Ausgrenzung. Entrechtung. Widerstände.

Ausgrenzung. Entrechtung. Widerstände.

von Sebastian Rose
Schwerpunkt
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Seit Jahren ist das Thema Abschiebungen ein umstrittenes politisches Feld. Was aber sind Abschiebungen genau? Zunächst einmal handelt es sich bei Abschiebungen um das zwangsweise Außerlandesbringen von Menschen gegen ihren Willen. Es handelt sich dabei immer um eine praktische Form staatlich legitimierter Gewalt. Abschiebungen betreffen nichtdeutsche Menschen ohne ein sicheres Bleiberecht. Dass deutsche Staatsangehörige nicht betroffen sind, war aber historisch nicht immer so.

Unter den Begriff Abschiebungen lassen sich heute verschiedene Formen fassen: Da sind zum einen die von den Behörden und Regierungen vielfach so genannten „Rückführungen“ von Menschen gegen ihren Willen in die (teils: vermeintlichen) Herkunftsländer. Daneben zählen zu den Abschiebungen die verniedlichend so genannten „Überstellungen“ in andere europäische Staaten auf Grundlage der Dublin-III-Verordnung. Weitere Varianten sind daneben die sogenannten Zurückweisungen an den deutschen Grenzen und die Zurückschiebungen als Außerlandesbringen von Menschen im grenznahen Bereich.

Abschiebungen gehören zu den Instrumenten eines auf Abschreckung und Abschottung ausgelegten EU-Grenzregimes. Sie haben zugleich, so die Politikwissenschaftlerin Sieglinde Rosenberger, „für Nationalstaaten eine immens hohe Symbolkraft“. (1) Während nach außen in Folge der Abriegelung der EU-Außengrenzen gegenüber Schutzsuchenden, des Aufbaus eines Netzes von geschlossenen Lagern und des Beschneidens des Zugangs zum Recht auf Asyl vermittelt wird, dass niemand jenseits der engen vorgesehenen, sogenannten „legalen“ Wege nach Europa hineingelangen kann, symbolisiert das Instrument Abschiebungen nach innen, dass letztlich nur jene Menschen zur deutschen Gesellschaft gehören, die über einen deutschen Pass verfügen.

Von Abschiebungen im „großen Stil“ zu menschenrechtlichen Abgründen
Die Praxis von Abschiebungen ist in den 2010er und 2020er Jahren immer wieder Gegenstand intensivster politischer Debatten. Einen weiteren Höhepunkt bildete das Diktum von Bundeskanzler Olaf Scholz im Herbst 2023. Der Kanzler versprach im SPIEGEL-Titelinterview „Abschiebungen im großen Stil“.

Wann aber wird über Abschiebungen besonders intensiv und vielfach auch populistisch gestritten? Die Debatten sind immer dann besonders intensiv, wenn Menschen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit schwerster Straftaten verdächtigt werden. Dann greifen die immer gleichen Reflexe: Einfache Lösungen für komplexe Herausforderungen werden propagiert, angetrieben von den Rechtsaußenparteien, aber befördert auch von den Parteien der Mitte, angefeuert aber auch von Zeitungen wie BILD und WELT sowie einer vielfach entgrenzten, rassistischen und menschenverachtenden Debatte auf den Social Media-Kanälen. So löste der Anschlag mit drei Toten auf ein Stadtfest in Solingen im August 2024, den der sogenannte Islamische Staat für sich reklamierte, innerhalb weniger Tage eine (erneute) intensive Debatte über Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien, Leistungskürzungen für Schutzsuchende, für die ein anderer europäischer Staat nach der Dublin-Verordnung zuständig ist, sowie Zurückweisungen an den deutschen Grenzen aus. Der Grund dafür war, dass der Tatverdächtige ein syrischer Staatsangehöriger ist, der nach Deutschland geflüchtet war und den die Behörden im Jahr 2023 auf Basis der Dublin-Verordnung nach Bulgarien abschieben wollten, was allerdings misslang. Viele der erhobenen Forderungen erwiesen sich bei näherem Hinsehen als verfassungs-, europa- und/oder völkerrechtswidrig.

Ähnliche Schlagrichtungen nahmen politische Auseinandersetzungen an nach einem mutmaßlichen Mord in Bad Oeynhausen im Juni 2024, nach dem Tod eines Polizisten in Mannheim im Mai 2024 oder nach einem Messerangriff in einem Zug in Brokstedt im Januar 2023. Gemein ist all diesen Debatten, dass sie weniger nach den Ursachen von Gewalt, nach Gründen für Terrorismus und Extremismus fragen als vielmehr jegliche (auch zukünftig zu erwartende) Gewalt allein nichtdeutschen Menschen zuschreiben, Millionen Menschen in Deutschland damit pauschal in Mithaftung nehmen und unter Generalverdacht stellen und als vermeintliche Lösung – neben anderen sicherheitspolitischen Verschärfungen – eine härtere Abschiebepraxis fordern.    

Arbeit des Abschiebungsreporting NRW zeigt auf: Sicherheitsdiskurs bei Abschiebungen geht an Realität vorbei
Die Verengung der Diskussion auf die Frage von Abschiebungen von verurteilten Straftäter*innen und als besonders gefährlich deklarierten Menschen verzerrt dabei die Realität. Aus Deutschland wurden im Jahr 2023 bundesweit 16.430 Menschen abgeschoben (NRW: 3.663), darunter waren 2.863 Minderjährige (17,4 Prozent). Im ersten Halbjahr 2024 stiegen die absoluten Abschiebezahlen gegenüber dem Vorjahr nochmals an. Wie viele dieser Menschen vorbestraft waren oder wie viele Menschen darunter waren, die von staatlichen Stellen als besonders gefährlich deklariert worden sind, ist nicht bekannt. Viele Bundesländer erheben diese Frage nicht. Die NRW-Landesregierung konnte auf eine Presseanfrage im Mai 2023 nicht einmal die Gesamtzahl der Abschiebungen direkt aus landeseigenen Justizvollzugsanstalten angeben.

Die Arbeit des Projektes Abschiebungsreporting NRW zeigt dagegen auf: Während Politik, Behörden und Medienberichterstattung allzu oft suggerieren, es würden vorwiegend „Straftäter*innen“ oder „Gefährder“ abgeschoben, treffen Abschiebungen tatsächlich vor allem Familien mit Kindern, Menschen in Arbeit und Ausbildung, Angehörige von Minderheiten, Menschen mit psychischen oder körperlichen Erkrankungen, aber auch Schwangere und Rentner*innen. Abgeschoben werden auch Menschen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Ende Mai 2024 haben das Abschiebungsreporting NRW und das Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V. gemeinsam ein Buch herausgegeben. (2) Insgesamt sind darin rund 110 Fälle von drohenden, versuchten und vollzogenen Abschiebungen durch etwa 50 der 81 nordrhein-westfälischen kommunalen Ausländerbehörden sowie der fünf teils allein zuständigen, teils unterstützend agierenden Zentralen Ausländerbehörden erfasst und dokumentiert – mal knapp angerissen, mal sehr umfassend nachgezeichnet. Bei all diesen Abschiebungen kommt es zu zahlreichen menschenrechtlich problematischen Praktiken: Von Familientrennungen bei Familien mit minderjährigen Kindern wird immer wieder berichtet. Abschiebungen aus stationären Einrichtungen wie Psychiatrien sind keine Einzelfälle. Auch das Instrument der Abschiebehaft wird massenweise angewendet. (3) Und immer wieder kommt es auch zu rechtswidrigen Abschiebungen, wenn etwa Gerichtsentscheidungen keine Beachtung mehr finden.

Widerstände
Das Buch zeigt auch an vielen Beispielen auf, wie Widerstände gegen die immer rigider werdende Abschiebepraxis aussehen. Teils liegt nur ein Tag zwischen Inhaftierung in Abschiebehaft und Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, was deutlich macht, wie willkürlich die Praxis teils ist. Als etwa der Koch des Kölner Restaurants Bagatelle Habib K. im Frühjahr 2022 in Abschiebehaft kam, organisierte der Arbeitgeber eine Online-Petition, die binnen weniger Stunden zehntausendfach unterzeichnet wurde. Der damalige Flüchtlingsminister Joachim Stamp sagte eine Neuprüfung des Falles zu, der Rhein-Sieg-Kreis erteilte eine Aufenthaltserlaubnis.   

Anmerkungen
1 Sieglinde Rosenberger, „Im großen Stil abschieben“: Mehr als performative Politik?, in: FluchtforschungsBlog vom 17.11.2023.
2 Sebastian Rose/Sascha Schießl, Abschiebungen in Nordrhein-Westfalen. Ausgrenzung. Entrechtung. Widerstände, Köln 2024. Herausgegeben von Abschiebungsreporting NRW & Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V. Das Buch ist in kleiner Auflage im Eigenverlag erschienen und steht daneben kostenlos als PDF auf der Website des Abschiebungsreporting NRW zur Verfügung (www.abschiebungsreporting.de)
3 Abschiebehaft ist eine Zivilhaft, die einzig und allein dem Ziel einer späteren Abschiebung dient und nicht mit einer Strafhaft verwechselt werden darf.

 

Kontakt:

Sebastian Rose | Abschiebungsreporting NRW | Komitee für Grundrechte und Demokratie e.V. | www.abschiebungsreporting.de | rose(at)abschiebungsreporting.de | Telefon: 0221 / 972 69 –32 | X:@abschiebung_nrw | Instagram: abschiebungsreporting_nrw | Bluesky: @abschiebungnrw.bsky.social

 

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Sebastian Rose ist seit August 2021 Referent im Projekt Abschiebungsreporting NRW. Davor war er von Februar 2014 bis August 2021 Referent beim Flüchtlingsrat Niedersachsen e.V., davon seit Februar 2017 Referent der Geschäftsführung.