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Über den Widerstand gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21
Bei Abriss Aufstand! - Interview mit Paul Russmann
von„Stuttgart 21" ist ein stark umstrittenes Verkehrs- und Städtebauprojekt zur Neuordnung des Eisenbahnknotens Stuttgart und der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm. Kernstück ist die Umwandlung des Stuttgarter Hauptbahnhofs (Kopfbahnhof) in einen unterirdischen Durchgangsbahnhof.
Seit den Abrissarbeiten am Nordflügel des Hauptbahnhofs beteiligen sich an den zahlreichen Demonstrationen jeweils mehrere Zehntausend Menschen. Wie auch bei den anderen großen Protestbewegungen der Vergangenheit ist der lokale Bezug ein ausschlaggebender Faktor für die Mobilisierung der BürgerInnen (vgl. Wyhl, Gorleben, Mutlangen).
Wir dokumentieren im folgenden ein Interview mit Paul Russmann, hauptamtlicher Mitarbeiter der ökumenischen Aktion Ohne Rüstung Leben (ORL) und Mitglied im Trägerverein der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden.
Wie breit ist die Widerstandsbewegung, wer ist dabei?
Der Protest zeichnet sich aus durch Ideologiefreiheit. Der Widerstand vereint Menschen unterschiedlicher Berufe und sozialer Herkunft, darunter auch enttäuschte CDU-Mitglieder und ehemalige FDP-WählerInnen. UmweltschützerInnen, Fahrgastverbände, GRÜNE und SÖS/Linke bilden das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 und organisieren vor allem die Demonstrationen. Dazu kommen die „ParkschützerInnen”. Sie wollen mit gewaltfreien Mitteln des zivilen Ungehorsams verhindern, dass 280 Bäume im von den Baumaßnahmen ebenfalls betroffenen Schlossgarten gefällt werden.
Wie stehen die OrganisatorInnen zur Gewaltfreiheit?
Nicht Gewaltfreiheit steht im Mittelpunkt, sondern gewaltfreies Handeln! Immer wieder wird der Aktionskonsens verlesen, in dem die Protestierenden sich für gewaltfreie Aktionen aussprechen und auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel achten wollen (siehe Kasten auf S. 2). In Trainingsgruppen wird das Verhalten bei Sitzblockaden und das Anketten an Bäume geübt. Beim Umgang der Polizei mit den Protestierenden merkt man die Erfahrungen aus den 80ern: Die Polizei ist professionell vorbereitet im Wegtragen. Ruppiger war und ist die Polizei bei „Nacht- und Nebelaktionen”.
Wie ist das Aktionsbündnis auf Aktionstrainings gekommen und wie sehen sie aus?
Im Aktionsbündnis machen erfahrene AktionstrainerInnen mit, aber auch solche, die bei den ersten Aktionstrainings dabei waren und jetzt selbst welche durchführen. Dort wurde und wird sehr pragmatisch und gut innerhalb von wenigen Stunden erklärt, wie beispielsweise geräumt wird oder wie juristische Folgen aussehen könnten. Alles ohne moralischen Zeigefinger und ohne Ideologie - gut für ein gemeinsames Selbstverständnis.
Wie würdet ihr mit gewaltsamen Ausschreitungen umgehen?
Der Aktionskonsens legt fest: Wer Gewalt gegen Menschen anwendet, gehört nicht „zu uns”! Sachbeschädigung bzw. Sabotage gehören nicht zum Aktionskonsens. Bei den bisherigen Aktionen standen konstruktive Aktionen im Vordergrund. Es ist zu beobachten, dass enttäuschte und empörte Konservative eher bereit sind, härter vorzugehen, als Erfahrene aus den verschiedenen Bewegungen. Die sind besonnener und scheinen auch die Folgen zu bedenken.
Welche Erfahrungen mit Presse/Medien hat die Bewegung bisher gemacht?
Die Berichterstattung ist unterschiedlich: Zunächst wurde von den beiden Stuttgarter Zeitungen offensiv die Pro-Linie verfolgt. Jetzt wird ausführlich über die Proteste berichtet. Das „Sommerloch” schaffte zusätzlich bundesweite Aufmerksamkeit. Und inzwischen kommt die Presse nicht mehr an den über 40 Montagsdemos und den zahlreichen Aktionen Zivilen Ungehorsams vorbei.
Haben die Aktionen eine Meinungsverschiebung in der Öffentlichkeit erreicht?
Nach aktuellen Umfragen vom SWR und der Stuttgarter Zeitung ist die Unterstützung der Protestbewegung sehr groß. Im „Ländle” gibt es eine Mehrheit gegen Stuttgart 21, in Stuttgart sogar eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Die Umfragewerte für die CDU und FDP sind gesunken. Die SPD bleibt für Stuttgart 21, fordert jetzt aber einen Volksentscheid. Die dauerhaften Aktionen und fantasievollen Proteste bewirken, dass sich immer mehr Menschen engagieren - z.B. bei den täglichen Blockaden gegen den Abtransport von Baumaterialien, der Übertretung der Bannmeile sowie bei der spektakulären Aktion meiner Bezugsgruppe mit etwa 40 Leuten, die einen Bohrer à la Christo in 1.200 m Folie einpackten mit dem Vermerk „Zurück an Absender”. Das hat sogar die Polizei amüsiert.
Welche konstruktiven Lösungsvorschläge bzw. Wege zu einer Lösung seht ihr?
Der Ausstieg aus Stuttgart 21 bleibt als Forderung weiterhin bestehen. Das Aktionsbündnis ist bereit zu Gesprächen an einem Runden Tisch, aber verbunden mit einem Baustopp und der Bereitschaft, über einen grundsätzlichen Ausstieg aus Stuttgart 21 zu diskutieren. Über 55.000 Menschen aus beiden Lagern haben bisher einen Aufruf für ein Moratorium der Baumaßnahmen und einen Volksentscheid unterschrieben. Selbst die Gewerkschaft der Lokführer fordert inzwischen einen Baustopp.
Unter dem Motto „Oben bleiben!” wird als Alternative „K 21" gefordert. Es liegt ein Entwurf für einen modernisierten und verbesserten Kopfbahnhof vor, der zu einem taktoptimierten Verkehrsknoten ausgebaut werden könnte. Der Park und auch das als Bau- und Kulturdenkmal geschützte Gebäude des Bonatz-Bahnhofs blieben davon unberührt.
Was gibt Euch Mut und das Durchhaltevermögen?
Wir befinden uns jetzt (Mitte September) in der 6. Woche der Hochphase, täglich finden kreative Aktionen statt: An den Wochenenden kommen ca. 60.000 Menschen! Jeden Tag blockieren Leute, es gibt weiterhin Trainings in zivilem Ungehorsam, Vorträge, Konzerte, Künstleraktionen, Frühstücksblockaden - kurz, eine Vielfalt von täglichen Aktionen mit vielen Menschen.
Das macht Mut und hält den Widerstand zusammen. Und der Protest wird täglich breiter. Er wird jetzt auch von Berufsgruppen getragen: SteuerberaterInnen, IngenieurInnen, GeologInnen, Angestellte von Krankenkassen, Verwaltungsleute, KleinunternehmerInnen, Selbstständige usw. Es macht einfach Spaß, ich lerne z.B. viele neue Nachbarn kennen. Man geht auch richtig gern dorthin, weil man nette Leute trifft.
Was bleibt, wenn Euer Ziel nicht erreicht wird?
Wenn wir unser Ziel wirklich nicht erreichen sollten, dann hat es wenigstens die größten und breitesten Proteste innerhalb eines kurzen Zeitraums in Deutschland gegeben. In den letzten sechs Wochen haben sich schätzungsweise 150.000 bis 200.000 Menschen an den Aktionen beteiligt.
Aber ich bin der festen Überzeugung: Wir werden Stuttgart 21 verhindern und mit dem Bahnhof „Oben bleiben!”
Das Interview führten Renate Wanie und Christoph Besemer
Nähere Informationen:
www.kopfbahnhof-21.de
www.parkschuetzer.de
www.bei-abriss-aufstand.de
Aus: Gewaltfrei Aktiv 38, Mitteilungen der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden, Oktober 2010. WerkstattmitarbeiterInnen haben zusammen mit anderen die Bewegung mit Trainings, Vortrag und inhaltlicher Beratung begleitet.