Kundus-Prozess in Bonn

Beweisaufnahme mit US-Videos

von Martin Singe
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( c ) Netzwerk Friedenskooperative

Die 1. Zivilkammer des Bonner Landgerichtes, vor der seit März 2013 der Zivilprozess geführt wird, in dem Opfer des Angriffs vom 4.9.2009 auf Schadenersatz klagen, begann am 30.10.2013 mit der konkreten Beweisaufnahme. Am 4.9.2009 hatte Oberst Klein befohlen, zwei Tanklaster, um die herum über 100 Menschen versammelt waren, ohne Vorwarnung zu bombardieren und zu vernichten. Zwischen 130 und 140 Menschen verbrannten im Feuer der explodierenden Tanklastzüge. Das größte Massaker auf Anordnung der Bundeswehr seit dem 2. Weltkrieg.

Vor Prozessbeginn hatten sich rund 200 Demonstrierende vor dem Gerichtsgebäude versammelt, u.a. organisiert von der Bonner Jugendbewegung. Viele politische Gruppen aus Bonn und darüber hinaus unterstützten die Aktion und deren Forderung nach Entschädigung der Opfer, Strafverfolgung von Oberst Klein und Beendigung aller Kriegseinsätze der Bundeswehr. Anwalt Gerhard Baisch von IALANA erläuterte den bisherigen Prozessverlauf; Leon von der Bonner Jugendbewegung stellte die Forderungen des Bündnisses vor. Rap-Songs für den Frieden und weitere Redebeiträge standen auf dem Programm. Das Gelände vor dem Landgericht war für die Kundgebung gesperrt. Transparente unterstrichen die Forderungen des Bündnisses. Viele afghanische Teilnehmende waren dabei. Besonders eindrucksvoll prägten sich auch den PassantInnen die unendlich lange Reihe der Namensschilder von Opfern des Bombenangriffs ein.

Der Prozess begann wegen der umständlichen Einlasskontrollen mit Verspätung. Etwa 100 Interessierte waren im Gerichtssaal zusammengekommen. Ein ausführlicher Prozessbericht kann hier nicht gegeben werden. Die wesentlichen Punkte sollen zusammengefasst werden. Die Kläger waren mit zwei Anwälten und einem Sachverständigen vertreten, die Bundesregierung mit Ministerialdirigenten, Anwälten und VertreterInnen des Verteidigungsministeriums. Zunächst wurden auszugsweise die Video-Aufnahmen gezeigt, die von den über den Tanklastern kreisenden zwei US-Maschinen aufgenommen wurden und der Bodenstation zur Verfügung standen, Bildmaterial von ca. 60 Minuten (vorgeführt mit Unterbrechungen und technischen Pannen). Außer für die VertreterInnen der Bundesregierung ist dabei eindeutig zu sehen, wie eine Vielzahl von Personen unorganisiert zu den Tanklastern hinzieht und wieder abzieht. Die einzig logische Erklärung ist die, die auch von Zeugen immer wieder vorgetragen wurde, dass es sich um vorwiegend ZivilistInnen aus den umliegenden Dörfern handelt, die sich Benzin abzapfen. Es sind Schlangen von Menschen, die sich zu den Lastern hin- und wieder wegbewegen, zu erkennen. Dass es sich hierbei um eine Ansammlung von Taliban, die einen Angriff auf das deutsche Heereslager vorbereiten, handeln soll, geben die Aufnahmen nicht her.

Nach den Videosichtungen werden die wesentlichen Inhalte der Funkprotokolle vorgetragen. Die Piloten haben insgesamt sechs Mal gefragt, ob sie nicht erst einen show of forces machen sollten, also einen Tiefflug zur Warnung und als Aufruf, den Ort zu verlassen. Jedes Mal hat Oberst Klein verneint und auf die sofortige Bombardierung bestanden. Er war sich also bei der Befehlserteilung sicher, dass dabei über 100 Menschen verbrennen werden.

Anschließend wird ein Sachverständiger, der 10 Jahre in Afghanistan u.a. bei UNO und EU tätig war, angehört und befragt. Er betonte vor allem, dass die Taliban üblicherweise in kleineren Gruppen agieren, meist maximal 20 Personen. Eine Ansammlung von 100 Taliban in diesem Kontext sei kaum vorstellbar. Nach seinem Eindruck war angesichts der auf der Sandbank festgefahrenen Tanklaster auch keinerlei Gefahr im Verzug erkennbar gewesen. Und wenn die Tanker leergezapft sein würden, hätten sie sich wiederum nicht als Explosionswaffen geeignet.

Der Vorsitzende Richter bot beiden Seiten noch einmal einen außergerichtlichen Vergleich an. Die Seite der Kläger hätte im Falle einer angemessenen Entschädigung einen Vergleich angenommen. Die Regierung lehnte erneut ab. Sie wolle die Rechtsfragen geklärt haben. Offensichtlich will die Regierungsseite Klarheit bzw. einen Persilschein für weitere Kriegsverbrechen erringen. Das Gericht erklärte dann, erst weiter beraten zu müssen. Nächster Verkündungstermin ist nun am 11.12.2013 im Landgericht Bonn, bei dem mitgeteilt wird, ob das Verfahren eingestellt oder die Beweisaufnahme mit Zeugen weitergeführt wird.

Wenn man den Prozess beobachtet hat, bleiben zwei zentrale Eindrücke. Das Anschauen der Videos mit ständigem Zielkreuz über den Menschen, die sich auf der Erde bewegen, ist angesichts der in der Luft schwebenden Bombendrohung ziemlich unerträglich: Die vollständige Ohnmacht unten und die absolute Macht oben! Und als dann plötzlich die Bombe fällt und ein riesiger Feuer- und Rauchball aufsteigen, ist man tief getroffen. Zum anderen wird einem deutlich, wie eindeutig die Anordnung des Bombardements durch Oberst Klein ein schwerstes Kriegsverbrechen ist, das dennoch strafrechtlich bislang nicht geahndet wurde. Stattdessen wurde Oberst Klein befördert. Prof. Peter Derleder wies für die Kläger am Ende auf eine eindeutige Regelung des Kriegsvölkerrechts hin. Artikel 57 des Genfer Zusatzabkommens regelt „Vorsichtsmaßnahmen bei einem Angriff“. Besonders eindeutig für den vorliegenden Fall ist Art. 57, 2c: „Angriffen, durch welche die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen werden kann, muss eine wirksame Warnung vorausgehen, es sei denn, die gegebenen Umstände erlaubten dies nicht.“ Nicht nur gegen diese Einsatzregelung hat Oberst Klein eindeutig verstoßen. Bereits mit der Lüge, dass eigene Einsatzkräfte unmittelbar bedroht seien, konnte er die Luftunterstützung der Amerikaner erst erreichen. Es ist immerhin ein Lichtblick, dass dieses Verbrechen über den Bonner Zivilprozess weiterverfolgt wird.

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Martin Singe ist Redakteur des FriedensForums und aktiv im Sprecher*innenteam der Kampagne "Büchel ist überall! atomwaffenfrei.jetzt".