Folgen des Kriegs für NATO, UN und das internationale Kontrollregime für Atomwaffen

Auswirkungen des Ukrainekriegs

von Andreas Zumach
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Putin-Russlands Krieg gegen die Ukraine geht weiter. Ein Ende ist nicht absehbar. Schon jetzt hat der Krieg über die unmittelbaren Opfer und Zerstörungen in der Ukraine hinaus vier zum Teil miteinander verbundene sehr negative Auswirkungen:

  • Das anachronistische Militärbündnis der NATO ist deutlich erstarkt.
  • Das internationale Regime zur Kontrolle von Atomwaffen wurde auf gefährliche Weise geschwächt.
  • Die schon vor dem Krieg sehr geringen Aussichten auf eine verbesserte Handlungsfähigkeit der UNO und die überfällige Reform ihres Sicherheitsrates sind noch schlechter geworden.
  • Im Globalen Süden droht die größte Ernährungskrise und Hungerkatastrophe seit mindestens Ende des Kalten Krieges.

Man könnte fast meinen, der russische Präsident Wladimir Putin agiere inzwischen insgeheim als Agent der NATO. Denn was Putin bereits in den ersten drei Monaten seines Krieges erreicht hat, ist gemessen an all seinen scharfen kritischen Äußerungen der letzten Jahre zur NATO und ihrer Osterweiterung völlig kontraproduktiv: Die NATO steht inzwischen so geschlossen da, wie in den über 20 Jahren seit ihrem völkerrechtswidrigen Luftkrieg gegen Serbien im Jahr 1999 nicht mehr. Die Führungsrolle der USA und ihre Funktion als atomare Schutzmacht der Allianz, die nicht nur in den vier Jahren der Präsidentschaft von Donald Trump bei den europäischen Verbündeten in erhebliche Zweifel geraten war, ist wieder unhinterfragt. Vergessen ist, dass Frankreichs Präsident Emanuelle Macron die NATO Ende 2019 als „hirntot“ kritisiert hatte. Die beiden seit 1945 bewusst neutralen, blockunabhängigen Staaten Finnland und Schweden haben bei der NATO die Mitgliedschaft beantragt. Denn aus der Minderheit in den Bevölkerungen und den politischen Parteien beider Länder, die auch schon früher einen Beitritt ihres Landes zu der Militärallianz befürworten, wurde seit Beginn des Ukrainekrieges am 24. Februar eine Mehrheit. Der Beitritt wird noch im Laufe dieses Jahres erfolgen. Auch in der historisch noch stärker als Finnland und Schweden auf ihre Neutralität bedachten Schweiz mehren sich die Stimmen, die die bereits seit den 1950er Jahren bestehenden „inoffiziellen“ und „informellen“ Kontakte, Absprachen und Kooperationen mit der NATO beziehungsweise mit einzelnen NATO-Staaten jetzt intensivieren wollen.

Schwächung der UNO
Zugleich wird dieser Beitritt aber auch die UNO schwächen. Denn die neutralen, blockunabhängigen Staaten Schweden und Finnland gehörten bislang zu den politisch profiliertesten und finanziell engagiertesten Mitgliedern der UNO. Sowohl im Bereich der humanitären Hilfe und bei der Unterstützung des UNO-Hochkommissariats, bei Abrüstungs- und Rüstungskontrollverhandlungen wie auch mit ihrer Beteiligung an UNO-Blauhelmeinsätzen. Schweden sowie - in etwas geringerem Maße - Finnland, sind auch die einzigen UNO-Staaten, die die Resolution 1325 des Sicherheitsrates vom Oktober 2000 zu „Frauen, Frieden und Sicherheit“ sowohl in ihren eigenen Streitkräften wie auch bei ihrem Handeln im Rahmen von UN0-Missionen zumindest weitgehend umgesetzt haben. Es besteht die Gefahr, dass dieses unabhängige und eigenständige Profil Finnlands und Schwedens nach ihrer Einbindung in die NATO immer mehr abgeschliffen wird, und dass die beiden Staaten in ihrem Handeln und bei ihren künftigen Beiträgen zu UNO-Missionen unter den Druck der Bündnistreue und der militärischen Logik der NATO geraten. Damit dürften auch die Stimmen noch schwächer werden, die bislang dafür plädieren, dass die UNO endlich eine eigene, ständige Blauhelmtruppe oder zumindest robuste Polizeiverbände erhält, um eventuell notwendige Einsätze zur Verhinderung/Beendigung von Völkermord und anderen schweren Menschenrechtsverletzungen oder zur Bewahrung/Wiederherstellung des Friedens und der internationalen Sicherheit auch eigenständig durchführen zu können. Doch statt dieser seit langem überfälligen Maßnahme zur UNO-Reform wird die - angeblich alternativlose - Rolle der NATO und ihr Image als einzig handlungsfähiger militärischer Akteur, auf den die UNO im Bedarfsfall angewiesen sei, weiter befestigt.

Destabilisierung der Atomwaffenkontrolle
Der Krieg könnte auch dazu führen, dass der letzte Konsens, der zwischen den fünf ständigen Mächten des Sicherheitsrates (P5) bislang noch herrschte, zerbröselt. Bei dem Versuch, die weitere Verbreitung von Atomwaffen zu verhindern, zogen die P5 in den letzten 50 Jahren seit Verabschiedung des Vertrages zur Nichtverbreitung (Non Proliferation Treaty, NPT) von Atomwaffen immer am selben Ende desselben Stricks. Das galt zuletzt sowohl für die Verhandlungen mit Teheran zur Rettung des Abkommen über das iranische Nuklearprogramm wie für das Handeln gegenüber den Atomwaffenbestrebungen Nordkoreas. Doch die gemeinsame Front könnte jetzt bröckeln. Einige Beobachter*innen der Verhandlungen mit Iran befürchten, dass die Regierung Putin aus der gemeinsamen Haltung gegenüber Teheran ausscheren könnte. Möglich ist auch, dass die iranische Regierung das Interesse an der Wiederbelebung des Nuklearabkommens und der damit verbundenen Aufhebung der US-Sanktionen gegen Iran verlieren könnte. Denn auf Grund der deutlichen gestiegenen Weltmarktpreise für Öl und Gas verdient Iran inzwischen vor allem durch die gesteigerten Exporte nach China wieder sehr viel Geld aus dem Verkauf fossiler Energien. Auch Russland hat ein Interesse daran, dass die Weltmarktpreise für Öl und Gas möglichst hoch bleiben. Sollte das Iran-Abkommen endgültig scheitern, ist ein militärisches Vorgehen der USA, Israels und Saudi-Arabiens gegen Iran ebenso zu befürchten wie ein Rüstungswettlauf mit Massenvernichtungswaffen im Nahen und Mittleren Osten unter Beteiligung von Ländern wie Saudi-Arabien, Türkei, Ägypten, Israel und Iran.

Doch selbst wenn dieses Szenario nicht eintritt: Der Ukrainekrieg - auch wenn er nicht, wie manche befürchten, nuklear eskaliert - beeinflusst und verändert die Wahrnehmung von Atomwaffen auf gefährliche Weise. Die Regierung Putin hat ziemlich unverhohlen mit dem Einsatz atomarer Waffen gedroht. Anders als in zahlreichen Politikeräußerungen und Medienberichten behauptet wird, ist das allerdings keineswegs das erste Mal, dass eines der fünf ständigen Mitgliedsstaaten des UNO-Sicherheitsrates eine derartige Drohung ausspricht. Im Irakkrieg vom Frühjahr 1991 ließ die damalige Administration von Georg Bush senior Saddam Hussein nichtöffentlich wissen, dass auf den US-Kriegsschiffen im Persischen Golf Atomwaffen stationiert seien. Vor ihrem völkerrechtlichen Krieg der USA gegen Irak im Frühjahr 2003 drohten sowohl Präsident George Bush wie Pentagonchef Donald Rumsfeld dem irakischen Diktator Saddam Hussein öffentlich mit dem Einsatz von Atomwaffen. Und zwar nicht nur für den Fall, dass Hussein seinerseits die von Washington damals zur Kriegsrechtfertigung behaupteten, aber gar nicht existenten irakischen Massenvernichtungswaffen einsetze. Rumsfeld drohte auch ausdrücklich den Einsatz von US-Atomwaffen zur Zerstörung unterirdischer Bunker im Irak an. Der am Krieg beteiligte britische Premierminister Tony Blair machte sich diese Drohungen der Bush-Administration zu eigen. Schließlich drohte US-Präsident Donald Trump im September 2016 in seiner Rede vor der UNO-Vollversammlung in New York Nordkorea mit dem „atomaren Feuertod“.
Putins aktuelle Drohung hat aber weitreichendere Folgen.

Erstens: Nach dem Ende des Kalten Krieges hatte die Sowjetunion und dann auch Russland auf die bis dato in der Nuklearstrategie enthaltenen Optionen verzichtet, in einem bewaffneten Konflikt als erster Atomwaffen einzusetzen sowie A-Waffen gegen ein nichtatomares Land einzusetzen. Die Nuklearstrategie der NATO hingegen sieht diese beiden Optionen bis heute vor. Mit seiner Drohung zum Atomwaffeneinsatz - sei es mit „strategischen Streitkräften“ gegen die USA oder mit taktischen Atomwaffen gegen Ziele in der Ukraine - hat Putin Moskaus Verzichterklärungen praktisch obsolet gemacht.

Zweitens: Putin kann seinen konventionellen Krieg gegen die Ukraine nur deshalb weiterführen, weil er mit dem Atomwaffeneinsatz droht. Damit verhindert er jegliches direkte, über Waffenlieferungen an die Ukraine hinausgehendes Eingreifen der NATO oder anderer dritter Staaten - und sei es auch nur zur Schaffung einer Flugverbotszone. Die NATO müsste bei einem Eingreifen nicht nur den Einsatz russischer Atomwaffen befürchten, sondern sie weiß, dass sie dann auch selber schnell unter den Eskalationsdruck ihrer eigenen Militärstrategie zum Einsatz von Atomwaffen geraten würde.

Im Gegensatz zu allen offiziellen sicherheitspolitischen Doktrinen zeigt dieser Krieg also, dass Atomwaffen kein funktionierendes Instrument zur Abschreckung von Verhinderung von Kriegen sind, sondern dass sie die fortgesetzte Führung eines konventionellen Angriffskrieges erst ermöglichen. Die Atomwaffen Russlands sind im Ukrainekrieg also indirekte Kriegsführungswaffen. Die Atomwaffen der NATO untaugliche Instrumente zur Verhinderung oder Beendigung des Krieges. Damit ist dieser Krieg ein schlagendes Instrument für die Forderung nach weltweiter Abschaffung von Atomwaffen und dem Beitritt zu dem UNO-Verbotsabkommen.

Drittens: Tatsächlich geschieht jedoch das genaue Gegenteil. Die USA und ihre NATO-Verbündeten instrumentalisieren den Ukrainekrieg zur Bekräftigung ihrer Atomwaffenpolitik und zur beschleunigten Durchführung der „Modernisierung“ und Aufrüstung ihrer atomaren Potentiale. Deutlichstes Beispiel hierfür ist Deutschland, wo alle noch vor dem Krieg geführten kritischen Diskussionen zur sogenannten „nuklearen Teilhabe“ des Landes verstummt sind. Stattdessen wird die Beschaffung neuer US-Kampfflugzeuge für die Bundesluftwaffe zum künftigen Einsatz der in Büchel stationierten und derweil modernisierten US-Atombomben jetzt im Eiltempo und mit Sonderhaushaltsmitteln durchgezogen. Auch auf russischer Seite geht die „Modernisierung“ und Aufrüstung der atomaren Waffenarsenale weiter. Die von Putin Anfang 2018 angekündigte und inzwischen in ersten Exemplaren an die russische Luftwaffe ausgelieferten Hyperschallraketen vom Typ „Kinschal“ (Dolch) kann laut einer Mitteilung des Militärministeriums in Moskau auch mit Atomsprengköpfen bestückt werden können. Sie soll nach ihrem Abschuss von einem MIG-31- Kampfflugzeug mit 12.350 km/h die sechsfache Schallgeschwindigkeit erreichen und Ziele in bis zu 2.000 Kilometer Entfernung mit einer Zielungenauigkeit von maximal einem Meter zerstören können. Zudem sind sie sehr manövrierfähig, können ihren Kurs noch im Flug verändern und damit auch mobile Ziele treffen. Seit Beginn des Krieges hat Russland bis Mitte Mai nach eigener Darstellung bereits „mehrfach“ (nach Angaben des Pentagon „zehn bis zwölf Mal“) mit konventionellen Sprengköpfen bestückte „Kinschal"-Raketen eingesetzt. Zumeist gegen ukrainische Militäranlagen und unterirdische Bunker.

Offensichtlich in Reaktion auf diese Einsätze gab das Kommando der US-amerikanischen Luftwaffe am 17. Mai den „erfolgreichen Test“ einer neu entwickelten US-amerikanischen Hyperschnellrakete vor der kalifornischen Küste bekannt. Auch diese Rakete mit der Typenbezeichnung AGM-183A Rapid Response Weapon (ARRW) kann mit Atomsprengköpfen bestückt werden.

Durch die Ausrüstung der russischen und der US-amerikanischen Luftstreitkräfte mit Hyperschallraketen, die auf Grund ihrer technischen Fähigkeiten die Vorwarnzeiten für den Gegner und seine Möglichkeit zur Abwehr gegen Null reduzieren, wird das System der gegenseitigen Abschreckung auf gefährliche Weise destabilisiert.

Viertens: Putin-Russlands Krieg gegen die Ukraine schwächt die politische Bindekraft des NPT, ebenso wie der US-amerikanisch/britische Krieg gegen Irak im Jahr 2003. „Hätte Saddam Hussein tatsächlich atomare Massenvernichtungswaffen gehabt, wie die ihm von Washington und London zu Unrecht vorgeworfen wurde, dann wäre Irak nicht angegriffen und er nicht gestürzt worden.“ Diese Schlussfolgerung wurde damals in vielen Hauptstädten vor allem im Globalen Süden aus dem Irakkrieg gezogen, aber auch in so manchen friedens- und sicherheitspolitischen Debatten in westlichen Ländern. Damit wurden Zweifel genährt am NPT und die Meinung befördert, die Beschaffung von Atomwaffen sei die einzig verlässliche Versicherung für ein Land gegen einen Angriff von außen. Derselbe Effekt ist auch in Folge des Ukrainekrieges zu beobachten. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj leistet diesen Zweifeln und Meinungen Vorschub mit seiner Behauptung, die Ukraine wäre nicht angegriffen worden, wenn sie sich 1994 nicht auf das jetzt von Russland verletzte Budapester Memorandum eingelassen hätte. Doch diese auch von vielen westlichen Politiker*innen und Medien verbreitete Behauptung ist eine Legende. Richtig ist: Mit dem Budapester Memorandum verzichtete die Ukraine (ebenso wie Belarus und Kasachstan) im Gegenzug zur Garantien Russlands, der USA und Großbritanniens für ihre staatliche Souveränität und die Sicherheit ihrer Grenzen zwar auf die Atomwaffen, die noch aus Zeiten der Sowjetunion auf ihrem Territorium lagerten. Doch die operative Kontrolle und Verfügungsgewalt zum Einsatz dieser Atomwaffen (auch jener auf den Territorien von Belarus und Kasachstan) lag immer in Moskau. Die Ukraine hatte niemals eine atomare Abschreckungskapazität, auf die sie mit dem Budapester Memorandum verzichtet hätte, und die sie ohne diesen Verzicht heute vor dem Überfall Russlands bewahrt hätte. Im Übrigen war das vorrangige Interesse der Regierungen in Washington, London und Moskau an der Vereinbarung des Budapester Memorandums nicht, drei neue Atomwaffenstaaten zu verhindern, sondern die Sorge, die Sprengköpfe oder atomares Spaltmaterial könnten aus den drei ex-sowjetischen Republiken in Drittländer gelangen oder in die Hände von Terroristen oder anderer nichtstaatlicher Gewaltakteure.

Größte globale Hungerkrise seit Ende des Kalten Krieges
Über die beschriebenen schädlichen Auswirkungen von Putin-Russlands Krieg gegen die Ukraine hinaus wird dieser Krieg möglicherweise im Globalen Süden zu einer der größten Ernährungskrisen und Hungerkatastrophen mindestens seit Ende des Kalten Krieges. Mit Opfern, die die Zahl der in der Ukraine durch den russischen Angriff unmittelbar getöteten und verwundeten Zivilist*innen und Soldat*innen weit übertreffen könnte. Schon jetzt ist absehbar, dass Staaten wie zum Beispiel Ägypten, deren Versorgung mit Weizen zu über zwei Drittel von Importen aus der Ukraine abhängig ist, wegen der russischen Blockade der ukrainischen Häfen am Asowschen Meer spätestens ab Herbst dieses Jahres große Teile der eigenen Bevölkerung nicht mehr ernähren könnten. Es drohen noch größere humanitäre Katastrophen als in den letzten Jahren in Syrien und im Jemen. Entsprechend groß wird die Herausforderung für die UNO, ihre humanitären Unterorganisationen und vor allem für die Wohlhabenderen unter den 193 Mitgliedsstaaten sein, diese Katastrophe zumindest abzumildern.

Der Beitrag wurde im Mai 2022 verfasst und von der Redaktion gekürzt.

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