmischung zu nut­zen. So könnten in einer nicht-flächen­deckenden Aktion Infostände von In­itiativen bei Wahllokalen Befragungen und Unterschriftensammlungen durch­führen, jeweils zu einem Thema, also hier zu AusländerInnen-Wahlrecht / doppelte Staatsbürgerschaft, dort zu Bundeswehr / Rüstungsexport / Rü­stungshaushalt, dort zu Ausstieg aus der Kernkraft, dort zu Volksbegehren / Volksentscheid .... Fest geplant ist be­reits die Befragung zum "Eurofighter 2000".

Sicher gibt es noch viele gute Ideen für übergreifende Aktivitäten, wir müßten bald entscheiden, was wir in diesem Sinn gemeinsam angehen und was Gruppen selbständig, aber aufeinander bezogen durchführen werden.

Das nächste Beratungstreffen "für eine demokratische Republik" im "Westen" findet am Samstag, 18. Juni 94 von 11 - 16 Uhr in Frankfurt statt. Nach Mög­lichkeit vorher soll ein ähnliches Treffen in Berlin stattfinden.

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